31. Dezember 1973: Oberstadtdirektor Heinz-Robert Kuhn wird in den Ruhestand versetzt

• Andreas Martin Vohwinkel, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek • 

Am 31. Dezember 1973 wurde Oberstadtdirektor Heinz-Robert Kuhn (1909-1998) in den Ruhestand versetzt. Der Zeitpunkt der Pensionierung war überraschend, endete die Amtszeit Kuhns, der im Herbst 1971 mit nur zwei Gegenstimmen als Oberstadtdirektor wiedergewählt worden war, eigentlich erst am 31. August 1974. Nach den Kommunalwahlen im März 1973 hatten SPD und FDP in ihren Koalitionsverhandlungen allerdings vereinbart, dass der amtierende Oberstadtdirektor am Ende des Jahres vorzeitig in den Ruhestand gehen würde – eine Vereinbarung, der Kuhn nur widerwillig und auf politischen Druck hin zugestimmt hatte. Bei einer verwaltungsinternen Verabschiedung am 27. Dezember 1973 stellte der scheidende Oberstadtdirektor unverblümt fest, dass „mein Verbleiben im Rathaus nach dem 31. Dezember unerwünscht ist“, und betonte mit Blick auf die Spannungen zwischen Stadtrat und Verwaltung in Folge der Gebietsreform von 1973: „Wir Verwaltungsbeamte sind ja keine politischen Eunuchen – wir müssen auch politisch, das heißt in großen Zusammenhängen denken!“ In einem am Tag seiner Pensionierung erschienenen Interview mit dem Westfalen-Blatt bekräftigte Kuhn: „Ich wäre wahrscheinlich, wenn mir nicht nahegelegt worden wäre, zum Ende dieses Jahres auszuscheiden, bis Mitte 1974 geblieben.“ Tatsächlich war das Verhältnis zwischen dem Oberstadtdirektor und seiner Partei, der SPD, in den Monaten zuvor spürbar abgekühlt.

Politische Auseinandersetzungen und innerparteiliche Spannungen waren während Kuhns dreizehnjähriger Amtszeit als Oberstadtdirektor keine Seltenheit. Dennoch gelang es ihm, die Entwicklung der Stadt Bielefeld ab 1960 maßgeblich zu prägen.

Ausbildung und beruflicher Werdegang

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Oberstadtdirektor Heinz-Robert Kuhn bei einer Veranstaltung, 1963. Links Oberbürgermeister Herbert Hinnendahl (Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-6-26, Foto: Eduard Heidmann)

Heinz-Robert Hermann Kuhn wurde am 6. August 1909 in Bromberg in der Provinz Posen (heute Bydgoszcz in Polen) als Sohn des Rechtsanwalts Heinrich Hermann Bernhard Kuhn und dessen Ehefrau Maria Kuhn geb. Herzan geboren. Von 1916 bis 1920 besuchte Kuhn die Bismarck-Oberrealschule in Bromberg, anschließend ein Gymnasium in Berlin-Steglitz und ab 1921 das Realgymnasium in Küstrin, an dem er im Februar 1928 das Abitur ablegte. Im April desselben Jahres begann Kuhn ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen, das er in Genf, Rostock und Königsberg fortsetzte. Im Dezember 1931 legte er das Erste Staatsexamen ab. Nach einem Gerichtsreferendariat am Kammergericht Berlin und Bestehen des Zweiten Staatsexamens vor dem Reichsprüfungsamt in Berlin trat Kuhn, der am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer 2507460) geworden war, im August 1935 als Anwärter in den höheren Heeresverwaltungsdienst ein. Im Herbst 1936 folgte die Ernennung zum Intendantur-Assessor, ein Jahr später die Ernennung zum Intendantur-Rat. Von 1937 bis 1939 war Kuhn als stellvertretender Leiter der Reichsstelle für Landbeschaffung im Oberkommando der Wehrmacht tätig. In den darauffolgenden zwei Jahren arbeitete er in der Wehrkreisverwaltung XX in Danzig. Ab 1941 übte er eine Tätigkeit als Intendant im XXVI. Armeekorps aus. Im April 1943 wurde er zum Oberintendantur-Rat ernannt und war ab Anfang 1945 Intendant der Heeresgruppe Ostpreußen.

In britischer Kriegsgefangenschaft wurde Kuhn als Versorgungsoffizier für die Kriegsgefangenenlazarette im Kreis Herzogtum Lauenburg eingesetzt. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im März 1946 fungierte er als Verwaltungsleiter des Krankenhauses in Mölln und war in diesem Kontext an der Abwicklung von Kriegsgefangenenlazaretten beteiligt. Zusätzlich arbeitete Kuhn für die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein. Nachdem er von Januar 1948 bis Oktober 1950 als kaufmännischer Angestellter bei den Verlagen Otto Beyer und Schwabe in Wiesbaden und beim Verlag Frauenwelt in Nürnberg tätig gewesen war, fungierte Kuhn, mittlerweile Mitglied der SPD, ab Juni 1951 als juristischer Hilfsarbeiter der Stadt Essen und bekleidete dort ab April 1952 das Amt eines Oberrechtsrates. Von Juli 1955 bis November 1956 war er als Beigeordneter für Stadtbetriebe, Wohnungswesen und Wirtschaftsförderung bei der Stadt Duisburg angestellt. Es folgte eine zweijährige Amtszeit als Stadtkämmerer der Stadt Essen, wo sich Kuhn als Urheber des sogenannten Essener Normalverbraucherwohnprogramms hervortat, mit dem die Finanzierung von jährlich 1000 Wohnungen für Wohnungssuchende gesichert wurde, die bei der Vergabe von Wohnraum keine Sonderrechte geltend machen konnten. Darüber hinaus setzte er den Bau eines Heizkraftwerks in der Essener Innenstadt durch.

Wahl zum Oberstadtdirektor

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Oberstadtdirektor Kuhn (rechts) bei einer Besprechung, 1962. Links daneben Oberbürgermeister Herbert Hinnendahl (Bestand 400,2/Westermann-Sammlung, Nr. 94-2 [S. 284])

Am 15. April 1959 wurde Heinz-Robert Kuhn im Rathaus der Stadt Bielefeld vorstellig. Die SPD-Fraktion, die seinerzeit im Stadtrat über eine Mehrheit verfügte, hatte ihn kurz zuvor zu ihrem Kandidaten für die Nachfolge des zu Jahresende aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt scheidenden Oberstadtdirektors Eberhard Vincke (1896-1977) bestimmt. Bei dem anderen Bewerber, den der städtische Hauptausschuss nach zwei Ausschreibungsverfahren neben Kuhn vorgeschlagen hatte, handelte es sich um den ebenfalls in Bromberg geborenen städtischen Beigeordneten Joachim Fischer (1910-1988), den die Ratsfraktionen von CDU und FDP als Nachfolger Vinckes favorisierten. Am 2. September 1959 wurde Kuhn vom Rat der Stadt mit den 28 Stimmen der SPD-Fraktion zum Oberstadtdirektor gewählt, wobei der Beginn seiner Amtszeit auf den 1. Januar 1960 festgesetzt wurde.

Die Westfälische Zeitung, die Kuhns Wahl angesichts der 17 Gegenstimmen von CDU und FDP als „ausgesprochene Kampfabstimmung“ charakterisierte, beklagte die Art und Weise der Entscheidungsfindung: „Bielefelds neuer Oberstadtdirektor verdankt seine Wahl einem Beschluß der Mehrheit und kann sich nicht auf eine breite Basis berufen. Das ist in seinem Sinne bedauerlich. Wir haben vor Wochen davor gewarnt, die Wahl des Chefs der Bielefelder Verwaltung zu einer Fraktionsentscheidung werden zu lassen. Sie ist es trotzdem geworden. Das tut uns leid, denn ein Oberstadtdirektor ist nicht irgendwer, sondern bedarf der Zustimmung aller Fraktionen, wenn er nicht „abgestempelt“ sein will.“ Auch bei den Ratsfraktionen von CDU und FDP sorgten die Umstände der Wahl für Verstimmung. So stellte der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Verleger (1886-1965) gegenüber dem Westfalen-Blatt fest, dass die SPD-Fraktion angesichts der Entscheidung für Kuhn mit der Tradition gebrochen habe, das Amt des Oberstadtdirektors mit einer Person aus der Bielefelder Stadtverwaltung zu besetzen – und das, obwohl mit Joachim Fischer ein fachlich genauso qualifizierter Kandidat aus den eigenen Reihen zur Wahl gestanden habe, der sich im regionalen Verwaltungsdienst bereits bewährt habe.

Das Westfalen-Blatt wiederum bedauerte am 11. September 1959 die „Entwicklung im Beamtentum, die auch die vollziehenden Kräfte der Gemeinden in einem immer stärkeren Maße zum Liebäugeln mit dem politischen Kräftespiel“ veranlasse, äußerte jedoch gleichzeitig die Hoffnung, dass Kuhn sich „trotz der Kampfabstimmung im Rat, trotz der parteipolitischen und sachlichen Auseinandersetzungen, die mit seiner Berufung verknüpft sind“, der ganzen Stadt verpflichtet fühlen werde. Gleichzeitig gab die Westfälische Zeitung zu bedenken: „Es würde die Unaufrichtigkeit in unserem politischen Leben nur vermehren, wollte jemand in diesem Zusammenhang dem von weiten Bevölkerungskreisen mit Besorgnis verfolgten Wandel vom Betriebsbeamtentum parteiloser Prägung zum immer mehr parteipolitisch profilierten Beamtentum unserer Demokratie ebenso parteipolitische Krokodilstränen nachweinen.“ Dies sei in den Stellungnahmen von CDU und FDP allerdings nicht der Fall gewesen.

Kuhn selber äußerte bei seiner Amtseinführung und Vereidigung am 16. Dezember 1959, „mit Bedauern zur Kenntnis nehmen [zu] müssen, daß mir die Stimmen eines Teiles dieses hohen Hauses nicht zuteil geworden sind“, gab zugleich aber der „Hoffnung Ausdruck […], daß dieser Teil des Rates zu gegebener Zeit, nämlich dann, wenn man mich in meiner sachlich-fachlichen Arbeit näher kennengelernt hat, diese Entscheidung nicht bedauern wird“.

Amtszeit

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Das Kaufhaus Karstadt an der Bahnhofstraße, um 1965 (Bestand 400,6/Ansichtskarten, Nr. 2052)

Zu Beginn seiner Amtszeit befasste sich Kuhn vor allem mit dem weiterhin akuten Wohnraummangel, aufgrund dessen noch etwa 14.000 Menschen in Bielefeld zu Beginn der 1960er-Jahre unzureichend untergebracht waren. Um diesen Zustand zu überwinden, ließ Kuhn alle Baulücken in der Stadt in einer Kartei erfassen und die jeweiligen Grundstücksbesitzer auffordern, eine Bebauung in die Wege zu leiten. Durch diese Initiative entstanden insbesondere die Wohnbebauung an Bültmannshof, Schürmannshof und Oberlohmannshof sowie mehrere Wohnsiedlungen in Baumheide. Dem Parkplatzmangel in der Bielefelder Innenstadt begegnete Kuhn wiederum mit Bau von Parkhäusern und dem Ausbau des Kesselbrinks, dem bis 1965 weitere oberirdische Parkplätze und eine Tiefgarage hinzugefügt wurden. Neben dem Neu-und Umbau mehrerer Bielefelder Schulen forcierte Kuhn darüber hinaus den Bau von Kaufhäusern in der Innenstadt, um Bielefeld als Einkaufszentrum der Region zu festigen. So nahm die Planung für die bereits seit Mitte der 1950er angedachte Karstadt-Filiale in der Bahnhofstraße unter dem neuen Oberstadtdirektor Gestalt an – auch, weil die Stadtverwaltung die anderweitige Unterbringung der Geschäfte, die sich auf dem für den Neubau ausgewählten Grundstück befanden, effizient abwickelte. Am 22. April 1964 wurde das vom Westfalen-Blatt als „Haus der Superlative“ bezeichnete Kaufhaus – zum damaligen Zeitpunkt eine der zehn größten von insgesamt 54 bundesweiten Karstadt-Filialen – schließlich in Anwesenheit von Kuhn und Oberbürgermeister Herbert Hinnendahl (1914-1993) feierlich eröffnet.

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Kuhn transportiert in seinem Auto das ersteigerte Schwein „Jolanthe“ die Detmolder Straße entlang. Karikatur von Egon Körbi. Die Freie Presse berichtete zu der Szene: „Jolanthe ihrerseits spielte die Beleidigte und kehrte dem bösen Herrchen den fetten Rücken zu – und das auf sehr humorvolle Weise: Sie setzte sich in den Kofferraum hinter dem Rücksitz und guckte zur Gaudi aller hinterherfahrenden Kraftfahrer zum Heckfenster hinaus.“ (Freie Presse v. 29.1.1963)

Für Schlagzeilen anderer Art sorgte Heinz-Robert Kuhn hingegen im Januar 1963. Auf dem Jahresfest der Gesellschaft der Theater- und Konzertfreunde am 25. Januar 1963 gewann der Oberstadtdirektor bei einer Versteigerung, an der er sich des guten Zwecks wegen beteiligt hatte, den Hauptpreis – das Läuferschwein „Jolanthe“. Nachdem Kuhn das Schwein notgedrungen in seinem Wagen transportiert hatte, brachte er es zunächst in der heimischen Garage unter, wo sich nach Darstellung der Freien Presse am nächsten Morgen ein Bild der Verwüstung bot: „Das fidele Glücksschwein hatte in der Garage sämtliche Garagengeräte durcheinandergewirbelt, einen Kinderroller in die Ecke gefeuert, das Auto fachgerecht besudelt und die Blumenzwiebeln aufgefressen.“ Der Oberstadtdirektor fand zwar noch am selben Tag einen neuen Halter für das Schwein, jedoch verlief der erneute Transport des Tieres mit dem Wagen nicht reibungslos: „Auf der Detmolder Straße aber streikte Jolanthe. Sie befreite sich aus der Kiste und benahm sich wie ein Schwein. Zur Belustigung zahlreicher Passanten stoppte Kuhn und versuchte, die Sau in die Schranken zu verweisen. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Denn nun fing Jolanthe fürchterlich zu quieken an, daß es einen regelrechten Menschenauflauf gab. Was blieb dem Oberstadtdirektor anderes übrig, als das Schwein gewähren zu lassen und sich wieder ans Steuer zu setzen!“ Der Westfälischen Zeitung gestand der Katzen-, Jazz- und Hundeliebhaber Kuhn, der im Dezember 1967 durch die erfolgreiche Suche nach seinem vermissten Siamkater „Puppi“ erneut tierische Schlagzeilen schreiben sollte, abschließend: „Zwei Tage habe ich gebraucht, um Garage und Auto wieder einigermaßen hinzukriegen.“

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Die Radrennbahn an den Heeper Fichten im April 1959 (Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 57-7-32)

Weniger satirisch fiel die Berichterstattung aus, als Kuhn am 22. Mai 1963 vor dem Rat der Stadt den Umbau der Radrennbahn in den Heeper Fichten zu einem 20.000 Personen fassenden Fußballstadion vorschlug. Die Idee des Oberstadtdirektors zielte auf die Lösung zweier akuter Probleme ab: Zum einen war die Kapazität der „Alm“ an der Melanchthonstraße für den großen Publikumsandrang bei Arminia Bielefeld-Spielen schon seit Jahren nicht mehr ausreichend, zumal das Gebiet um die Spielstätte nicht genügend Parkplätze bot. Zum anderen hatte sich der Betrieb der im Juni 1953 eröffneten Radrennbahn als unrentabel erwiesen. Ein Umbau der Bahn bot laut Einschätzung Kuhns die Chance, die Sportstätte an den Heeper Fichten neu zu beleben und weder auf eine problematische bauliche Erweiterung der „Alm“, noch auf den Bau eines neuen Fußballstadions angewiesen zu sein. Zum anschließenden Vorwurf aus der CDU-Ratsfraktion, Kuhns Vorschlag stelle angesichts des praktisch nicht durchführbaren Umbaus der Radrennbahn eine bewusste Täuschung des Stadtrats dar, äußerte sich der Oberstadtdirektor gegenüber der Westfälischen Zeitung folgendermaßen: „Entscheidet man sich für eine wirksame und vor allem schnelle Hilfe für den Fußball, muß man sich zur Aufgabe der Radrennbahn entschließen in der Erkenntnis, daß der Radrennsport nicht mehr das Publikum früherer Jahre aufbringt. Darum auch mein Vorschlag, zumindest zu prüfen, ob eine Abtragung der Radpiste, eine Anschüttung des Ovals, kurz ein solcher Umbau zum Fußballstadion vor allem finanziell in erschwinglichen Grenzen bleibt.“ Letztlich blieb der Umbau der Radrennbahn aber nur eine Idee. Trotz zahlreicher Bedenken wurde stattdessen die „Alm“ bis Anfang der 1970er-Jahre schrittweise baulich erweitert.   

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Oberstadtdirektor Kuhn erläutert ein Modell des neuen Stadtteils am Bültmannshof, August 1966 (Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-11-80, Foto: Erich Borowka)

Am 31. Dezember 1964 bescheinigte die Freie Presse Kuhn, „heute bei allen Parteien das Ansehen eines tüchtigen Verwaltungsfachmanns [zu genießen], der sich in allen Dingen bemüht, das Beste für die Stadt zu erreichen.“ Der Gelobte erklärte der Zeitung diesen Erfolg so: „Die Verwaltung muß eine Vorlage für den Rat so präzise und sorgfältig ausarbeiten, daß es den ehrenamtlichen Ratsherren leicht fällt, sie anzunehmen!“ Zu diesem Zeitpunkt bemühte sich der Oberstadtdirektor – abgesehen von der angedachten Kunsthalle – verstärkt um die Verwirklichung zweier von ihm angeschobener Großprojekte: Während der Bau eines Nahverkehrsflughafens für Ostwestfalen-Lippe in Nagelsholz am Ende nicht über die Planungsphase hinauskam, waren die Bemühungen Kuhns in der seit Jahren offenen Universitätsfrage schlussendlich von Erfolg gekrönt. Denn nachdem sich die Stadt Bielefeld mit der Familie Voltmann wegen des Anlaufs einer Besitzung im Bielefelder Westen auf einen Preis geeinigt hatte, entschied sich die nordrhein-westfälische Landesregierung am 6. Juni 1966 für Bielefeld als Universitätsstandort. Damit stand der am 21. Juni 1968 erfolgten Grundsteinlegung für die Universität Bielefeld nichts mehr im Wege.  

Das ehrgeizigste Projekt des Oberstadtdirektors blieb allerdings der Zusammenschluss der kreisfreien Stadt Bielefeld mit den Städten und Gemeinden des 1816 gegründeten Kreises Bielefeld. Kuhn hatte sich bereits zu Beginn seiner Amtszeit um eine Annäherung zwischen Stadt und Kreis Bielefeld bemüht. Früchte dieser Bemühungen waren unter anderem eine Planungsvereinbarung und die Erarbeitung eines gemeinsamen Standpunkts hinsichtlich der angedachten Universität gewesen. Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Stadt und Kreis hatte sich nach 1945 ohnehin stetig verdichtet, wie Walter Suermann (1901-1993), Wirtschaftsredakteur des Westfalen-Blatts, anlässlich der Eröffnung der Karstadt-Filiale im April 1964 feststellte: „Die Trennung von Stadt- und Landkreis ist immer mehr zu einer Verwaltungsfrage geworden, während beide wirtschaftlich von Jahr zu Jahr stärker miteinander verschmelzen und zu einer unzertrennbaren Einheit zusammenwachsen“. Nachdem die Stadt Bielefeld bis Mitte 1972 unter maßgeblicher Beteiligung Kuhns, der für den Bielefelder Raum eine sogenannte große Lösung einschließlich Bezirksverfassung anstrebte, mit den umliegenden Gemeinden des Kreises Bielefeld entsprechende Gebietsveränderungsverträge ausgehandelt hatte, wurde am 24. Oktober 1972 im nordrhein-westfälischen Landtag das Bielefeld-Gesetz verabschiedet, das zum 1. Januar 1973 in Kraft trat.  Durch die Gebietsreform und die damit verbundene kommunale Neuordnung verdoppelte sich die Bevölkerung der Stadt Bielefeld über Nacht von 167.500 auf 320.350 Personen.

Bezüglich der Gebietsreform bescheinigte Kuhns designierter Amtsnachfolger Herbert Krämer (1931-2015) seinem scheidenden Vorgänger am 27. Dezember 1973: „Wenn auch niemand so recht daran geglaubt hat – Sie haben beharrlich mit fast westfälischer Sturheit daran festgehalten, in dem Sie bestimmte Argumente scheinbar nicht wahrnahmen, was auch bei mir oft ein gewisses Befremden auslöste!“ Kuhn selber zog zehn Jahre nach Umsetzung der großen Lösung in einem im Dezember 1982 veröffentlichten Interview mit der Neuen Westfälischen hinsichtlich des Nutzens der kommunalen Neuordnung ein gemischtes Fazit: „Ich habe mir seinerzeit Mühe gegeben, die alte Stadt Bielefeld zu erweitern, um die Voraussetzungen für eine gute wirtschaftliche Entwicklung zu setzen. Mehr war für mich nicht drin. Leider muß ich jetzt […] sagen, daß die Kommunalpolitik nicht großstädtische Maßstäbe gewonnen hat, sondern mehr aus dörflichem Denken gesteuert wird. […] Wir hätten nach der Gebietsreform doch ganz anders hier in Bielefeld uns daran orientieren sollen, die Stadt wirtschaftlich stark zu machen. Statt dessen sind nicht nur keine interessanten Produktionsstätten hier entstanden, sondern viele Produktionsstätten sind abgewandert. […] Die Kommunalpolitik in Bielefeld erschöpft sich mehr oder weniger in Einzelheiten, man befaßt sich viel zu wenig mit der großen Linie. Insbesondere im Hinblick auf die Wirtschaft, die ja die Arbeitsplätze schafft und die auch am Wohlstand einer Gemeinde, einer Stadt entscheidenden Anteil trägt.“ Ähnlich äußerte sich der frühere Oberstadtdirektor im August 1989 anlässlich seines 80. Geburtstags zur Gebietsreform: „Die wirtschaftliche Entwicklung hat nicht den Verlauf genommen, den wir gewünscht haben. […] Da sitzen manche im Rat, die von ihrer örtlichen Herkunft kein Gespür für die Belange eines Oberzentrums haben.“ Zugleich schlug Kuhn versöhnliche Töne an: „Jede Generation hat eben eine andere Auffassung von der Lösung anstehender Probleme“.

Verabschiedung und Ehrungen

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Eintrag im Goldenen Buch der Stadt Bielefeld (Bestand 300,5/Handschriften, gebunden, Nr. 193)

Als Heinz-Robert Kuhn am 18. Februar 1974 im Foyer des Stadttheaters feierlich verabschiedet wurde, fanden die Spannungen, die seine Versetzung in den Ruhestand begleitet hatten, keine Erwähnung. Oberbürgermeister Hinnendahl, der Kuhn bereits zu dessen Dienstjubiläum anlässlich 40-jähriger Tätigkeit im öffentlichen Dienst im Mai 1972 „nicht als Typ eines Beamten früherer Zeiten, sondern als einen Manager der Kommunalverwaltung, der das Wort von der Teamarbeit nicht nur im Munde geführt, sondern fortgesetzt realisiert“ habe, charakterisiert hatte, bescheinigte dem ehemaligen Oberstadtdirektor, „ein Mann mit Initiative und Energie“ gewesen zu sein, „der das Wesentliche erkannte und dementsprechend die Beschlüsse des Rates vorbereitete“. Kuhn, der angesichts seiner oftmals nicht genutzten Urlaubstage im Namen des Rates eine Reise geschenkt bekam und sich in das Goldene Buch der Stadt eintrug, bekannte: „Ich weiß, daß ich manchmal sozusagen den Dienstweg nicht eingehalten habe. Leidtragende zugunsten der Bielefelder Bürger waren aber nicht nur die Regierung in Detmold, sondern auch das Land Nordrhein-Westfalen.“ Sein besonderes Lob galt der Stadtverwaltung: „Es gibt keine Stadt in Nordrhein-Westfalen, in der die geltende Gemeindeordnung so funktionierte – weil wir nicht nach dem Wortlaut, sondern nach dem Sinn des Gesetzes handelten.“

Für seine Verdienste als Oberstadtdirektor Bielefelds, seine von 1961 bis 1969 ausgeübte Mitgliedschaft in der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe, bei der er zeitweise auch als Vorsitzender des Fachausschusses für Siedlungswesen, Wasserwirtschaft, Landeskultur und Landesplanung Westfalen-Lippe fungierte, die bis Juli 1974 währende Tätigkeit im Haupt- und Personalausschuss des Städtetages, seine Leistungen als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsflughafen Ostwestfalen-Lippe, als Vorsitzender der Vereinigung Kommunaler Arbeitgeberverbände und als Vorsitzender der Arbeitsrechtlichen Vereinigung NRW sowie sein ehrenamtliches Engagement im – bis 1968 als Bundesluftschutzverband bezeichneten – Bundesverband für den Selbstschutz (BVS), dem er als Präsident vom 15. Oktober 1963 bis 27. November 1978 ununterbrochen vorstand, erhielt Kuhn am 29. Dezember 1978 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik und am 5. September 1988 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Zuvor hatte er am 15. Dezember 1974 das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik als zu geringwertig abgelehnt. Bereits im Juni 1971 war Kuhn für die gute Zusammenarbeit mit dem österreichischen Zivilschutzverband in Fragen der humanitären Hilfe für Menschen in Not das Große goldene Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik Österreich verliehen worden. Am 30. Oktober 1985 wurde der ehemalige Oberstadtdirektor darüber hinaus zum Ehrenbürger der Universität Bielefeld ernannt.

Heinz-Robert Kuhn, der anlässlich seines 85. Geburtstags im August 1994 von Oberbürgermeister Eberhard David als „erfolgreich, streitbar und verbindend“ charakterisiert wurde, verstarb am 28. September 1998 in Bielefeld.

Quellen

  • Bundesarchiv, Bestand R 9361-IX KARTEI (NSDAP-Gaukartei), Karte Nr. 24050609
  • Staatsarchiv Bydgoszcz, Geburtenregister Bromberg, Eintrag Nr. 904/1909
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, 19: Meldekartei Bielefeld, Abgänge 1958-1984; 20: Meldekartei Bielefeld, Stand 1984
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,5/Handschriften, gebunden, Nr. 193: Goldenes Buch der Stadt Bielefeld
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, 93: Stadtgeschichte, 1954-1959; 94: Stadtgeschichte, 1959-1964; 95: Stadtgeschichte, 1964-1969; 96: Stadtgeschichte, 1969-1984; 101: Familienkunde, Lebensbilder, 1962-1966; 102: Familienkunde, Lebensbilder, 1966-1970; 103: Familienkunde, Lebensbilder, 1970-1977; 104: Familienkunde, Lebensbilder, 1977-1981; 105: Familienkunde, Lebensbilder, 1981-1986; 106: Familienkunde, Lebensbilder, 1986-1991; 235: Gerichte, Verwaltung, Steuern, Behörden, 1946-1972; 285: Handel, 1946-1966
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, 13: Freie Presse, 1946-1967 (Artikel v. 3.9.1959, 15.12.1959, 17.12.1959, 16.4.1960, 10.6.1960, 23.5.1963, 25.5.1963, 29.1.1963, 23.4.1964, 24.4.1964 u. 31.12.1964); 32: Neue Westfälische (Artikel v. 28.12.1967, 11.1.1968, 12.1.1968, 2.6.1971, 7.8.1973, 28.12.1973, 19.2.1974, 5.1.1974, 6.8.1974, 21.3.1979, 6.8.1979, 31.12.1982, 6.8.1984, 21.9.1988, 5.8.1989 u. 29.9.1998); 50: Westfälische Zeitung, 1883-1967 (Artikel v. 3.9.1959, 11.9.1959, 17.12.1959, 29.1.1963, 23.5.1963, 27.5.1963, 28.5.1963, 23.4.1964, 24.4.1964, 24.9.1964 u. 5.2.1965); 54: Westfalen-Blatt (Artikel v. 17.4.1959, 3.9.1959, 11.9.1959, 23.5.1963, 25.5.1963, 16.10.1963, 20.3.1964, 23.4.1964, 6.8.1969, 8.5.1972, 20.10.1972, 6.8.1973, 31.12.1973, 19.2.1974, 25.11.1978, 23.9.1988 u. 30.9.1998).

Literatur

  • Bruns, Alfred (Hg.), Die Abgeordneten des Westfalenparlaments, Münster 1978, S. 407.
  • Dinger, Friedrich Walter, Neuer Präsident und neuer Vorstand, in: Ziviler Bevölkerungsschutz, Jahrgang 1963, Heft 11, S. 7.
  • Verwaltungsberichte der Stadt Bielefeld aus der Amtszeit von Heinz-Robert Kuhn: Link
  • Vogelsang, Reinhard, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005.

Online

Erstveröffentlichung: 01.12.2023

Hinweis zur Zitation: Vohwinkel, Andreas Martin, 31. Dezember 1973: Oberstadtdirektor Heinz-Robert Kuhn wird in den Ruhestand versetzt,  https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2023/12/01/01122023/ , Bielefeld 2023

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