28. Januar 1974: Bielefelds älteste Bürgerin, Luise Maletzki, feiert ihren 105. Geburtstag

Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

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Trubel in der Meller Straße 51 am 106. Geburtstag Luise Maletzkis (3.v.r.): Es gratulieren Bürgermeisterin Gisela Schwerdt und der gebeugte Regierungsvizepräsident Hanns Winter vor masurischen Kranichen am Fenstersturz. Rechts eine Senne-Landschaft von Ernst Sagewka, Foto: Peter Thölen, Januar 1975; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,66/Westfalen-Blatt, Fotoarchiv

„Ich finde es nicht in Ordnung“, zitierte die Neue Westfälische am 28. Januar 1976 die älteste Einwohnerin Nordrhein-Westfalens, Luise Maletzki. Es war eine im masurischen Dialekt gefärbte, aber vor allem verblüffende Antwort, die die 1869 geborene Dame anlässlich ihres 107. Geburtstags in der Meller Straße 51 in Bielefeld auf die Frage gab, wie sie über ihr hohes Alter denke. Sie war geboren, als es noch keinen deutschen Kaiser gab, hatte den Sturz eines anderen dagegen fern ihrer Heimat ebenso miterlebt, wie die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die neue Demokratie der Bundesrepublik. Dass der russische Mystiker Rasputin in derselben Januar-Woche 1869 wie sie geboren war und dass sie ihn um fast 60 Jahre überleben sollte, wird ihr kaum präsent gewesen sein.

Von Masuren nach Bielefeld

Geboren war Luise am 28. Januar 1869 im ostpreußischen Galkowen (heute Gałkowo/Polen), das seinerzeit kaum 150 Einwohner zählte und „in einer der schönsten Landschaften Masurens“ (Kossert, 2022) liegt. Ihr Vater Johann Biebersdorf (1841-1911) war, so wie sein Vater auch, Schuhmacher gewesen. Ihre Mutter Luise (1830-1920) war eine geborene Kulessa, deren Vater ein früh verstorbener Stuhlmacher. Aus der Ehe gingen sechs Söhne und sieben Mädchen hervor, dazu kam noch ein totgeborener Junge. Die evangelische Familie scheint ausgesprochen gläubig gewesen zu sein, wie aus einer Begebenheit hervorgeht, die einer der Söhne, der später nach Argentinien ausgewanderte Ernst Biebersdorf (1891-1950), in einer Familienchronik über seine Mutter Luise niederschrieb. Sie musste demnach bereits mit 14 Jahren als Weberin arbeiten. Als jungem Mädchen fiel ihr eine Petroleumlampe vom Fensterbrett ihrer Mietwohnung. Voll Kummer über den erwarteten Schadensersatz für die zerstört geglaubte Lampe fand Luise sen. keinen Schlaf, ehe angeblich ein Engel (!) zu ihr sprach: „geh hohl [sic!] die Lampe die ist ganz“. Sie barg die tatsächlich nahezu unversehrte Lampe, die fortan nicht mehr benutzt, sondern als Andenken an das kleine Wunder aufbewahrt wurde.

Als Religion wird bei Luise stets Evangelisch angegeben, jedoch war ihr Heimatort Galkowen eine um 1830 erfolgte Gründung der nach staatlichen Repressionen aus Russland geflohenen Philipponen. Die Mitglieder dieser altorthodoxen, priesterlosen Sekte gingen für ihre religiösen Vorstellungen gelegentlich sogar den Weg massenhafter Selbstverbrennungen, so zuletzt 1900 im russischen Kargopol, wo mehr als hundert dieser sogenannten Altgläubigen in den Flammen starben. Im kleinen Dorf Galkowen machten die Philipponen 1865 allerdings gerade nur noch 43 % der Wohnbevölkerung aus, nachdem der preußische Staat den Zugriff auf die neuen Untertanen verstärkt hatte, die jegliche Obrigkeit ablehnten. Die immer wieder hervortretende tiefe, auch für andere Gemeinschaften offene Religiosität verschiedener Familienmitglieder wird hier allerdings nicht ihre Wurzeln haben. Die preußischen Protestanten dürften sich, bei individuellen Ausnahmen, deutlich von den Philipponen abgegrenzt haben, die eine eigene Kultur pflegten.

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Das 1869 erbaute Kost- und Logierhaus an der Ecke Teutoburger Straße/Webereistraße, Foto: Josef Hoppe/Dortmund, 1937; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-2014-3

In diesem Galkowen wuchs Luise auf, wo ihr ältester Bruder Fritz Biebersdorf (1866-1895) an einer Blutvergiftung starb. Der Vater hatte nach und nach Land gekauft, verfügte schließlich über 10 Hektar, die er bewirtschaftete. Als er im Dezember 1911 gesundheitlich schwächer wurde, wies er in einer Todeserwartung seinen Sohn Ernst mehrere Tage vor Weihnachten an, einen Sarg herstellen zu lassen, so dass die Feiertage durch diese Arbeiten nicht gestört wurden.

Dieses familiär-religiös geprägte, aber für ein wirtschaftliches Fortkommen wenig aussichtsreiche Umfeld verließ die 20-jährige Luise Anfang Februar 1889 und zog nach Bielefeld. Wie sie von der aufstrebenden ostwestfälischen Stadt und den dortigen Arbeitsmöglichkeiten und Verdienstaussichten erfuhr bleibt unklar. Zunächst war sie privat in der Sadowastraße gemeldet, die seit der Umbenennung von 1948 Teutoburger Straße heißt. Noch im selben Jahr verzog sie in das Kost- und Logierhaus der Ravensberger Spinnerei, das mit der damaligen Nummer 9 in derselben Straße lag. Kurzzeitig war sie 1890 in der Zimmerstraße gemeldet, danach bis 1893 wieder im Logierhaus.

Arbeit in der Ravensberger Spinnerei

Luise arbeitete bei der Ravensberger Spinnerei, die seinerzeit etwa 1.650 Beschäftigte und rund 30.000 Spindeln zählte. 1869 errichteten die Firmeneigentümer für zugewanderte Arbeitskräfte das erwähnte Logierhaus, in dem die zumeist jungen und ledigen Frauen unterkommen sollten. Etwa 80 % der Arbeiterinnen bei der Ravensberger Spinnerei waren ledig. „Der von uns beschlossene Bau eines Kost- und Logirhauses für Mädchen, welches wir als für eine größere Familie unter einem Hausvater einzurichten gedenken, wird uns in den Stand setzen, Mädchen aus der weiteren Umgebung anzunehmen und unterzubringen, ohne sie der Gefahren einer familienlosen Existenz auszusetzen“, berichtete der Verwaltungsrat ein Jahr später seinerzeit der Aktionärsversammlung. In unmittelbarer Nähe der Spinnerei entstand ein etwa 60 Meter langer Backsteinbau im Rundbogenstil, der heute noch erhalten ist.

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Die Ravensberger Spinnerei, Foto: 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-124-13

Im März 1895 begann die Spinnerei Personalverzeichnisse laufend zu führen, erfasste aber damals die vorhandene Belegschaft alphabetisch – Luise Maletzki geb. Biebersdorf wird dort nicht gelistet, war also bereits zuvor ausgeschieden, mutmaßlich mit der ersten Schwangerschaft 1894. Im Mai 1890 erlebte Luise einen ausgedehnten Streik, als 350 Arbeiterinnen und 18 Arbeiter von insgesamt 1.300 Beschäftigten die Arbeit niederlegten, um u. a. den Zehn-Stunden-Tag, eine 25%ige Lohnerhöhung und Abschaffung des Akkords durchzusetzen. Da die Geschäftsleitung die Forderungen ablehnte, wuchs die Anzahl der Streikenden auf 989. Obwohl sich damit 76 % der Belegschaft im Ausstand befanden, war das Verhandlungsergebnis nach dreiwöchigem Streik enttäuschend: Die Lohnsätze blieben unverändert, der Akkordlohn wurde leicht angepasst, die monierten Schandtafeln, die Fehlverhalten anprangerten, abgeschafft – alles andere blieb unverändert.

Die wenigsten der Arbeiterinnen der Ravensberger Spinnerei kamen aus Bielefeld oder dem direkten Umland, wofür das vergleichsweise geringe Lohnniveau ausschlaggebend war. Die Spinnerei setzte deshalb vor allem auf die Anwerbung auswärtiger Arbeitskräfte aus Gegenden mit noch schlechteren Lohnverhältnissen, anfangs die Kreise Höxter und Lübbecke, dann aus Schlesien, schließlich aus Ostpreußen, wozu Masuren zählte, und Böhmen. 1895 waren 20 % der Arbeiterinnen ortsfremd, zwei Jahre später gar 70 %. Es ist unklar, wo Luise arbeitete, ob in permanent gebückter Haltung in der staubigen Hechelei, in der kaum weniger staubbelasteten Carderie oder in der lärmigen, von Hitze und Nässe geprägten Feinspinnerei. 1874 schilderten Ärzte die Auswirkungen von Staub, Nässe und Feuchtigkeit und die häufigsten Diagnosen: „Katarrh der Augen, der Nase, des Kehlkopfes und des Schlundes, namentlich aber der Lungen. Dieselben sind hartnäckig, den Heilmitteln widerstrebend, wiederkehrend, befallen besonders intensiv die neueingetretenen Arbeiterinnen.“ Furunkel, Abszesse, Nagelgeschwüre, Krampfadern, „Entartung der Weichtheile“, Hautabschürfungen, Verrenkungen, Quetschungen und Brüche waren ständige Begleiter der Arbeit.

Leben in der Meller Straße

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Eine Wohnungsübersicht Meller Straße 51 von 1914; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,10/Amt für Wohnungswesen, Nr. 401

Am 15. April 1893 ehelichte Luise, mit dem in der masurischen Heimat eingeholten schriftlichen Einverständnis ihrer Eltern, in Bielefeld den Maurer Johann Maletzki. Im Aufgebot und im Heiratsregister wurde noch „Malecki“ eingetragen – auch Johann selbst unterschrieb so –, was erst fünf Jahre später korrigiert wurde. Geboren war Johann am 5. Dezember 1865 in Bubrowko, das kaum 5 Kilometer vom Geburtsort seiner Frau entfernt lag. Sein namensgleicher Vater war dort Wirt gewesen, seine Mutter Catharine war eine geborene Limny. Nachdem auf dem heimatlichen Hof keine Beschäftigung und damit auch kein Platz für ihn gewesen war, zog Johann im Sommer 1887 nach Bielefeld in die Spinnereistraße 19. Auf seiner Meldekarte und in den Hausbüchern seiner Meldeadressen ist als Beruf stets Maurer ausgewiesen. So begann er denn 1892 als Maurer ebenfalls bei der Ravensberger Spinnerei, verließ den Betrieb aber Ende Februar 1896 „Auf Wunsch!“, wie ein Personalbuch ausdrücklich vermerkte. Lernte er in dieser Zeit seine Ehefrau Luise Biebersdorf kennen?

Spätestens nachdem sich Nachwuchs eingestellte hatte, gab Luise die Arbeit bei der Ravensberger Spinnerei auf, nähte im ersten gemeinsamen Haushalt Metzer Straße 20 fortan in Heimarbeit, kümmerte sich um die Kinder, führte den Haushalt und blieb zeitlebens religiös – das entsprach so ganz dem abwertend gemeinten Dreiklang „Kinder, Küche, Kirche“, der den Blick auf Aufwand und Verantwortung lange verstellte und zu einer verbreiteten Missachtung bis Herabwürdigung dieser Tätigkeiten führte. Mit dem 4. „K“ für Kleider hatte die Alliteration übrigens seit 1899 in Presse und spießbürgerlicher Gesellschaft Furore gemacht, die den Ausspruch anekdotisch Kaiser Wilhelm II. zuschrieb, was es auch nicht besser macht. Noch in hohem Alter schöpfte Luise Kraft aus dem Studium von Bibel und Gesangbüchern.

1908 erwarb die junge Familie vom Maurermeister Friedrich Manter (1880-1947), bei dem Johannes Maletzki möglicherweise arbeitete, für 21.000 Mark das Haus Meller Straße 51 samt Grundstück mit 546 m². Man lebte auch von den fünf Mietwohnungen, für die – „eventuell auch mit Stall“ – inseriert wurde und für die Maletzkis 1914 eine Jahresmiete von insgesamt 1.089 Mark vereinnahmten. Die Bewohnerschaft des Hauses wechselte 1907/08 mit dem Eigentumsübergang nahezu vollständig, vor dem Mieteinigungsamt verhandelte Streitigkeiten blieben nicht aus. Maletzkis selbst nutzten eine der Parterrewohnungen mit Küche, Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, Bodenverschlag und Keller und, wie die Mieter auch, das gemeinsame Treppenhausklosett. 1914 zählten zur eigenen Wohnung 130 m² Land, die Mieter nutzten jeweils 18 m².

Immer wieder annoncierte 1910/11 unter dieser Adresse Meller Straße 51 übrigens eine „Berühmte Phrenologin“ aus Kassel in Bielefelder Zeitungen und bot „Kopf- und Handlesen nach wissenschaftlichem System“ an. Sie gab vor, nach dem „Studium der Schädellehre“ Auskunft über „Charakterbeurteilung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Rat in geschäftlichen Angelegenheiten, spez. bei Gattenwahl“ geben zu können, wobei Eheschließungen doch nicht in erster Linie eine ökonomische Dimension hatten. Es wird sich um Anna Franziska Kathinka Rietze geb. Weiß gesch. Rietze (geb. 1880) gehandelt haben, die in Kassel geboren war und am 1. April 1911 in die Herforder Straße 93 umzog, unter welcher Adresse Handleserinnen-Anzeigen ab dem 13. April erschienen. Ihre Ehe mit Johann Adam Rietze wurde 1917 geschieden, der Ehemann ging mit den drei Kindern nach Halle an der Saale, die als Garderobenfrau tätige Anna Rietze zog 1963 nach Gütersloh.

Familie – Schwiegermutter Ernst Sagewkas

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Auszug aus dem Hausbuch Metzer Straße 20, wo Maletzkis bis 1903 wohnten, aber auch verschiedene Biebersdorfs; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 1478: Hausbuch Metzer Straße 20, S. 5

Einige Geschwister von Luise Maletzki kamen nach deren Heirat ebenfalls nach Bielefeld in die erste gemeinsame Wohnung Metzer Straße 20. Wilhelmine und Marie begannen beide am 9. März 1897 ihre Arbeit bei der Ravensberger Spinnerei. Marie war bis zu ihrer Kündigung 1902 im Vorspinnsaal 8 tätig, Wilhelmine bis 1899 im Haspelsaal II. 1895 hatte der Bruder August dort als Bauarbeiter begonnen, kündigte aber bereits nach kaum zwei Monaten. Immerhin knapp drei Jahre verbrachte Anna von 1901 bis 1904 im Haspelsaal II. Friederike (verh. Grieswald) begann Ende Juli 1902 im Vorspinnsaal 18. Beide waren 1903 bis 1904 im Logierhaus gemeldet. Gottlieb, der Anfang 1903 im Feinspinnsaal III begann, kündigte im September 1905. Sechs der sieben in Bielefeld nachweisbaren Geschwister von Luise Biebersdorf arbeiteten, wenn auch durchweg kurzzeitig, bei der Ravensberger Spinnerei.

Die Arbeits- und Lohnverhältnisse, aber auch der Arbeitsschutz waren in den Bereichen, in denen sie tätig waren, offensichtlich so unzureichend oder unattraktiv, dass sie relativ schnell den Betrieb verließen und anderswo eine mutmaßlich lukrativere Beschäftigung fanden oder aber heirateten. Marie kehrte 1902 gar nach Galkowen zurück, wo sie Karl Komorowski heiratete und wohin der gerade einmal acht Jahre alte Bruder Ernst schon zuvor nach nur wenigen Monaten zurückgereist war. Später lebte Marie in Düsseldorf. Die zuerst nach Bielefeld gekommene Luise war so etwas wie der Familienpionier gewesen. Sie hatte die Lage sondiert und für ihre Geschwister die Chancen für ein auskömmliches Leben geprüft. Nicht für alle erfüllte sich der Traum sofort, und für manche überhaupt nicht – und für andere wiederum gar auf einem anderen Kontinent.

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Die Meller Straße nach einem Luftangriff im Herbst 1944; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1435-5

Luise blieb stets in Bielefeld. Vier Töchter und ein Sohn gingen aus ihrer Ehe mit Johann Maletzki hervor: Wilhelmine (1894-1978), Auguste Luise (1895-1950), Hedwig Marie (1897-1986), Anna Martha (geb. 1901) und Ernst Johannes „Hans“ (1899-1987). Kaum eine Woche nach seinem 18. Geburtstag musste Hans noch zum Militär, überlebte aber die Schrecken des Ersten Weltkriegs und verzog 1925 nach Dresden, wo er 1930 heiratete, aber seine Mutter anlässlich von Geburtstagen immer wieder besuchte. Den Zweiten Weltkrieg überstand die Familie offenbar unbeschadet, wenn man die Aktenüberlieferung des städtischen Ausgleichsamts als Maßstab nimmt, denn nahezu die gesamte Meller Straße ist mit Unterlagen zur Regulierung von Bomben- und Besatzungsschäden vertreten, das Nachbarhaus mit der Nummer 47 wurde bei einem Luftangriff beispielsweise vollkommen zerstört.

Die Tochter Auguste Luise, eine Musiklehrerin, heiratete am Heiligabend 1920 ihren Cousin, den in Nikolaihorst geborenen Kunstmaler Ernst Sagewka (1883-1959), der 1892 mit seinen Eltern nach Dornberg gekommen war und 1910 nach Bielefeld. Nikolaihorst bildete seit 1874 mit Galkowen eine Gemeinde. Noch in deren Gründungsjahr hatte Sagewka bei der Handwerker- und Kunstgewerbeschule eine Ausbildung bei Ludwig Godewols (1870-1926) und Hans Perathoner (1872-1946) begonnen. Sagewkas Nachname wurde im Heiratsregister übrigens mit „Sajewka“ beurkundet, und er selbst unterschrieb auch so – seine Meldekarte ist mit Streichungen stets unter „Saj“ einsortiert. Sagewka schrieb noch posthumSchlagzeilen, als sein Gemälde „Kastanienallee bei Höxter“ Ende 2023 bei einer Auktion statt der taxierten 4.000 € überraschende 71.120 € erzielte.

Heiratskreise?

Der Hinweis auf die nahe Verwandtschaft der Eheleute Sagewka-Maletzki lenkt den Blick auf die offensichtlich geübte Praxis landmannschaftlicher Heiratskreise, denn, wie erwähnt, auch Johann und Luise Maletzki kamen mit Galkowen und Bubrowko aus Nachbarorten im ostpreußisch-masurischen Kreis Sensburg. Luises Schwester Wilhelmine (1878-1911) heiratete 1899 in Bielefeld mit Karl Jendreizek einen Arbeiter aus dem 18 Kilometer von Galkowen gelegenen Prawdowen. Und ihre Schwester Anna wiederum ehelichte ebenfalls in Bielefeld Jakob Kullick (1888-1955), der in Johann Maletzkis Geburtsort Bubrowko zur Welt gekommen war. Beide wohnten 1919/20 im Haus Meller Straße 51 und wanderten 1922 nach Argentinien aus. Dort empfingen sie und ihr ebenfalls emigrierter Bruder Ernst 1925 die Taufe der Mormonen, waren die ersten dort getauften Kirchenmitglieder. Später emigrierten sie in die USA. Ernst und Anna beriefen sich in religiös inspirierten Erinnerungen an Visionen-ähnliche Weissagungen ihrer Mutter Luise, die einen imaginierten Ort nicht selber erreichen konnte, aber mit der Zuversicht vertröstet wurde, dass zweien ihrer Kinder dieses gelingen sollte.

Auch wenn hierzu eingehendere Forschungen notwendig sind, deutet sich an, dass Zugezogene sich auch in einer neuen Heimat in regionalen Herkunftskreisen bewegten, von Bielefeld aus weitere Verwandte und Bekannte zum Zuzug bewegten und regelrechte Heiratskreise ausbildeten, die landsmannschaftlich begründet waren. Ausschlaggebend mögen Religion, vielleicht aber auch die dialektal beeinflusste Sprache gewesen sein, die auch innerhalb einer deutschen Nationalität Gruppen voneinander trennte und in der Fremde zu einer Verfestigung und Pflege regionaler Herkunft führen konnte. Darüber hinaus kann dieses Heiratsverhalten auch andeuten, dass der Aufenthalt in Bielefeld nicht als endgültig begriffen worden war, sondern eher der Aussicht auf gute Verdienst- und Sparmöglichkeiten entsprang, um mit gebildeten und z. B. in Landkauf investierten Rücklagen in Masuren ein Auskommen zu finden. Für einen Umzug ins ländliche Masuren ließ sich mutmaßlich ein Ehepartner aus jener Gegend leichter begeistern, als ein örtlich gefestigter aus Ostwestfalen.

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Stellenanzeige der Betriebsleiterin Wilhelmine Maletzki für eine Krefelder Fabrik, 1924; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 39: Volkswacht v. 21.5.1924

Eine bemerkenswerte berufliche Entwicklung nahm Wilhelmine Maletzki (1894-1978). Sie wurde Schneiderin, stieg zur Direktrice auf, d. h. sie war Modeschneiderin und in führender Position tätig. Bereits 1913 meldete sie sich nach Heidelberg erstmalig ab, kehrte aber nach Aufenthalten in Marienburg, Hagen und Krefeld immer wieder nach Bielefeld zurück. 1925 verzog sie in das schweizerische Bern, kam mit gerade einmal 21 Jahren von Den Haag aus zurück. Dort war sie beim Damenschneider Julius Busch, der gebürtig aus dem westfälischen Kamen stammte, gemeldet. Thum im Erzgebirge, Mönchengladbach und Elberfeld, erneut Den Haag und das kleine niederländische Dorf Neede, wieder Krefeld, Stuttgart, Hannover und Münster waren bis 1941 weitere Stationen der unverheiratet gebliebenen Wilhelmine, die erst danach dauerhaft in Bielefeld verblieb.

1924 hatte sie in Bielefeld Zeitungsannoncen geschaltet, offenbar für ihren Arbeit- und Auftraggeber in Krefeld, wo sie auf einer Meldekarte als „Betriebsleiterin“ bezeichnet wird. Wilhelmine warb für die dortige neu gegründete Herrenwäschefabrik großformatig u. a. um einen Zuschneider, eine Einsatznäherin, zwei Manschettennäherin, eine Nückerin – „Nur erste Kräfte wollen sich melden“. Die Hintergründe der übrigen mehrmonatigen Aufenthalte im Ausland und in deutschen Großstädten bleiben letztlich unklar, jedoch scheint sie zumindest in Krefeld beim Aufbau eines Betriebs tätig und beauftragt gewesen zu sein, fachlich qualifiziertes Personal anzuwerben. Die übrigen, meist mehrmonatigen auswärtigen Aufenthalte können ähnliche, aber auch ganz andere Hintergründe gehabt haben. Wilhelmine Maletzki lebte von 1909 bis Februar 1978 in der elterlichen Wohnung Meller Straße 51. Erst danach verzog sie in das Evangelische Johannisstift, wo sie wenige Wochen später am 15. März 1978 verstarb.

Im höchsten Alter

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Luise Maletzki an ihrem 106. Geburtstag; Foto: Peter Thölen, Januar 1975; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,66/Westfalen-Blatt, Fotoarchiv

Als älteste Bielefelderin und Westfälin feierte Luise Maletzki am 28. Januar 1974 ihren 105. Geburtstag. Es gratulierten Bürgermeisterin Gisela Schwerdt (1917-1997) und Regierungsvizepräsident Hanns Winter (1922-2013). Verschiedene Fotos zeigen die Wohnung in der Meller Straße 51 mit Kranichen aus Holz am Fenstersturz, die mutmaßlich eine Erinnerung an die masurische Heimat darstellten. Ein Gemälde, das durch einen daneben hängenden Esso-Kalender nicht gerade Aufwertung erfährt, lässt sich eindeutig zuordnen: Es handelt sich nicht um eine Reminsizenz an die alte Heimat, sondern um eine Senne-Landschaft des Schwiegersohns Ernst Sagewka. In keinem der Oma-Maletzki-Geburtstags-Artikel seit 1969 findet sich übrigens ein Hinweis auf den Kunstmaler.

Am 17. September 1976 starb Luise Maletzki in ihrem 108. Lebensjahr. Ihr Ehemann Johannes Maletzki war mehr als 36 Jahre zuvor, am 22. August 1940, nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 75 Jahren in Bielefeld verstorben und auf dem Sennefriedhof beigesetzt worden. Luise Maletzki hatte damit, kaum überraschend, ihre Geschwister überlebt, die es in beinahe alle Welt verschlagen hatte: Nach Argentinien, in die USA und auch zurück nach Masuren. Luises Lebensweg hatte von Galkowen nach Bielefeld geführt, das 87 Jahre ihre Heimat bleiben sollte, was so kaum geplant war. Die Erinnerungen an Masuren blieben erhalten, denn anlässlich ihres 100. Geburtstages erzählte sie der Presse: „Ich bin oft im Traume da […]. Wenn ich träume, träume ich fast immer nur von meiner Heimat. Und dann sind alle wieder da, meine Eltern und meine Geschwister.“

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 200-1893,1: Heiratsregister Bielefeld 1893, Bd. 1, Nr. 102/1893 (Eheschließung Malecki/Maletzki-Biebersdorf),
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 200-1920,5: Heiratsregister Bielefeld 1920, Bd. 5, Nr. 1081/1920 (Eheschließung Sajewka/Sagewka-Maletzki);
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 300-1976,3: Sterberegister Bielefeld 1976, Bd. 3, 1675/1976 (Sterbefall Luise Maletzki)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 18: Meldekartei Bielefeld-Mitte, 1920-1958
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 19: Meldekartei Bielefeld-Mitte, Abgänge 1958-1984
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 58: Meldekartei Bielefeld-Mitte, Abgänge 1893-1930
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 66: Meldekartei Bielefeld-Mitte, Abgänge 1930-1939; Nr. 1476: Hausbuch Meller Straße 51, 1906-1947
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,10/Amt für Wohnungswesen, Nr. 1992: Meller Straße 51-80, 1917-1963
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,10/Amt für Wohnungswesen, Nr. 401: Verzeichnis der Friedensmieten sämtlicher Wohnungen und Geschäftsräume einschließlich des Vermieters am 1.7.1914, 1914; Enthält u.a.: Meller Straße
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,33/Ravensberger Spinnerei, Nr. 57: Personalbuch A-H, 1895-1900, ca.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,33/Ravensberger Spinnerei, Nr. 58: Personalbuch A-H, 1900-1920, ca.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,33/Ravensberger Spinnerei, Nr. 81: Personalbuch I-R, 1895-1900, ca.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 102 u. 103: Familienkunde, Lebensbilder, 1966-1970 u. 1970-1977 (diverse Artikel anlässlich von Geburtstagen und des Ablebens von Luise Maletzki)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 5: Bielefelder General-Anzeiger v. 18.10.1910 (Phrenologinnen-Anzeige);
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 5. u. 28.5.1924 (Arbeitskräfte-Anwerbeannoncen von Wilhelmine Maletzki);
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 39: Volkswacht v. 5., 22.5., 27.5. u. 28.5.1924 (Arbeitskräfte-Anwerbeannoncen von Wilhelmine Maletzki);
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 2.1.1909 (Kaufmitteilung Meller Straße 51)

Literatur

  • Altenberend, Johannes, Die Wohnsituation der Bielefelder Arbeiter im Kaiserreich, in: 72. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg (1979/1980), S. 113-206
  • Bratvogel, Friedrich W., Stadtentwicklung und Wohnverhältnisse in Bielefeld unter dem Einfluß der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, Dortmund 1989
  • Ditt, Karl, Industrialisierung, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Bielefeld 1850-1914, Dortmund 1982
  • Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (Hg.), Heilige. Kirche Jesu Christi der Heiligen in den letzten Tagen, Bd. 3: Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar 1893-1955, Salt Lake City 2022
  • Kossert, Andreas, Masuren, Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2001
  • Ders., Gebrauchsanweisung für Masuren, München 2022
  • Neumann, Cornelia, Arbeits- und Lebensbedingungen der Bielefelder Textilarbeiterinnen von 1850-1914 am Beispiel der Ravensberger Spinnerei, in: Ilse Brehmer/Juliane Jacobi-Dittrich (Hg.), Frauenalltag in Bielefeld, Bielefeld 1986, S. 109-143
  • Sagewka, Rolf, Ernst Sagewka. Bielefelder Kunstmaler und Grafiker. Biografie und Schaffenswerk, Berlin 2014
  • Ders., Ernst Sagewka. Bielefelder Kunstmaler und Grafiker. Werksverzeichnis Ölgemälde, Berlin 2014
  • Schönwald, Matthias, Die Deutschen in Argentinien zwischen Kaiserreich und Republik. Politische und soziale Spannungen innerhalb der deutschen Kolonie, 1914-1923, (Magister-Arbeit) Tübingen 1991
  • Ukena, Dirk/Hans J. Röver (Hg.), Die Ravensberger Spinnerei. Von der Fabrik zur Volkshochschule. Zur Umnutzung eines Industriedenkmals in Bielefeld, Hagen 1989

Online-Ressourcen

Erstveröffentlichung: 01.1.2024

Hinweis zur Zitation: Rath, Jochen, 28. Januar 1974: Bielefelds älteste Bürgerin, Luise Maletzki, feiert ihren 105. Geburtstag,  https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2024/01/01/0101024/ , Bielefeld 2024

Ein Kommentar zu „28. Januar 1974: Bielefelds älteste Bürgerin, Luise Maletzki, feiert ihren 105. Geburtstag

  1. Es freut mich, eine Bielefelder Erinnerung an eine ferne Verwandte zu lesen. In unserer Familie (meine Uroma hieß Sagewka, geborene Maletzki) kursiert die Geschichte, dass Luise mit 106 Jahren die Aufforderung zur Einschulung zugeschickt bekam. Zur Entschuldigung wäre gesagt worden, der Computer könnte die 100 nicht verarbeiten und hätte aus der 106 einfach 6 Jahre gemacht.

    Zwei kleine Anmerkungen: In Masuren war der „Wirt“ ein Landwirt und in unseren Ahnentafeln schreibt sich der Nachname von Luises Schwiegermutter nicht Limny, sondern Zimny. Aber im Artikel werden ja auch die variierenden Schreibweisen masurischer Namen erwähnt. Danke für die schöne Zusammenstellung!

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