8. Juli 1920: Gründung des Vereins „Volkshochschule Stadt- und Landkreis Bielefeld“

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

 

Delegierte der Stadt und des Kreises und von nicht weniger als 18 Vereinen, Verbänden und Institutionen versammelten sich am 8. Juli 1920 in der Handelsfachschule an der Herforder Straße, um dem seit mehreren Jahren entwickelten Volksbildungswesen in Bielefeld eine neue Gestalt zu geben. Mit der Gründung des Vereins „Volkshochschule Stadt- und Landkreis Bielefeld“ gelang es, die Strukturen so weit zu verfestigen, dass eine Weiterentwicklung noch möglich war. Der Motor der Volkshochschulbewegung seit 1917, Dr. Alfred Bozi (1857-1938), hatte unmittelbar vor der Gründungsversammlung nach einem Disput über die künftige organisatorische Form enttäuscht das Handtuch geworfen.

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Die Städtische Handelsfachschule an der Herforder Straße, ca. 1920; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-940-37

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Bielefeld und Umgebung verschiedenste Formate der sog. Volksbildung. Neben den Arbeiterbildungsvereinen (Bielefeld 1863, Brackwede 1868) und ihren Bibliotheken, die primär Werktätige aus Fabrik und Handwerk ansprachen, war 1913 eine kommunale Stadtbücherei eröffnet worden, deren Vorläufer die 1898 gegründete Lesehalle mit Volksbibliothek und die „Oeffentliche Bibliothek“ von 1905 waren. Allgemein zugängliche Vorlesungen bot die 1910 gegründete „Vereinigung für volkstümlich-wissenschaftliche Vorträge“ im Ratsgymnasium an. Darüber hinaus waren der „Bund Recht und Wirtschaft“ unter der Leitung Bozis und eine „Lehrstelle für rechts- und staatsbürgerliche Bildung“ aktiv. Der 1876 gegründete Historische Verein für die Grafschaft Ravensberg e. V. zählte 1920 mehr als 900 Mitglieder und widmete seine Vorträge der Heimatgeschichte und dem sog. Heimatschutz.

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Programm der „Vereinigung für volkstümlich-wissenschaftliche Vorträge“, 1911; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 190

Im August 1917 regte eine überparteiliche Gruppe von Stadtverordneten beim Magistrat die Bildung einer „Städtischen Lehrstelle für Rechts und staatsbürgerliche Bildung“ an. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die „Umgestaltung der innerpolitischen Verhältnisse im Reich und Staat“ vor ihrem baldigen Abschluss stünde. Dafür müsse die Bevölkerung über staatliche und kommunale Einrichtungen unterrichtet werden, „um sich ueber die bevorstehenden Aenderungen eine richtige Vorstellung machen und ein eigenes, unbeeinflusstes Urteil bilden zu können.“ Auch die Heeresverwaltung habe die Notwendigkeit einer unparteiischen Belehrung der Soldaten bereits anerkannt und „Vorträge über Wahlrechts- und volkswirtschaftliche Fragen“ zugelassen. Der Magistrat beschloss die Bildung eines „Städtischen Ausschusses für Volksbildung“ und einen Etat von 3.000 Mark für „Aufklärungsvorträge“ 1917. Am 16. Oktober 1917 trat der Ausschuss unter der Leitung von Oberbürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst (1865-1944) erstmalig zusammen. Ihm gehörten neben Stapenhorst zunächst Carl Severing (1875-1950) von der SPD und drei weitere Stadtverordnete anderer Parteien sowie Stadtbaurat Friedrich Schultz (1876-1945) an; später wurden zwei Pfarrer beider Konfessionen hinzugewählt sowie ein Schulrektor, die Oberlehrerin Annemarie Morisse (1877-1942) und der Amtsgerichtsrat Dr. Bozi.

Bozi, ein Sohn des „Vorwärts“-Mitbegründers Carl Bozi (1809-1889), war bereits auf dem außerschulischen Bildungssektor aktiv und avancierte in den nächsten Jahren zur wesentlichen Triebfeder des Unternehmens. In einer 1937 geschriebenen Lebensbilanz äußerte Bozi, der viel auf Severing hielt, aber zur Sozialdemokratie doch eher distanziert und – trotz deutlicher Nähe zu den bürgerlichen Parteien – aufgrund seiner Juristeneigenschaft immer parteilos blieb und diese Neutralität auch für Justiz und Volksbildung als elementar ansah: „Ich empfand instinktiv die Notwendigkeit, das Volk über die sozialen Probleme der Gegenwart aufzuklären. Das konnte nur in einer Gemeinschaftsarbeit aller Berufsstände geschehen.“ Noch im Oktober 1917 legte Bozi erste Grundsätze für eine „Volksbildungsstelle“ vor, die entgeltliche Kurs- und Einzelvorträge „ohne parteipolitische Färbung“ anbieten sollte.

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Dr. Alfred Bozi (1857-1938); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-2-52

Der neue Ausschuss entwarf ein erstes Vortragsprogramm, das freilich den Zeitumständen geschuldet war: Der Erste Weltkrieg dominierte das Vortragswesen mit Fronterlebnissen und über „Die Briten und ihr Weltreich“ sowie über praktische Themen zu Nahrungs- und Bekleidungsmitteln, Brennstoffen, aber auch Steuer- und Finanzfragen. Die Vorträge im Stadttheater waren öffentlich und anfangs unentgeltlich. Bald verloren sich die außenpolitisch-militärischen Bezüge zugunsten lebenspraktischerer und auch theoretischer Inhalte, die offensichtlich einen mündigen Bürger bilden und neue Akzente setzen sollten: Wohnungs-, Gesundheits- und Rechtswesen, aber auch „[Be]Völkerungsbewegung“, Verfassungsfragen, Selbstverwaltung, soziales Recht, die „Anfänge der sozialen Bewegung“ (Severing), die „Frau im öffentlichen Leben“ (Morisse) sowie Begabtenförderung und das „Schulwesen der Zukunft“ – weg von einem patriotisch-militaristisch motivierten Programm (das Angebot eines Offiziers der Geschwaderschule in Paderborn wurde ebenso abgelehnt wie Lichtbildervorträge von „Frontrednern“) hin zu allgemeinen und gesellschaftspolitischen Themen.

Das Militär hatte die politischen Zeichen der Zeit freilich nicht erkannt, denn ungebrochen versandte das stellvertretende Generalkommando beim VII. Armeekorps in Münster umfänglichste Verzeichnisse mit „Hilfsmitteln für die Aufklärungsarbeit“, was vor allem Kriegspropaganda war, und Referenten. Das inzwischen wenig perspektivische Programm der Armee bot noch im Oktober 1918 in der Sammlung für Gedichtvorträge u. a. „Hoch Kaiser und Reich!“ (beides endete im darauf folgenden Monat) an sowie Lichtbilderreihen über die „Folgen des abgelehnten Friedensangebotes“ (der Deutschen von 1916, das von den Kräfteverhältnissen längst überholt war) sowie über „Deutschlands Seemacht“ (versenkte sich nach Festsetzung im Juni 1919 bei Scapa Flow selbst).

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Die ersten Vorträge fanden im Stadttheater am Niederwall statt; 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-4-94

Kostenpflichtige „Volkshochschulkurse“ (mit Ermäßigungen für die Arbeiterschaft) sollten ab Herbst 1918 das Programm aus Einzelvorträgen flankieren und sich sozialen Strömungen in der modernen Literatur (Morisse), „Weltpolitik“ (Pastor Jäger), dem Weltbild der modernen Naturwissenschaft (Dr. Bernhard Bavink) und den Rechten und Pflichten des Staatsbürgers (Dr. Fritz Müller) widmen. Ein Höhepunkt hätte sicherlich der Vortrag „Die Bedeutung des Völkerbundes in Vergangenheit und Zukunft“ des Rabbinersohns und Kölner Juristen Dr. Fritz Stier-Somlo (1873-1932) am 8. November 1918 sein sollen, der aber aufgrund der Bielefelder Ereignisse während der November-Revolution entfiel. Das Stadttheater bot etwas mehr als 1.000 Zuhörern Platz, zählte bei 15 Vorträgen von Oktober 1918 bis April 1918 aber durchschnittlich nur 299 Personen. Später wurde das Hotel Vereinshaus in der Bahnhofstraße genutzt. Bozi konnte dem Deutschen Städtetag im September 1919 berichten: „Das Interesse für die Veranstaltungen und demgemäß der Zuspruch war so rege, daß nunmehr an den weiteren Aufbau zu einer Volkshochschule gedacht werden konnte.“ Das Vorlesungsprogramm wurde erheblich erweitert und vor diesem Hintergrund auch systematisiert. Parallel waren Kurse in etlichen Gemeinden des Kreises Bielefeld angeboten worden, wobei sich insbesondere Senne I mit seinem im Sommer 1919 gebildeten „Verein für Unterhaltung und Bildung“ hervorgetan hatte.

Eine Satzung für eine neue Volkshochschule indes war noch nicht aufgestellt worden: „Es muß auch davor gewarnt werden, dies zu tun, bevor die Organisation zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Feste Satzungen werden zunächst die Anpassung an die Verhältnisse und damit das Wachstum hindern. Deshalb sollte auch der Leiter zunächst möglichste Bewegungsfreiheit behalten.“ Der von Bozi bevorzugte Mix aus Elastizität und Experiment schien ein Garant für den Auftakterfolg zu sein, parallel wollten allerdings die Dozenten Einfluss auf Lehrplan und (erhöhte) Honorierung nehmen. Ein Ausschuss oder Kuratorium sollte Bozis zufolge diese Aufgaben übernehmen, in dem „sämtliche interessierte Kreise“ vertreten sein sollten. Zusätzlich schien die Kommune die geeignete Trägerin zu sein, um zu verhindern, dass die Volkshochschule „unter einseitigen insbesondere parteipolitischen Einfluß gerät“. So hatte es auch der im August 1919 in Gelsenkirchen gegründete „Verband kommunaler Volkshochschulen“ für Westfalen beschlossen, der eine Zersplitterung in konkurrierende örtliche Vereine verhindern wollte, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass das Ziel, „soziale Gegensätze zu überbrücken“, verfehlt und die Volkshochschule „zu politischen Parteiagitationszwecken ausgenützt“ würde. Darüber hinaus drohten laut Bozi nicht nur „Absplitterungen […] konfessioneller […] Natur“, sondern auch Einflussnahme, ja sogar „Zwangsregulierung von oben“. Man sei bereits „auf derartige Einwirkungen gestoßen“, so dass er zweifelte, „ob im Ministerium für die Bedeutung des freien Wachstums solcher Einrichtungen das erforderliche Verständnis vorhanden ist.“ Bozi befürchtete demnach Zentralisierungstendenzen, weshalb er auf kommunale Trägerschaften oder Anbindung ebenso setzte wie auf Eigenfinanzierung: „Ich persönlich bin auch der Ansicht, daß die Volkshochschule als ein eigenes Bildungsmittel des Volkes sich aus seinen eigenen Einnahmen erhalten sollte.“

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Kursbelegungskarte der „Städtischen Volkshochschulkurse“, 1919; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 165

Zur angebahnten Institutionalisierung und stabilisierten Finanzierung gehörten auch Hörerkarten für Einzelvorträge und Kurse mit Ermäßigungen sowie vor allem regelrechte Einschreibungen, die beliebt waren und feste Erträge sicherten. Im Sommer 1919 waren bereits 633 ständige Hörer registriert, die jeweils 6 Mark zahlten. Mit knapp 3.800 Mark festen Erträgen und variablen Einnahmen aus Einzeltickets konnte das Vortragsprogramm weiter ausdifferenziert, vor allem aber eine Unabhängigkeit von Zuschüssen und damit möglicherweise verbundenen Einflussnahmen erreicht werden. Nachdem die ersten Vorträge der Volkshochschule noch von der Stadt finanziert und vom Ausschuss für Volksbildung organisiert wurden, übertrug die Kommune die vorübergehende Organisation der Deutschen Gesellschaft für soziales Recht unter dem Vorsitz Bozis. Der zunächst geführte Name „Städtische Volkshochschulkurse in Bielefeld“ kann noch als Reflex auf die fehlende Institutionalisierung gedeutet werden.

Die 1919 in Bielefeld einsetzenden Diskussionen um die Gestalt der zukünftigen Volkshochschule waren Ausfluss von Artikel 148 Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919: „Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden”. Ein Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung hatte bereits am 25. Februar 1919 den Gemeinden auferlegt, Volkshochschulen zu gründen, damit „die deutsche Volkshochschule als freie Volksbewegung zu ihrem Teil beitragen wird zur Wiedergeburt unseres Volkes”.

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Dozentenliste für den Kreis Bielefeld; 1919; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,6/Amt Schildesche; Nr. 872: Volkshochschulwesen, 1920-1922

Zweck der Volkshochschule war in erster Linie die Erwachsenenbildung. Gegenüber dem Rechtsanwalt Walther Staudacher (?-1921) in Halle/W. ließ Bozi im März 1919 ein weiteres Motiv durchblicken, als er eine Ausweitung auf den Landkreis Bielefeld diskutierte, „um vor allem etwas von der partei-politischen Agitation abzuziehen“. Es schwang dabei gelegentlich die Einstellung mit, aus dem unkundigen Menschen einen mündigen Bürger und Wähler zu machen, der sich in den politischen Parolen nicht verhedderte, sondern zu eigenem qualifizierten Urteil gelangte. Bozis Hoffnung, der Bevölkerung in den unruhigen Zeiten politischer Um- und Aufbrüche einen Rückzugsort und zugleich Sprungstein der Bildung zu schaffen, war Ausdruck zentraler Positionen der Volkshochschule Bozi´scher Prägung: parteipolitische Neutralität und organisatorische Autonomie vom Staat. Dem Demobilmachungsamt erklärte er im April 1919 mit Blick auf ländliche Volksbildungsbestrebungen: „unter allen Umständen muss eine Schablonisierung von oben vermieden werden. Das kann am besten geschehen, wenn überall die Stadtverwaltungen, in denen die politische Neutralität auch zweifellos sich verkörpert, die Träger der städtischen Organisationen werden“. Bozi korrespondierte mit zahlreichen Akteuren in Westfalen. Aus Sprockhövel schrieb Ernst August Stracke im Mai 1919: „Der ordentliche und fleißige Arbeiter ist längst zu der Erkenntnis gekommen, daß es ihm an wissenschaftlicher Bildung und vor allen Dingen an politischer Schulung fehlt. […] Ich halte es für sehr wichtig, auch den Arbeiter zur Demokratie zu erziehen. […] Dann weiter Erziehung des Arbeiters zu Charaktern. Dies alles müßte in Form von Volksbildungsvereinen erfolgen.“ Stracke ließ freilich außer Acht, dass seit den 1860er-Jahren Arbeiterbildungsvereine genau diese Rolle erfüllten.

Wenige Wochen vor der Gründungsversammlung eskalierten seit längerem anhaltende Konflikte zwischen Bozi und dem von Oberlehrer Dr. Ernst Wilmanns geleiteten Philologenverein. Am 20. Mai 1920 beschloss eine Vereinsversammlung bei einer Gegenstimme, seinen Mitgliedern die Einstellung der Dozententätigkeit an der Volkshochschule zu empfehlen, falls Bozi weiterhin Leiter bliebe. Offensichtlich wollte der Verein bzw. dessen Vorstand die Einrichtung ebenfalls in die Stadtverwaltung überführen, danach aber die inhaltliche Leitung übernehmen: „Gleichzeitig sollte damit den Parteien ausschlaggebender Einfluss gesichert werden. Das aber war gerade, was ich nicht wollte. Nach meiner Einstellung musste die Volkshochschule parteipolitisch unabhängig sein. Andererseits wollte ich nicht der öffentlichen Meinung entgegentreten“, so Bozi 1937. Auf sich allein gestellt resignierte der düpierte Bozi: Am 26. Mai 1920 teilte er – offensichtlich zerknirscht – auf dem vom Oberbürgermeister urschriftlich zugeleiteten Vereins-Ultimatum mit: „Ich übergebe hiermit die Volkshochschule dem Stadt- u. Landkreise Bielefeld“. Das konnte Bozi freilich so nicht, weshalb die Passage gestrichen ist. Gleichzeitig holte er Stellungnahmen verschiedener Dozentinnen und Dozenten ein, die fast alle seine Person, aber nicht seinen Organisationsvorschlag unterstützten. Morisse, Bavink und weitere Dozenten empfahlen der Stadt eine Überleitung der VHS an die Stadt unter Bildung eines Kuratoriums mit Dozenten.

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Das gegen Bozi gerichtete Ultimatum des Philologenvereins; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 165

Die sich im Konflikt verändernden Verwerfungslinien scheinen sich an Grundpositionen um die Leitungsfrage nach einer Kommunalisierung anzulegen: entweder eine neutrale, von Staat und Parteien unabhängige städtische Direktion, wie Bozi es plante, oder eine Leitung aus der Dozentenschaft, die der Philologenverein forderte. Eben dieser Einfluss von Einzelpersonen konnte, je nach Einfluss und Vernetzung der Personen, tatsächlich das Programm für parteipolitische Tendenzen öffnen. Bereits im März 1919 hatte Bozi, offensichtlich beeindruckt bis verstört von den Räte-Systemen des Vorjahres, gegenüber Dr. Adolf Sellmann (1868-1947) aus Hagen erklärt, dass die Volksbildung und „insbesondere auch die parteilose politische Erziehung des Volkes ein Gegengewicht gegen die Auswüchse übertriebener Demokratisierung bildet“. Dem Magistrat der Stadt Düsseldorf empfahl Bozi eine Leitung durch die Kommune, da nach „den hiesigen Erfahrungen […] mit der Gefahr einer parteipolitischen Ausnutzung der Volkshochschulbewegung gerechnet werden“ müsse. Herkunft und Grad dieser „Erfahrungen“ lassen sich aus den Dokumenten ad hoc nicht ableiten. Auch eine Organisation als Verein in Senne I hatte Bozi im Mai 1919 bereits kritisch gesehen.

Bozi selbst schwankte in der entscheidenden Phase: Noch im Februar 1920 empfahl er dem Volksbildungsausschuss wegen Überlastung der Deutschen Gesellschaft für soziales Recht ausdrücklich die Kommunalisierung, die so beschlossen wurde, machte sich im April aber im Gremium erfolgreich für eine Rolle rückwärts und mithin eine Fortführung der Geschäftsführung durch die Gesellschaft stark. Parallel lehnte Bozi Gespräche mit der Dozentenschaft über „Arbeitsmethode und die Organisation der Volkshochschule“ seit Januar 1920 wiederholt ab. Dieser Schlingerkurs und die nicht gerade wertschätzende Haltung Bozis sorgte für seinen Sturz. Die Methodik-Kritik dürfte wohl die als dirigistisch empfundene Programm-Festlegung durch den Volksbildungsausschuss betroffen haben. Der von der Idee eines umfassenden Bildungskollektivs (so etwas war in Düsseldorf zumindest geplant) inspirierte Studienrat Dr. Caesar Puls (1870-1957) benannte das Manko: „Die hiesige sog. ´Volkshochschule´ ist, so wie sie ist, gar keine Volkshochschule und ist gar nicht geeignet als solche.“ Was ihr fehle, sei der Charakter einer „Arbeitsgemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden“ und vor allem der Lehrenden untereinander sowie ein gemeinsamer Plan. Ein, laut der Presseberichterstattung, von „Interessentenkreisen berufener Ausschuß“ erarbeitete ein alternatives Konzept einer Vereinsorganisation, da bei einer vollständigen Überleitung in kommunale Hoheit die dynamische Entwicklung abzubrechen drohte. Die Westfälische Zeitung urteilte am 29. Juni 1920: „Der demokratische Aufbau der Schule ist damit gewährleistet.“

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1. Seite der Satzung des am 8. Juli 1920 gegründeten Vereins „Volkshochschule Stadt- und Landkreis Bielefeld“; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 165

Am 8. Juli 1920 fanden sich knapp 50 Delegierte verschiedenster Gruppen zusammen. Unter dem Vorsitz des besoldeten Stadtrats und Wohlfahrtsamtsleiters Gottlob Binder (1885-1961) beschlossen sie in der Handelsfachschule die Satzungen des Vereins „Volkshochschule Stadt- und Landkreis Bielefeld“. Leitung und Verwaltung lagen bei der Hauptversammlung, dem Verwaltungsrat und zwei Geschäftsführern. Im Verwaltungsrat saßen je ein Vertreter von Stadt und Kreis sowie aus der Dozenten- und der Hörerschaft sowie zehn Vertreter der Vereinsmitglieder. Diesem Verwaltungsrat oblag die Festsetzung des Lehrplans, des Hörergelds und der Dozentenhonorare.

Vereinsmitglieder (natürliche Personen konnten ebenfalls beitreten) wurden zunächst die Stadt und der Kreis, das Gewerkschaftskartell, die freie Vereinigung der Angestellten, das christlich-nationale Gewerkschaftskartell, der deutsch-nationale Handlungsgehilfenverband, der Gewerkschaftsbund der Angestellten, Bielefelder Arbeitgeber-Bund, Ärzte-Verein, Bund Deutscher Architekten, Akademiker-Bund, der – so kritische – Philologen-Verein, Oberlehrerinnen-Verein, die Lehrervereine Schildesche und Brackwede, der Verein für Unterhaltung und Bildung in Senne I und der Lehrerinnen-Verein Bielefeld, das Ortskartell der Beamten-Vereine, die Vereinigung ehemaliger Mittelschüler und der Alkoholgegner-Bund. Gemeinsam vertraten die Vereine mehr als 45.000 Mitglieder, wobei es natürlich auch Doppelmitgliedschaften gab. Nachdem um August 1920 der VHS-Verwaltungsrat gewählt worden war, kam es zu einem frühen antisemitischen Anwurf gegen die Nominierung des Stadtrates Dr. Willy Katzenstein (1874-1951). Der Buchhalter und früher als Dozent tätige Heinrich Düerkopp (1882-1932) monierte die Wahl des jüdischen Rechtsanwalts als „Verhöhnung der berechtigten deutschvölkischen Bestrebungen“ und bat um die „Delegierung eines anderen Herren“. Die Stadt reagierte auf diese Einlassung in keiner Weise, sie ist jedoch ein früher Beleg für Einstellungen, die auch in Bielefeld bald Raum griffen.

Die „Volkshochschule Stadt- und Landkreis Bielefeld“ wurde nunmehr von beiden Kommunen finanziell unterstützt und baute unter der Leitung von Dr. Paul Tittel (1877-1966) ihr Kursangebot stetig aus: 1921 fanden 74 Kurse statt mit 2.826 Teilnehmenden, im Folgejahr bei gleichbleibender Kurszahl sogar 3.462. Bis 1925 stieg die Kurszahl auf 89 sukzessive an, während weniger Teilnehmende (1924: 2.414) registriert wurden. Bis 1931/32 bot die VHS jährlich jeweils deutlich mehr als 100 Kurse an (1926/27: 131; 1931/32: 185) und zählte bis auf 1927/28 durchgängig mehr als 3.000 Teilnehmende und verzeichnete 1931/32 sogar eine Höchstzahl von 3.961 bei 182 Kursen. Ganz offensichtlich korrespondieren die Zahlen mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise seit 1929 und den Folgen für Deutschland, das im Februar 1932 eine Rekordarbeitslosigkeit von 16,3 % der Gesamtbevölkerung verzeichnete – knapp mehr als ein Drittel der Erwerbsfähigen war brotlos. Die VHS reagierte mit separaten Nachmittagskursen für Arbeitslose, die bis dahin das reguläre Angebot unentgeltlich nutzen konnten, und erreichte damit von Januar 1931 bis März 1932 weitere 2.216 Menschen.

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Programm der Volkshochschule Bielefeld, 1920; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 165

Die VHS erhielt für den Dienstbetrieb städtische Zuschüsse, regelmäßig schlossen Nachbewilligungen Deckungslücken. 1928 konstatierte die VHS anhand einer Vergleichsstatistik von 15 Städten, dass sie „verhältnismäßig die höchsten Leistungen bei geringsten Zuschüssen“ aufweise. Der Vergleich offenbarte eine eklatante Unterdeckung der VHS: Bei den Zuschüssen pro Teilnehmer und pro Kurs rangierte Bielefeld mit 0,86 RM und 23,66 RM jeweils auf dem letzten Platz. Die nächstniedrigen Werte lagen bei 1,50 RM und 33 RM (jeweils Darmstadt), Spitzenwerte dagegen bei 25 RM und 526 RM (Berlin). Die Zuschüsse von Stadt und Kreis reichten über Jahre hinweg gerade einmal aus, um die Gehälter des Stammpersonals (Leitung und Sekretariat) zu zahlen, nicht aber für Drucksachen, Verbrauchsmaterialien, Werbung, Honorare etc. Bei all diesen schwierigen personellen (keine professionelle Leitung und Dozentenschaft), finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen war die Einhaltung voller Neutralität kaum möglich – die VHS Bielefeld „stand in der Tradition des größeren Teils der Arbeiterbewegung, die die Arbeiterschaft durch Bildung in die Gesellschaft integrieren wollte“ (Schulz).

Ein aufmerksamer Beobachter der Entwicklung blieb der 1920 ausgeschiedene Alfred Bozi, der sich 1933 vom „nationalen Aufbruch“ faszinieren ließ, als er die seit Jahren angekündigten programmatischen Drohungen und inzwischen verwirklichten Verfolgungsmaßnahmen der NSDAP ignorierte und sie noch bis 1937, aus kaum nachvollziehbaren Gründen, als überparteiliche Bewegung missverstand, zugleich aber ihre Rassenideologie und eine persönliche Vereinnahmung ablehnte. Er ließ sich von der Mischung aus Gewalt und Verführung einschüchtern und blenden, stand damit aber unter den Bürgerlichen und Intellektuellen nicht allein. Rückblickend ging er mit der Volkshochschule hart ins Gericht: „Leider wurde auch sie schliesslich das mittelbare Opfer der Parteipolitik.“ Die nötige Schulung von „Elementarkenntnissen“ für praktische Zwecke sei von curricular vermeintlich undisziplinierten Dozenten zugunsten von Vorlesungen aufgegeben worden, „für die den Hörern die Aufnahmefähigkeit fehlte. Die Volkshochschule entwickelte sich zu einem allgemeinen Bildungsinstitut. […] Wenn das erstrebte Ziel, das letzten Endes die Lösung einer allgemeinen Kulturaufgabe und damit auch ein politisches Ziel war, erreicht werden sollte, so mussten die Volkshochschulen zu einer grossen staatlichen Organisation ausgebaut werden.“ Das war eine deutliche Abkehr von seinen Warnungen von 1920 vor einer Zentralisierung und „Schablonisierung“ und Parteieingriffen und seinem Plädoyer für eine Kommunalisierung.

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In der Rudolf-Oetker-Halle fand die Gründung des NS-Volksbildungswerks“ statt; Foto: Hergeröder, 1932; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 73-12

Es bleibt unklar, ob Bozi nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Genugtuung empfand, als der von der NSDAP dominierte Magistrat den städtischen VHS-Zuschuss strich, so dass sie am 29. April 1933 die Arbeit einstellen musste und aufgelöst wurde. Der Weg wurde damit frei gemacht für eine erst recht politisierte Neuausrichtung der Erwachsenenbildung. Am 13. Januar 1935 zelebrierte die NSDAP in der Rudolf-Oetker-Halle den Beginn des neuen „Volksbildungswerks“ als Teil einer Parteiorganisation, und zwar der Gliederung „Kraft durch Freude“ (KdF) mit den Leitlinien: Volk – Rasse – Militär – Nationalsozialismus. Von einer Überparteilichkeit, wie sie Bozi 1920 für die VHS gefordert hatte und auch noch 1937 propagierte, war diese neue Volksbildungseinrichtung weiter denn je entfernt. Seit dem 2. Arbeitsabschnitt im Jahr 1935 prangte regelmäßig ein Hakenkreuz auf dem Titelblatt. Die Erwachsenenbildung war von einer allgemein zugänglichen Bildungsstätte zu einer auch ideologisch aufgeheizten Propagandaeinrichtung ausschließlich für „Volksgenossen“ gewandelt worden. Wer Volksgenosse war und wer nicht, regelten seit September 1935 die Nürnberger Gesetze. Das Volksbildungswerk-Programm für das Winterhalbjahr 1938/39 erklärte: „Hörer der Volksbildungsstätte kann jeder deutsche Volksgenosse werden, soweit keine Zweifel an seiner arischen Abstammung bestehen.“

Literatur

  • Arbeit und Leben Bielefeld e. V. DGB/VHS, Spuren – Aus der Geschichte der Volks- und Arbeiterbildung in Bielefeld, Bielefeld 1999
  • Bozi, Alfred, Lebenserinnerungen, (maschsch.) Bielefeld (ca. 1937)
  • Jahresberichte über den Stand und die Verwaltung der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt Bielefeld für die Jahre 1915-1925, (maschsch.) Bielefeld 1926
  • Jahresberichte über den Stand und die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Bielefeld für die Jahre 1926-1931, (maschsch.) Bielefeld 1932
  • Rath, Jochen, Eröffnung des Deutschen Volksbildungswerks in Bielefeld, in: Josef Schrader/Ernst Dieter Rossmann (Hg.), 100 Jahre Volkshochschulen – Geschichten ihres Alltags, Bad Heilbrunn 2019, S. 54-55
  • Schulz, Manfred, 1920-1933 – Von den Anfängen der Bielefelder VHS in der Weimarer Republik bis zu ihrem frühen Ende im Nationalsozialismus, in: Volkshochschule Bielefeld (Hg.), 1946-1996 – 50 Jahre Volkshochschule Bielefeld. Dokumentation der Redebeiträge und Fachvorträge, Bielefeld 1996, S. 22-33
  • Tittel, Paul, Die Bielefelder Volkshochschule, in: Magistrat der Stadt Bielefeld (Hg.), Das Buch der Stadt, Bielefeld 1926, S. 139-141
  • Völker, Paul, Führer für Volkshochschulen und Volksbildungsarbeit in Städten und auf dem Lande (Aus der Praxis für die Praxis), Dresden 1921

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 165: Volksbildung, 1917-1926
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,2/Hauptamt, Nr. 360: Volksbildung, 1926-1943
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,6/Amt Schildesche; Nr. 872: Volkshochschulwesen, 1920-1922
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,9/Amt Gadderbaum, Nr. 1228: Volkshochschule, 1920-1929
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/kleine Erwerbungen, Nr. 190: Vereinigung für volkstümliche wissenschaftliche Vorlesungen Bielefeld, 1912-1920
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 140/Protokolle, Nr. 68: Volksbildungsausschuss, 1917-1918
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,8/Nachlass Alfred Bozi, Nr. 59: Volksbildungswesen, 1919-1920
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 39: Schulen, Enthält u.a.: Volkshochschule, 1914-1940
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-940-37, 13-4-94, 61-2-52, 73-12

 

Erstveröffentlichung: 01.07.2020

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 8. Juli 1920: Gründung des Vereins „Volkshochschule Stadt- und Landkreis Bielefeld“, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2020/07/01/01072020, Bielefeld 2020

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