24. November 1931: In Brackwede wird der spätere Bielefelder Oberbürgermeister Klaus Schwickert geboren

• Helmut Henschel, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

In den 1980er-Jahren war Bielefeld vor allem als eine Ansammlung von Großbaustellen bekannt: Der Ostwestfalendamm, die Stadthalle, die Stadtbahn, das Krankenhaus Bielefeld-Mitte usw. waren nur einige der Bauprojekte, welche dazu führten, dass die Stadt, angelehnt an einen PR-Slogan, manchmal spöttisch, manchmal auch missmutig verballhornisierend als „freundlichste Baustelle am Teutoburger Wald“ bezeichnet wurde. Alle diese Projekte hatten gemeinsam, dass sie unter der Ägide des zu seiner Zeit jüngsten Landrats Deutschlands und späteren Oberbürgermeisters Bielefelds Klaus Schwickert forciert wurden. Schwickert, zu diesem Zeitpunkt schon lange im politischen und beruflichen Ruhestand befindlich, bezeichnete sich einmal als den „Letzten seiner Art“: Als „echter Arbeiter“ ohne Studium hatte er es zur damals noch ehrenamtlich geführten Stellung des Oberbürgermeisters und damit zum höchsten Amt der Stadt geschafft. Wie aber war es dazu gekommen?

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Klaus Schwickert neben einem Gemälde mit der Abbildung Artur Ladebecks, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-019-150

Klaus Schwickert wurde am 24. November 1931 in Brackwede, Kreis Bielefeld, als Sohn des Kesselschmieds Wilhelm Schwickert und der Amanda Schwickert geb. Generotzky geboren. Die Familie war wohnhaft in der Straße Am Wißbrock 24 in dem Haus des Großvaters Generotzky; dort verbrachte Schwickert eine nach eigenen Aussagen recht idyllische und unbesorgte Kindheit, geprägt vor allem durch das landwirtschaftlich und dörflich anmutende Umfeld. Er war das dritte Kind in der Familie, allerdings waren die zwei älteren Geschwister bereits im Säuglingsalter verstorben. Neben einer adoptierten Tochter bekam die Familie drei weitere Kinder, sodass ein Haushalt von sieben Personen entstand.

Unter anderem aufgrund der wiederholten Angriffe durch Tiefflieger auf die Bahn- und Industrieanlagen Brackwedes und der damit entstandenen Risikolage entschlossen sich die Eltern, den neunjährigen Klaus mit der sogenannten „Kinderlandverschickung“ für ein halbes Jahr aus Brackwede nach Dornheim in Oberbayern bringen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits zweieinhalb Jahre Schüler der Osningschule (Volksschule). Auf Anregen der Lehrer kam Schwickert 1942 an die Nationalpolitische Erziehungsanstalt (NPEA/NAPOLA) in Bensberg, die von November 1944 bis Frühjahr 1945 in das Kloster Hardehausen bei Scherfede verlegt wurde. Nach den Osterferien 1945 kehrte er jedoch nicht mehr dorthin zurück und erlebte das Kriegsende mit dem Einrücken amerikanischer Soldaten in seiner Heimatstadt Brackwede. Es begann eine aufregende Zeit, gekennzeichnet durch politische Unsicherheit und Umwälzung, grundsätzlichen Versorgungsmängeln und der ganz praktischen Frage, wie man die Wohnung warm und den Magen gefüllt bekommt. Nicht nur einmal musste der junge Klaus Schwickert mit seinem Vater im Dunkeln an der Bahnlinie stehen, um von vorbeifahrenden Güterzügen Kohle zu entwenden, immer wieder in der Gefahr stehend, auf frischer Tat ertappt zu werden, oder vom fahrenden Zug zu fallen.

All den Wirren der Nachkriegszeit zum Trotz schloss er im März 1947 die Mittelschule ab, um im Anschluss eine Lehre als Orthopädie-Schuhmacher-Lehrling in der Heilstatt Bethel der v. Bodelschwinghschen Anstalten zu beginnen. Neben seiner Ausbildung besuchte er regelmäßig Kurse der Volkshochschule Bielefeld, um sich v.a. in Fächern mit wirtschaftlichem Schwerpunkt fortzubilden. Auch Englisch stand hier auf dem Stundenplan. In dieser Phase lernte er seine spätere Ehefrau Vera geb. Generotzky (geb. 1931), eine Tochter des Brackweder Amts- und Stadtdirektors Wilhelm Generotzky (1906-1985) kennen. Dieser war es auch, der Schwickert, welcher zu diesem Zeitpunkt bereits gewerkschaftlich aktiv war, zum Eintritt in die SPD bewegte und überhaupt zu seinem politischen Ziehvater wurde. Zum 1. April 1955 wurde Schwickert so Mitglied des Brackweder Ortsvereins „Distrikt Niederfeld“.

Nach einem zweijährigen Intermezzo als Elektroschweißer bei der Firma Eisenwerk Baumgarte GmbH in Brackwede (Schwickert hatte sich nach Abschluss seiner Ausbildung wegen der deutlich besseren Bezahlung in dieser Branche gegen eine weitere Tätigkeit als Orthopädie-Schuhmacher entschieden), wechselte er 1952 zum Arbeitsamt Bielefeld und legte 1955 die 1. und 1958 die 2. Verwaltungsfachprüfung ab. Der anfänglichen Beschäftigung in der Versicherungsabteilung des Arbeitsamts folgte eine Verwendung in der Arbeitsvermittlung ab dem 1. September 1955, im Juli 1959 in der Berufsberatung zunächst in Bielefeld, ab 1961 in Gütersloh, ab 1966 wieder in Bielefeld. Bis zu seiner Pensionierung blieb Schwickert hauptberuflich in diesem Bereich tätig.

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Abschied von Else Zimmermann als Landrätin und Neuwahl von Schwickert, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-026-035

Seine aktive politische Karriere begann 1961 mit der erfolgreichen Kandidatur für den Bielefelder Kreistag, dem er bis zu dessen Auflösung am 31. Dezember 1972 angehören sollte. Bereits 1963 wurde er von den Parteigenossen zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Bei seiner Wiederwahl in den Kreistag 1964 avancierte er gar zum SPD-Fraktionsvorsitzenden, was er bis November 1967 blieb, und gelangte darüber hinaus in den Kreisausschuss. Am 6. November 1967 wurde er in Nachfolge der gesundheitlich angeschlagenen Else Zimmermann (1907-1995) mit nur 35 Jahren Landrat des Kreises Bielefeld und übte dieses Amt bis zum 31. Dezember 1972 aus.

Die Jahre als Landrat wurden inhaltlich eindeutig von der Debatte um die kommunale Gebietsreform bestimmt. Schwickert hatte sich als gebürtiger Brackweder für die Beibehaltung der Eigenständigkeit stark gemacht (seit 1956 firmierte Brackwede als Stadt) und in diesem Zuge in seiner Funktion als Landrat und Mitglied des Landtages Einfluss zu nehmen versucht. Ihm und seinen Mitstreitern schwebte eine Art „Umlandkreis“ vor, der sich aus den südlichen Gemeinden und Städten des Kreises Bielefeld, dem Kreis Halle und den westlichen Gemeinden des Kreises Lippe konstituieren sollte. Dafür wollte er mit Teilen der SPD-Fraktion und der oppositionellen Fraktion der CDU gegen die Vorlage der von der eigenen Partei geführten Regierung des Bielefeld-Gesetzes stimmen. Dies scheiterte, so Schwickert im Nachhinein, an der Weigerung durch die Christdemokraten, die sich zur Unterstützung der Regierungsvorlage entschlossen hatten. Eine von anderen (unter anderem seinem Schwiegervater Wilhelm Generotzky) vorgeschlagene Zuordnung Brackwedes zum Kreis Gütersloh lehnte er grundsätzlich ab, da er keinen hier für rechtfertigenden Bezug zwischen betreffendem Kreis und seiner Heimatstadt erkennen konnte. Letztlich wurde die Gesetzesvorlage im Landtag im Herbst 1972 bei nur zwei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen angenommen und verabschiedet. Schwickert hatte „aus sachlichen Gründen“ zugestimmt, auch wenn er inhaltlich keinesfalls überzeugt war. Als Folge ging der nun ehemalige Kreis Bielefeld zum 1. Januar 1973 in die Stadt auf, die ihre Einwohnerzahl dadurch nahezu verdoppeln konnte.

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Stadtrechtsurkunde für Brackwede, Bestand 130,002/Amt/Stadt Brackwede, Nr. E 0065

Nachdem Schwickert erkannt hatte, dass die von ihm nicht favorisierte „große Lösung“ unzweifelhaft kommen würde, zog er sich aber nicht in destruktive Opposition zurück, sondern arbeitete aktiv an der weiteren Gestaltung Bielefelds mit und legte seinen Schwerpunkt hierbei auf die Integration der Kreisverwaltung und die Schaffung der späteren Bezirksvertretungen. In der letzten Sitzung des aufzulösenden Kreistags am 19. Dezember 1972 appellierte er an alle Anwesenden: „Helfen Sie mit am Bau unserer neuen Stadt Bielefeld.“ Vom 1. Januar 1973 bis April 1973 gehörte Schwickert dann auch dem für den Übergang vorgesehenen Beirat an, der dem allein entscheidungsbefugten „Beauftragten für die Wahrnehmung der Aufgaben des Rates und des Oberbürgermeisters“ Hanns Winter (1922-2013) zur Seite stand. Am 25. März 1973 wurde er schließlich in den Stadtrat und zwei Tage später zum Fraktionsvorsitzenden der SPD gewählt. Hauptaufgabe des neuen Rates, der zunächst mit den Stimmen von SPD und FDP Herbert Hinnendahl (1914-1993) zum neuen Oberbürgermeister gewählt hatte, war primär die Erarbeitung einer neuen Hauptsatzung und einer Geschäftsordnung. Aber auch „kuriosere“ Tätigkeiten standen an, wie z. B. die Umbenennung von gleichlautenden Straßennamen (allein die „Waldstraße” war 13-mal vertreten). In dieser Übergangsphase beklagte Schwickert noch Jahre später eine Überheblichkeit der städtischen Verwaltung gegenüber den neu hinzugekommenen, ehemaligen Angehörigen der Kreisverwaltung, welche die Zusammenarbeit in den ersten Monaten und Jahren zusätzlich erschwert habe.

4. Schwickert stimmt für das Bielefeld Gesetz Nr. 1_
Schwickert stimmt in der dritten Lesung des nordrhein-westfälischen Landtags im Oktober 1972 für das „Bielefeld-Gesetz“, Bestand 200,152/Nachlass Klaus Schwickert, Nr. 1

Das bereits erwähnte Landtagsmandat hatte Schwickert erstmalig am 10. Juli 1966 erringen können; er wurde zunächst Mitglied im Ausschuss für Jugend- und Familienfragen und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Innere Verwaltung und im Kulturausschuss. Nach der Landtagswahl am 14. Juni 1970 zog er erneut in den Landtag ein. Bei den Landtags- und den Kommunalwahlen am 4. Mai 1975 verlor Schwickert sein Landtagsmandat, behielt aber seinen Sitz im Stadtrat. Diese Wahlniederlage schmerzte ihn sehr, da er seinen Wahlbezirk im Bielefelder Süden mit nur 300 Stimmen und gegen den nationalliberalen CDU-Abgeordneten Franz Mader (1912-1988) verloren hatte, mit dessen politischer Ausrichtung Schwickert nicht nur aufgrund der Parteizugehörigkeit durchaus seine Probleme hatte. Es war die einzige Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik, in welcher die SPD den Landtagswahlkreis Bielefeld I nicht gewinnen konnte. Schwickert erklärte dies später in seinen eigenen Aufzeichnungen damit, „dass der Wahlkreis, in dem ich kandidierte, gegenüber dem bisherigen Zuschnitt wesentlich verändert worden war. Später ist er nämlich in seinen alten Grenzen wieder hergestellt worden.“ Gegenüber dem Westfalen-Blatt bemerkte er noch am Wahlabend salopp: „Wer sich auf das politische Parkett begibt, muss damit rechnen, dass er auf die Schnauze fliegt.“

Wesentlich erfolgreicher als die Wahl für den Landtag verlief die Abstimmung für Schwickert als Spitzenkandidat im heimischen Bielefeld: Hier konnte er seinen Wahlbezirk im Stadtbezirk Brackwede gewinnen und so erneut in den Stadtrat einziehen. Eine „Große Koalition“ mit der nach Stimmen zweitplatzierten CDU war bald vom Tisch; rasch wurde deutlich, dass die sozialliberale „Vereinbarung zur Zusammenarbeit“ (wie es der Fraktionsvorsitzende der SPD Franz Bender später bezeichnete) mit der FDP fortgesetzt werden sollte. Am 22. Mai 1975 wurde Schwickert schließlich mit 36 Stimmen der SPD und FDP gegen 30 Stimmen der CDU zum Oberbürgermeister und Nachfolger Herbert Hinnendahls bestimmt. Seine Stellvertreterin wurde die Liberale und spätere Arminia-Präsidentin Gisela Schwerdt (1917-1997). Schwickert versicherte in seiner Antrittsrede, er werde die überparteiliche Amtsführung seines Vorgängers Hinnendahl fortsetzen. Als größte Herausforderung für die anstehende Legislaturperiode sah er die weitere Integration aller Bürgerinnen und Bürger in die „neue“ Stadt Bielefeld.

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Der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Bender gratuliert Schwickert zur OB-Wahl 1975, rechts neben Schwickert der Oberstadtdirektor Herbert Krämer, Bestand 200,152/Nachlass Klaus Schwickert, Nr. 2

Die Vorbereitungen auf die Kommunalwahl 1979 begannen für Schwickert mit innerparteilichen Querelen: Der Ortsverein Quelle der SPD verweigerte dem designierten Spitzenkandidaten die Kandidatur für den Wahlkreis und wählte im Januar des Jahres den bis dato auf der politischen Bühne unbekannten Helmut Grube als ihren Kandidaten. Mehr als ein symbolisches Statement verbarg sich nicht hinter dem Geschehen, war der Ortsverein doch nur einer von 52 weiteren im Stadtgebiet. Aber genau dieses sorgte für Unruhe. Vordergründig hatten sich die Parteigenossen an der Absicht Schwickerts gestoßen, erneut für den Landtag kandidieren zu wollen; man sah es skeptisch, dass der Oberbürgermeister ein „Doppelmandat“ ausüben wollte, wie es in den eigenen Statuten auch nicht vorgesehen war. Ob dahinter auch indirekt Kritik von innen an der ersten Amtszeit des Oberbürgermeisters geübt werden sollte, wie es ein Kommentar im Westfalen-Blatt vom 25. Januar 1979 vermutete, lässt sich heute nicht endgültig aufklären. Auf der wenig später stattfindenden Wahlkreiskonferenz der Bielefelder SPD wurde Schwickert letztlich auf Platz 1 der Reserveliste und auch zum Direktkandidaten im Wahlbezirk Quelle erklärt.

Dieser Wahlkampf wurde überhaupt zu einer spannenden Angelegenheit für Bielefeld. Mit der „Bunten Liste“ hatte sich eine Gruppierung gebildet, welche die „Troika“ des Stadtrats aus SPD, CDU und FDP gewaltig herausforderte. Gegründet im Februar in den Räumlichkeiten der Universität, war sie ein Zusammenschluss diverser Interessengruppen und Bürgerinitiativen. Diese wiederum resultierten aus einer bundesweit spürbaren und scheinbaren Aufbruchsstimmung infolge der „68er-Bewegung“, häufig verbunden mit einer generellen Kritik am politischen Status Quo, welche auch in Bielefeld ihren Niederschlag fand. Vor Ort kanalisierte sich die Kritik der „Bunten“ unter anderem an der Stadtsanierung und dem Bau des Ostwestfalendamms, der damit verbundenen Wohnsituation, der Diskriminierung von Minderheiten und der Durchsetzung von Berufsverboten im Rahmen des sogenannten Radikalenerlasses und dem Verhältnis von Stadt, Stadtwerken und der Atomindustrie. Gerade der letztgenannte Punkt war für Schwickert eine brisante Angelegenheit, da er als Vorsitzender des Aufsichtsrats der Stadtwerke direkt an der Beteiligung dieser bei den im Bau befindlichen Atomkraftwerken in Grohnde und Hamm-Uentrop involviert war. Bereits im Juni 1968 hatte sich der damalige Landrat Schwickert in einem persönlichen Schreiben an den SPD-Geschäftsführer des Bezirks OWL dafür stark gemacht, im Bereich der Atomkraft ein stärkeres Engagement zu forcieren. Ganz konkret wurde die Option diskutiert, auch im ostwestfälischen Raum einen Reaktor bauen zu können und Schwickert mahnte diesbezüglich zur Eile: „Ich bin überzeugt, dass starke Kräfte aus anderen Bezirken unseres Landes daran arbeiten, diesen Atomreaktor in ihr Gebiet zu bekommen.“ Im Herbst 1978 unternahm Schwickert eine Reise in die Schweiz, um sich vor Ort über die Nutzung der Kernkraft zu informieren. Der Oberbürgermeister argumentierte seinen Standpunkt mit der seit Anfang der 70er-Jahre offenbarten Brüchigkeit der europäischen Energieversorgung, was in der „Ölpreiskrise“ deutlich zum Ausdruck kam und sich unter anderem in „autofreien“ Sonntagen niederschlug. Schwickert gab Jahre später an, dass Berechnungen innerhalb der Stadtverwaltung ergeben hatten, dass mit konventionellen Energieträgern spätestens in den 80er-Jahren in Bielefeld „das Licht ausgegangen wäre.“ Aus diesem Grund plädierte er für die weitere Beteiligung der Stadt bzw. der Stadtwerke an den benannten Kraftwerken, die aus seiner Sicht auch deutlich höhere Sicherheitsstandards aufwiesen, als es größtenteils im Ausland der Fall war.

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Schwickert bemüht sich in einem persönlichen Schreiben an den SPD-Geschäftsführer des Bezirks OWL um ein AKW in der Region, Bestand 200,152/Nachlass Klaus Schwickert, Nr. 1

Diesen Standpunkt griffen Angehörige der neu formierten Bunten Liste auf und forderten ein Umdenken bezüglich der Nutzung der Kernkraft. Unterstrichen wurde das durch den Zwischenfall im Kernkraftwerk „Three Mile Island“ bei Harrisburg (Pennsylvania) am 28. März 1979. Am 9. April überreichten Angehörige des Umweltzentrums und der Bunten Liste Schwickert in seinem Dienstzimmer eine Petition. Man erwarte eine Stellungnahme zu den Vorgängen in den USA und einen Baustopp der Kraftwerke mit Bielefelder Beteiligung. Der Oberbürgermeister entgegnete, er mache sich ehrliche Sorgen, „aber mit Emotionen zu reagieren ist falsch.“ Mit dieser Haltung stand er in der SPD zunehmend alleine da, vor allem mit zunehmender politischer Hinwendung der eigenen Fraktion hin zur Bunten Liste. Noch im Jahr 2000 plädierte Schwickert in einem Kommentar in seinen privaten Aufzeichnungen zu den Vorgängen von damals dafür, solange bei der Produktion von Atomstrom zu bleiben, bis eine wirkliche Alternative der Stromerzeugung gefunden sei.

Mit ihrem Auftreten konnten die „Bunten“ in Bielefeld punkten. Knapp übersprangen sie die Fünf-Prozent-Hürde und konnte so vier Ratssitze erringen. Die SPD mit Schwickert an der Spitze wurde mit fast 46 % erneut stärkste Kraft. Noch am Wahlabend schloss er Gespräche mit der Bunten Liste zunächst aus. Am 18. Oktober wurde er nach Absprachen mit den bürgerlichen Parteien über die Besetzung der Stellvertreterposten, mit den Stimmen der SPD-Fraktion (31) und wahrscheinlich von denen der CDU (28) und FDP (4) im Amt bestätigt, während sich die Bunte Liste (4) enthielt. Eine „echte“ Koalition wurde nicht geschlossen; vielmehr sollten zukünftig wechselnde Mehrheiten unter einem versachlichten, pragmatischen Ansatz für entsprechende Ratsbeschlüsse sorgen. Interessanterweise fanden schon bald, wider ursprünglichen Erwartens, die Fraktionen von SPD und Bunter Liste zusammen, was unter anderem in den für den Stadtrat wesentlichen Beschlüssen des Haushalts für die Jahre 1980, 1983 und 1984 (wenn auch nach harten Verhandlungen) zum Ausdruck kam.

Die Kommunalwahl 1984 lief besser an, als es fünf Jahre zuvor nach den innerparteilichen Auseinandersetzungen der Fall gewesen war. Schwickert wurde auf einem Parteitag mit überwältigender Mehrheit auf Platz 1 der Reserveliste gewählt. Er hatte auf ebendiesem Parteitag 34 Ratssitze als Ziel der Bielefelder SPD ausgegeben. Dieser Wahlkampf war geprägt durch den 1983 aufgedeckten „Braker Giftmüllskandal“, bei dem festgestellt wurde, dass ein Baugebiet an der Grenze zu Herford auf zutiefst giftigem und gesundheitsschädlichem Untergrund errichtet werden sollte. Ein Teil der Einfamilienhäuser war bereits gebaut worden, andere sollten folgen. Das Bauprojekt wurde gestoppt und Grundstückeigentümer mussten seitens der Stadt entschädigt werden. Das traf vor allem die den Oberbürgermeister stellende SPD-Fraktion, die nach Aussagen der heimischen Tageszeitung diesbezüglich schnell in den „Windschatten der Bunten geraten war“, welche sich wiederum als Partei des Umweltschutzes profilieren konnte und die in diesem Zuge gegründete „Unabhängige Wählergemeinschaft“ (UWG) aus Brake unterstützte. Heinz Hunger (1938-2008), Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags und Sprecher des SPD-Unterbezirks Bielefeld erklärte darüber hinaus: „Wir wissen, ohne das im Einzelnen analysiert zu haben, dass uns die Hauptschuld in Brake von den Bürgern angelastet wird.“ Das trat bei der Wahl am 30. September 1984 auch deutlich zutage, als Schwickerts SPD mit nur 41,3 % fast ein Zehntel weniger Stimmen im Vergleich zur vorrangegangenen Wahl erhielt. Schwickert erklärte das Ergebnis durch den Wahlerfolg der Bunten (13,5 %), die der SPD „viele junge Wähler abspenstig gemacht“ habe.

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Altbundeskanzler Helmut Schmidt mit dem OB Schwickert und dessen Ehefrau Vera Schwickert 1985 in Bielefeld, Bestand 200,152/Nachlass Klaus Schwickert, Nr. 31

Mit nur noch 28 Ratssitzen stand fest, dass die SPD in jedem Fall die Unterstützung einer weiteren Fraktion benötigte, um Schwickert erneut zum Oberbürgermeister wählen zu können. Als erste Option wurde die Grünen/Bunte Liste gesehen, deren Repräsentanten aber im Vorfeld der Wahl trotz ihrer bisherigen Zusammenarbeit deutlich gemacht hatten, weder einen Abgeordneten der SPD oder der CDU zu wählen und sich vielmehr enthalten zu wollen. Dies bekräftigte die Fraktion, nachdem aus ihrer Sicht zu wenig Entgegenkommen seitens der SPD in Sachfragen erfolgt war. Schwickert hatte die Fraktion der Grünen/Bunte Liste stets skeptisch und mit Unbehagen betrachtet und ihr „bewusste Opposition trotz Regierungsbeteiligung“ vorgeworfen. Aus seinen Aversionen hatte er Zeit seines Lebens keinen großen Hehl gemacht. Noch Jahre später bezeichnete er sie angesichts der Umstände bei der Wahl 1984 als „apolitisch“ und bemerkte weiter: „Es ist ihnen völlig wurscht, wer OB wird […]. In ihrer etwas infantilen Verbohrtheit halten sie diese Position für einen ,Repräsentationsonkel‘. […] Für mich war diese Truppe immer politischer Gegner, jederzeit bereit der SPD zu schaden. Nach Außen wurde der sozial- und umweltpolitische Touch heraus gestellt, gleichzeitig wurde nach Innen um Posten geschachert.“ Schwickert stieß sich aber auch an der Haltung seiner eigenen Parteifreunde hinsichtlich der Grün-Bunten. Angesichts des Baues der A 33 bemerkte er: „Ich verschweige nicht, dass meine Fraktion sich […] fest im Griff der Grünen befand. Die SPD in Bielefeld glaubte, sie müsse noch grüner sein als die Grünen.“

Noch am Tag der konstituierenden Sitzung, dem 18. Oktober 1984, wurde mit der Fraktion der Grün-Bunten über die Wahl des Oberbürgermeisters verhandelt und nach Aussage von Schwickert gingen die Abgesandten der SPD bis zum „Rand des nicht mehr Vertretbaren“. Schließlich scheiterten die Gespräche und alle Beteiligten gingen davon aus, dass der von der CDU aufgestellte Friedhelm Schürmann (1920-2002) mit den Stimmen seiner Fraktion und denen der FDP die hauchdünne Mehrheit von einer Stimme zur Wahl des Oberbürgermeisters reichen sollte. Die Überraschung war auf allen Seiten groß, als nach der Auszählung der SPD-Kandidat Schwickert mit ebendieser einen Stimme zum Oberbürgermeister gewählt worden war. Ein Abgeordneter der CDU hatte für ihn gestimmt. Schwickert gab später an, er sei nur wenige Wochen später von dem betreffenden Fraktionsmitglied der CDU darüber informiert worden.

Die Wahl am 1. Oktober 1989 läutete das Ende der Ära Schwickert ein. Die neu formierte „Bürgergemeinschaft für Bielefeld“, durchaus auch als konservative Gegenreaktion auf die Grün-Bunte Liste zu verstehen, sorgte mit ihren Stimmen dafür, dass die bürgerlichen Parteien eine Mehrheit bekamen und so Eberhard David von der CDU zum Bürgermeister gewählt werden konnte. Schwickert erklärte die Wahlniederlage vor allem mit der sozialdemokratischen Schulpolitik (zu starke Fixierung auf den Gesamtschulen bzw. dem Ganztag) und der „undurchsichtigen Haltung der SPD zum Bau der A 33.“ Schwickert war für den Ausbau gewesen, aber große Teile der eigenen Fraktion hatten Vorbehalte gegen das Bauprojekt. In der entscheidenden Ratssitzung am 19. Oktober 1989 unterlag er in der OB-Wahl gegen David, der 34 Stimmen von CDU und FDP sowie Bürgergemeinschaft auf sich vereinigte. Schwickert erhielt 33 Stimmen von SPD und Grünen, verzichtete anschließend aber auf das im zustehende Amt des 1. Stellvertretenden Bürgermeisters, das Angelika Dopheide zufiel. 1994 kandidierte er nicht mehr und schied am 10. November 1994 aus dem Stadtrat aus.

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Klaus Schwickert kurz vor seiner Abwahl und seiner letzten Ratssitzung als OB, Bestand 200,152/Nachlass Klaus Schwickert, Nr. 35

Auch in seinem politischen Ruhestand ließ es sich Schwickert nicht nehmen, sich (unter anderem in Leserbriefen oder öffentlichen Reden) zu dem ein oder anderen Thema politisch zu äußern. Er nahm karitative Aufgaben wahr und engagierte sich zum Beispiel im Bielefelder Kunstverein. Bis zu dessen Tod verband Schwickert außerdem eine gute Freundschaft zu Johannes Rau (1931-2006), die sich aus den gemeinsamen Zeiten im nordrhein-westfälischen Landtag ergeben hatte. Rau hatte Schwickert unter anderem auch mit gemeinsamen Auftritten in Bielefeld in dessen Kommunalwahlkampf unterstützt. Selbst während Raus Amtszeit als Bundespräsident fand eine regelmäßige Korrespondenz zwischen den beiden SPD-Urgesteinen statt, die neben politischen Themen auch das Privatleben behandelte.

Für seine Verdienste erhielt Schwickert 1982 das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und 1987 das Verdienstkreuz 1. Klasse. 1985 wurde ihm der Orden „Honorary Commander of the Order of the British Empire“ der britischen Königin und 1987 das Komturkreuz der Italienischen Republik verliehen.

Auch wenn manche Dinge heute sicherlich anders gelöst würden und sich die Bewertung einzelner Aspekte in Anbetracht der gegenwärtigen politischen Herausforderungen geändert haben mögen, war Schwickert doch ein Oberbürgermeister, der besonderen Herausforderungen einer besonderen Zeit begegnen musste und diese in einer für ihn typischen Weise anging. Wie vermutlich kein Stadtoberhaupt zuvor verstand er es, über Fraktionsgrenzen den pragmatischen und sachorientierten Kompromiss zu suchen und zu finden. Das hat ihm hier und da Kritik aus den Reihen der eigenen Partei eingebracht, aber auf lange Sicht konnten so mehrere für die Stadt bedeutende Projekte auf den Weg gebracht werden, von denen die Bürgerinnen und Bürger Bielefelds heute noch zehren. Nicht zu Unrecht wurde er in der Rückschau als „der fröhlichste Bürgermeister Bielefelds“ bezeichnet.

Klaus Schwickert starb am 27. Oktober 2019 in Bielefeld.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,152/Nachlass, Klaus Schwickert, Nr. 1-3, 25, 35, 48, 52
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 123-127

Literatur

  • Kühne, Hans-Jörg, Bielefeld `66 – `77: Wildes Leben, Musik, Demos und Reformen, Bielefeld 2006
  • Rath, Jochen, Bielefeld: Eine Stadtgeschichte, Regensburg 2019
  • ders., 1. Januar 1973: Der Kreis Bielefeld geht in der Stadt auf, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2008/01/01/01012008/, Bielefeld 2008, abgerufen am 9.11.2021
  • Vogelsang, Reinhard, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005
  • Wagner, Bernd, „Es roch nach Abriss“, Artikel im WebWecker Bielefeld vom 02.10.2007, online verfügbar: https://web.archive.org/web/20131029200943/http://www.webwecker-bielefeld.de/11943.0.html, abgerufen am 9.11.2021
  • ders., 30. September 1979: Die „Bunte Liste“ ist nach der Kommunalwahl erstmals im Bielefelder Stadtrat vertreten, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2019/09/25/01092019, Bielefeld 2019, abgerufen am 9.11.2021
  • ders., Wohnen – Politik – Leben: Studierende erobern die Stadt. Ein Rückblick in die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in: Ravensberger Blätter, Heft 1 (2019), S. 41-55

Erstveröffentlichung: 01.11.2021

Hinweis zur Zitation:
Henschel, Helmut, 24. November 1931: In Brackwede wird der spätere Bielefelder Oberbürgermeister Klaus Schwickert geboren, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2021/11/01/01112021/, Bielefeld 2021

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