• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
Als die Silvesterraketen zum Jahreswechsel 1972/73 den Bielefelder Nachthimmel erleuchteten, hatte die Stadt mit einem Schlag ihre Einwohnerzahl von 167.500 auf 320.350 nahezu verdoppelt und ihre Fläche mehr als verfünffacht (48 : 259 qkm). Der alte Kreis Bielefeld verschwand von der Verwaltungslandkarte, auch wenn im Süden des neuen Stadtgebiets noch gezündelt wurde – ohne Erfolg wie sich zeigen sollte. Im Rahmen der kommunalen Neuordnung durch das sog. Bielefeld-Gesetz verloren die beiden jungen Städte Brackwede und Sennestadt sowie 28 Gemeinden ihre Selbständigkeit – und aufgrund von Mehrfachnennungen im neuen Stadtgebiet (allein die „Waldstraße” war 13 mal vertreten) mussten etwa 850 Straßen umbenannt werden.

Der Kreis Bielefeld war 1816 als preußische Verwaltungseinheit eingerichtet worden und schloss zunächst auch die Stadt Bielefeld bis zu deren „Auskreisung” 1878 ein. Auf Kosten des Kreises verzeichnete Bielefeld 1907 kleinere Gebietszuwächse, ehe es 1930 mit der Eingemeindung von Gellershagen, Schildesche, Sieker und Stieghorst und weiterer Teile benachbarter Landkreisgemeinden über Nacht zur Großstadt mit 120.000 Einwohnern wurde. Damals verkündete der Oberbürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst zu optimistisch: „Ich glaube, dass wir mit neuen Gebietserweiterungen jetzt 100 Jahre Zeit haben. Denn wir wollen keine Großstadt wie manche andere sein. Eine Stadt darf nicht größer sein, als dass die Bürgermeister und Stadtverordneten alle Straßen kennen.”
Wie falsch diese Prognose war, wurde keine 25 Jahre später deutlich, als Bielefeld aus allen Nähten platzte. Etwa 30.000 Vertriebene und Flüchtlinge waren zusätzlich in die Stadt gekommen und die in der Wirtschaftswunderzeit expandierenden Gewerbe- und Industrieunternehmen kehrten der Enge Bielefelds den Rücken und zogen ins Umland. Der städtische Hunger nach Flächen der umliegenden Gemeinden nahm weiter zu. Das Wort von der „Stadt ohne Raum” machte die Runde. Stadt und Kreis, die für konkrete Einzelaufgaben bereits in lockeren Arbeitsgemeinschaften kooperierten, wurden schließlich zum Handeln gezwungen, als der nordrhein-westfälische Landtag 1968 die kommunale Neugliederung des gesamten Landes beschloss, um Verwaltungseffizienz zu schaffen und die Daseinsfürsorge zu verbessern. Während der anschließenden kommunalen „Flurbereinigung” sank die Zahl der Gemeinden in NRW von etwa 2.300 auf knapp 400, aus 57 Kreisen wurden 31.

Für die Stadt Bielefeld stand es außer Frage, dass in diesem Prozess nur die Eingemeindung des Kreises in Frage kam. Am 24. April 1968 formulierte der Stadtrat selbstbewusst den Anspruch: „In Übereinstimmung mit den Bekundungen aller drei in den Gremien von Bielefeld-Land und Stadt vertretenen politischen Parteien bekennt sich der Rat der Stadt zu einer großräumigen kommunalen Neuordnung dieses Gebietes in Gestalt eines Zusammenschlusses der Gemeinden des Landkreises Bielefeld mit der Stadt Bielefeld zu einer neuen großen leistungsfähigen Einheit, in der durch weitgehende Aufgabenverteilung die Kräfte der Selbstverwaltung, soweit es mit dem Ziel der Neuordnung irgend vereinbar ist, erhalten und gefördert werden.”
Nach Bereisungen, Anhörungen und Auswertungen stellte Landesinnenminister Willy Weyer im Juli 1971 sein Konzept zur Neugliederung des Bielefelder Raumes vor, worin er die „große Lösung” vorschlug. Während der Städtetag NRW sowie die regionalen Vertretungen der Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und Verbände die Planungen überwiegend begrüßten, regte sich auf lokaler Ebene Widerspruch. Der Kreis Bielefeld anerkannte zwar grundsätzlich die städtischen Raumbedürfnisse, die bereits durch eine Eingemeindung Dornbergs, Heepens und Gadderbaums erfüllt werden dürften, lehnte aber eine „überdimensionale Vergrößerung” ab. Ein um Gemeinden des Kreises Halle, die Gemeinden Spenge, Enger und Leopoldshöhe sowie die Stadt Oerlinghausen erweiterter Umlandkreis dagegen könne bürgerschaftliche Mitwirkung und bürgernahe Verwaltung erhalten. Vor allem die jungen Städte Brackwede und Sennestadt, die erst 1956 bzw. 1965 die Stadtrechte erhalten hatten, aber auch das Amt Jöllenbeck, das sich als „leistungs- und entwicklungsfähiges Zentrum” sah, übten harsche Kritik. Der Rat des städtebaulich modernen Sennestadt, dessen Infrastruktur sich wesentlich verdichtet hatte und das 6.500 Arbeitsplätze und nach eigener Einschätzung sogar eine lokale Identität aufwies, schmetterte den Vorschlag des Innenministers im September 1971 rundweg ab: „Für die Behauptung, die voraussichtliche Zukunftswentwicklung spreche mehr für eine Eingliederung der Stadt Sennestadt in die Stadt Bielefeld, gibt der Vorschlag keinerlei Begründung. Kein Wunder: Es gibt dafür keine Begründung!”.

Die Stadt Bielefeld schuf indes Fakten, als sie Anfang Oktober 1971 einen ersten Gebietsänderungsvertrag mit der Gemeinde Gadderbaum abschloss. Es folgten in den nächsten zwölf Monaten Verträge mit weiteren 18 Umlandgemeinden, die deren Eingemeindung vorsahen. Die Gemeinden fügten sich mehr oder weniger freiwillig in ihr Schicksal, das mit den Investitionsversprechen der Stadt abgemildert wurde. Die Diskussion über die Neuordnungsvorschläge war selbstverständlich nicht nur verwaltungstechnisch und wirtschaftssstrategisch geführt worden, sondern zog auch quer durch die Parteien, als die politischen Vertreter vor Ort zwischen Lokalpatriotismus und Wahlkreisverpflichtungen einerseits und der landespolitischen Parteiräson pendelten, ehe der Düsseldorfer Landtag am 24. Oktober 1972 das „Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Bielefeld (Bielefeld-Gesetz)” verabschiedete.

Der ganze Kreis Bielefeld schien damit der neuen Gesetzeslage „unterworfen”. Der ganze Kreis? Nein! Eine von unbeugsamen Eingemeindungsgegnern bewohnte Sennestadt gab nicht auf, dem „Bielefeld-Gesetz” Widerstand zu leisten. Nachdem die Aussichten auf eine vertragliche Verständigung Sennestadts mit Bielefeld gescheitert waren, beschritt die Stadt den Klageweg. Der Verwaltungsrechtler Prof. Dr. Werner Hoppe beriet Sennestadt, das nach einhelligem Votum des Rates hierfür noch am 27. Dezember 1972, also fünf Tage vor Inkrafttreten des „Bielefeld-Gesetzes”, Verfassungsbeschwerde einreichte, während Jöllenbeck und Brackwede diesen Schritt nicht mitgingen. Der Verfassungsgerichtshof wies die Klage im September 1973 allerdings als unbegründet ab, als er keine formalen Fehler feststellen konnte und eine politische Plausibilität nicht prüfen brauchte.

Der letzte Sennestädter Bürgermeister, Hans Vogt, appellierte abschließend an die Bielefelder Neubürger: „Wir müssen uns nun auf diese Situation einstellen, das Beste aus ihre machen und uns als Bürger der neuen Stadt Bielefeld in gleichem Maße engagieren, wie bisher. […] Sorgen wir als Bürger, als Verein, als Ratsmitglied, im Bezirksausschuß und in der Verwaltung dafür, daß unsere langfristigen Pläne, die wir erarbeitet haben, Stück für Stück verwirklicht werden.” Als Ersatz für die aufgelösten selbständigen kommunalpolitischen Gremien wurden zunächst zwölf, später zehn Bezirksvertretungen eingerichtet: Mitte, Schildesche, Gadderbaum, Brackwede, Dornberg, Heepen, Jöllenbeck, Senne, Sennestadt und Stieghorst.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,1/Oberbürgermeister, Nr. 267: Gebiets- und Verwaltungsreform (1972-1974)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,2/Oberstadtdirektor, Nr. 36: Verfassungsbeschwerde der Stadt Sennestadt gegen das Bielefeld-Gesetz (1972-1973)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,7/Rechtsdezernat, Nr. 12: Gebietsänderungsverträge (1969-1972)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,6/Planungsamt, Nr. 258, 260 und 263: Stadtentwicklung – Geschichtliche Darstellung Gebietsreform 1973 (1956-1963) (1955-1973) (1963-1973)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 260,2/Stiftung der Sparkasse Bielefeld, Bildarchiv Günter Rudolf
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Bd. T (1 u. 2): Siedlung, Raumordnung, Landesplanung ab 1961
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,8/HK 1-111: Karte zur Neuordnung des Bielefelder Raumes (1973)
Literatur
- Büschenfeld, Jürgen, Der lange Abschied vom Kreis. Wege zur kommunalen Neugliederung 1973, in: Ravensberger Blätter Jg. 2003, H. 2, S. 31-41
- Mecking, Sabine, Kommunale Gebietsreform(en) in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren. Forschungsstand und Untersuchungsperspektiven, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 415 – 432
- dies., Zwischen Planungseuphorie und Identitätskrise. Die kommunale Neugliederung in Nordrhein-Westfalen am Beispiel von Stadt und Landkreis Bielefeld, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 411-441
- Vogelsang, Reinhard, Sie konnten zusammen nicht kommen … Stadt und Landkreis im Vorfeld der Gebietsneuordnung 1973, in: Ravensberger Blätter Jg. 2003, H. 2, S. 20-30
- Hans Zinnkann (Red.), Der Kraftakt: Kommunale Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen (Schriften des Landtags Nordrhein-Westfalen, Bd. 16), Düsseldorf 2005
Erstveröffentlichung: 01.01.2008
Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 1. Januar 1973: Der Kreis Bielefeld geht in der Stadt auf, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2008/01/01/01012008/, Bielefeld 2008