15. November 1923: Die Rentenmark soll die Inflation beenden – Bielefelder Stimmen

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

„Das Ende der Geldentwertung?“, fragte die Westfälische Zeitung am 16. November 1923, als sie die Einführung der Rentenmark am Tag zuvor zurückhaltend kommentierte, die die anhaltende Hyperinflation stoppen sollte: „Die Rentenmark rückt mit Pauken und Trompeten ins Feld, um der Inflation, diesem ungeheuerlichsten aller Ungeheuer das Lebenslicht auszublasen. […] Morgen oder übermorgen werden wir wohl wertbeständigkeitsbegeistert mit den Rentenpfennigen in den Taschen klimpern. Hei, wird das eine Musik sein! Dann gehen wir in die Kaufläden, greifen lässig in die Westentasche und werfen so ein paar Kupferpfennige auf die Theke, daß es klirrt – und wir können haben, was das Herz begehrt. Wirklich? Nun, ganz so herrlich wird es wohl nicht sein. Der Wunsch und die Phantasie sind dem Möglichen und Wahrscheinlichen wohl um einige Nasenlängen vorausgeeilt.“

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Verhundertmillionenfachter Wert durch einen nachträglichen Aufdruck. Nur so konnte der 5.000-Mark-Schein vom 15. März 1923 mit der Hyperinflation mithalten; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,12/Münzen und Papiergeld

Die vor allem wegen des unsicheren Warenangebots durchaus angebrachte Skepsis rührte aus den bitteren Erfahrungen der Hyperinflation der Vormonate: Aus Tausend Mark waren auf einmal Zehn- bald Hunderttausend geworden, schnell Millionen, noch schneller Milliarden und schließlich flugs Billionen. Wer es sich leisten konnte, hielt Waren zurück, da vereinnahmtes Geld mit geringstmöglichem Verlust schnell zu reinvestieren war. Die Reichsbank und die Landesbanken kamen mit dem Druck neuer Geldscheine mit angepassten Nominalwerten kaum nach. Gelegentlich wurde der alte Nennwert einfach überstempelt oder -druckt, um mit der seit August 1923 galoppierenden Inflation einigermaßen Schritt halten zu können.

955.505.359.466.712.563 Mark zum Beispiel – Inflationsursachen

Zweifel an der neuen Rentenmark waren angesichts der Verunsicherung in Wirtschaft und Gesellschaft angebracht, denn seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 hatte die Mark anfangs schrittweise an Wert verloren und die Bevölkerung und auch internationale Anleger spätestens seit Sommer 1922 ihr Vertrauen ins Geld selbst und in die Geldpolitik des Staates. Der Marktpreis für 100 Kilogramm Kartoffeln lag in Bielefeld 1915 bei durchschnittlich 8 Mark, 1920 schon bei 66 Mark, 1922 bei 200 Mark – und 1923 bei 740 Millionen Papiermark (740 000 000!). Die Hundesteuer hatte 1915 exakt 11 675 Mark für die Stadtkasse eingebracht, 1922 bereits 297 000 Mark, 1923 dann sagenhafte 1,53 Mio. Papiermark. Dieses war nicht einem nennenswert ausgeweiteten Besitz an privaten Vierläufern zuzuschreiben, sondern allein der massiven Geldentwertung. Der jährliche städtische Haushaltsabschlussplan wies auf seinem Höhepunkt 1,334 Milliarden Mark Einnahmen aus – 1915 waren es noch 5,68 Millionen Mark gewesen. Die Umsätze der Kämmereikasse lagen 1923 bei astronomischen neunhundertfünfundfünfzig Billiarden fünfhundertfünf Billionen dreihundertneunundfünfzig Milliarden vierhundertsechsundsechzig Millionen siebenhundertzwölftausendfünfhundertdreiundsechzig Papiermark (955 505 359 466 712 563). Wenn der heutigen Leserschaft schon schwindelig wird, dann der damaligen Verwaltung und Bevölkerung wohl erst recht. Was war geschehen?

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Plakat für die 9. und letzte Kriegsanleihe ab September 1918, 1918; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,9/Plakate, 3097

Das wilhelminische Deutsche Reich hatte den Weltkrieg zu 60 % mit Kriegsanleihen finanziert und patriotisch-siegesgewisse Zeichner mit Renditeaussichten aus den erwarteten Reparationen der Kriegsgegner geködert. Allein bei der Stadt-Sparkasse hatten die Bielefelder die neun aufgelegten Kriegsanleihen mit insgesamt 33,9 Millionen Mark gezeichnet. Der Krieg und damit auch Geld und Gewinnerwartungen gingen jedoch verloren, so dass der Staat mit fortschreitender Geldentwertung die Kriegsanleihen mit Leichtigkeit zurückzahlen konnte. Deutschland war bis Sommer 1922 für ausländische Kapitalgeber interessant, zumal die Weltwirtschaft insgesamt schwächelte.

Die staatliche Geldausgabe war aber bereits 1914 schrittweise von den Goldreserven abgekoppelt worden, so dass der Wert der deutschen Mark sich bis 1918 halbierte. Danach fiel die Entwicklung in den Trab, ging in den langsamen, schließlich in den gestreckten Galopp über, um immer neue Anleihen zu finanzieren, die vor allem den Schuldendienst, aber auch die Demobilmachung, Lebensmittelsubventionen und die Kriegsopferfürsorge bedienen sollten. Wo in Kriegszeiten eine regulative Geldpolitik noch eine ungezügelte Entwicklung der Verbraucherpreise und den Verfall der Kaufkraft bremsen konnte, fand der Staat zunächst keine Mittel, um die stürmische Vermehrung von Buchgeld und Bargeld einzuhegen, ja er heizte sie im Gegenteil sogar an. Zwischen Steuerveranlagung und tatsächlicher -entrichtung trat ein sich stetig verkürzender Zeitraum massiven Währungsverfalls ein. Haushaltsfehlbeträge machten neue Kredite notwendig, der Geldumlauf vermehrte sich, die Nachfrage stieg bei stagnierendem Angebot, Preise zogen an. Statt auf Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen setzten Regierung und Reichsbank auf die Notenpresse – eine fatale Fehlentscheidung.

Nachdem Deutschland Ende 1922 die im Versailler Vertrag zugesagten Reparationen nicht mehr in Devisen oder Wirtschaftsgütern bezahlen konnte, besetzte Frankreich im Januar 1923 das Ruhrgebiet. Den Ruhrkampf führten Wirtschaft und Verwaltung in Form des von der Reichsregierung ausgerufenen passiven Widerstands. Die Generalstreiks wurden durch weitere Geldschöpfung finanziert, um Lohnfortzahlungen zu sichern. Die Notenpresse produzierte auf Hochtouren und noch darüber hinaus, die Hyperinflation bahnte sich an. Der Geldumlauf im Reich erreichte bereits im August 1923 ein Volumen von 663 Billionen Mark, die Schatzanweisungen des Reiches beliefen sich im November 1923 auf abenteuerliche 192 Trillionen Mark. Ausländische Anleger hatten bis dahin die Reichsbanknoten längst nicht mehr akzeptiert, so dass auswärtige Investitionen versiegten.

Folgen für die Bielefelder

Die alltäglichen Folgen und Sorgen trafen in erster Linie die Bevölkerung, aber auch die Kommunalverwaltungen selbst: Was ist heute ausgezahltes Geld morgen wert? Wie lege ich es möglichst schnell, halbwegs sinnvoll und vor allem wertbeständig an? Gibt es adäquate Waren – wer bietet diese an, wer nimmt Geld überhaupt noch an? Zeitungsanzeigen mit konkreten Preisangaben suchte man seit Ende Mai 1923 vergebens, als zuletzt das Kaufhaus Tatenhorst in der Arndtstraße vor allem Emaillewaren angeboten hatte, darunter Gewürzdosen für 500 Mark. Staatliche Behörden gingen dazu über, Richtpreise für Brennstoffe oder Grundnahrungsmittel nicht mehr wöchentlich oder täglich zu veröffentlichen, sondern, wenn überhaupt, stündlich. Löhne wurden ballenweise und bald täglich ausgezahlt, der Einkauf aus größeren Behältnissen bezahlt anstatt aus der üblichen Geldbörse. Allein Preislisten für Straßenbahntickets und Porto wurden inseriert. Am 2. Oktober 1923 bat die seit 1890 erscheinende sozialdemokratische Volkswacht ihre Abonnenten, für die erste (also eine) Bezugswoche den Zeitungsträgerinnen 20 Millionen Mark auszuhändigen, am 13. November 1923 setzten die Volkswacht, die Westfälische Zeitung und die Westfälischen Neuesten Nachrichten den Wochenpreis einheitlich auf 100 Milliarden Mark fest.

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Die Dürkopp-Werke, 1920; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-37-19

In Bielefeld legte die Belegschaft der Dürkoppwerke am 13. November 1923 die Arbeit nieder, was nichts mehr mit dem Ruhrkampf zu tun hatte, sondern mit den angesichts der Krise unbefriedigenden Ergebnissen der Lohn- und Tarifverhandlungen einschließlich des Schlichterspruchs. Die Unternehmensleitung reagierte auf die wilden Streiks von mehr als 10.000 Arbeitern mit Aussperrungen, die die Familien in noch größere Schwierigkeiten stürzte. Die Bevölkerung zeigte sich solidarisch und auch Unternehmer waren spendabel, um die Not zu lindern. Der Arbeitskampf endete nach drei Wochen – 1.000 Streikende wurden jedoch nicht wiedereingestellt.

Begleitet wurde die reichsweite wirtschaftlich-monetäre Talfahrt von den politischen Ereignissen. Der Liberale Gustav Stresemann (DVP) hatte Mitte August seinen Parteifreund August Wilhelm Cuno als Reichskanzler abgelöst und den passiven Widerstand im Ruhrgebiet Ende September abgebrochen. Daraufhin startete Gustav von Kahr am 20. Oktober 1923 in Bayern einen Separationsversuch vom Reich. Am 21./22. Oktober wurde in Aachen und Koblenz sowie in Duisburg die „Rheinische Republik“ ausgerufen. Am nächsten Tag scheiterte in Hamburg ein kommunistischer Aufstand blutig und am 9. November 1923 in München der Putschversuch des Ex-Generals und Dolchstoßlegenden-Mitinitiators Erich Ludendorff und des bis dahin noch weitgehend unbekannten Adolf Hitler und der NSDAP, die seit 1923 in Bielefeld über eine kleine Ortsgruppe verfügte.

Stimmen zur Inflation

Da die Tageszeitungen selten die unmittelbaren Wirkungen der Inflation auf Stadt und Gesellschaft kommentieren oder illustrativ schildern und Leserbriefe nicht üblich waren oder nicht direkt die Lebensverhältnisse beleuchteten, ermöglichen vor allem Korrespondenzen und Tagebücher Einblicke in die Lebensverhältnisse und Stimmungen der Zeitgenossen.

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Schon am 11. August 1923 gab die Landesbank Westfalen einen 1-Billion-Schein heraus; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,12/Münzen und Papiergeld

„Unruhiger Tag. Müde. Zum 1. Male wertbeständiges Geld,“, trug der am Ratsgymnasium unterrichtende Lehrer Hermann Petri (1859-1946) in sein ungewöhnlich arrangiertes Tagebuch am 16. November 1923 ein. Seine Notizen tätigte er zwar Tag für Tag, ordnete diese aber nicht chronologisch durchgängig an, sondern z. B. nur den 16. November gleich eines ganzen Jahrzehnts auf derselben Seite. Hermann Petri fasste sich stets kurz: 30. Oktober 1923: „vergebl[ich]. Geld zu beschaffen versucht.“; 1. November „vergebl. auf d. Kartoffeln gewartet. Geld über 1 Billion!!“.

Deutlich mitteilsamer war Wilhelm Huber (1869-1941), ein Sohn des früheren Oberbürgermeisters Ludwig Huber (1826-1905). Huber jun. war von 1901 bis 1919 Teilhaber der Firma A. W. Kisker in Bielefeld, danach bis 1937 Vorstandsmitglied der Bielefelder Aktiengesellschaft für Mechanische Weberei. Am 15. Oktober 1923 schrieb er in sein Tagebuch: „Das Gesetz über die neue ´Rentenmark´, die der Vorläufer der Goldwährung werden soll, ist herausgekommen. Viel Vertrauen bringt man dem neuen Zahlungsmittel vorläufig nicht entgegen.“; 22. Oktober 1923: „Unter dem Eindruck der hoffnungslosen Verhältnisse ist der Dollar auf 40 Milliarden gestiegen. Das Papiergeld entwertet den Leuten und einem selbst in der Hand. Es kann eigentlich nur noch eine Frage von Tagen sein, daß die Papiermark auch im Inland nicht mehr genommen wird.“; 23. Oktober 1923: „´Die Toten reiten schnell.´ Kann man von der Papiermark auch sagen. […]. Allerdings wird vielen jetzt erst […] zum Bewußtsein kommen, wie arm sie geworden sind.“; 15. November 1923: „Das Währungselend wird immer größer. Nachdem man wochenlang wieder den Dollarkurs künstlich niedrig gehalten hat, verfolgt man plötzlich wieder eine andere Politik. In wenigen Tagen hat man den Dollar auf 2 1/2 Billionen steigen lassen. Die Folge ist, daß kein Mensch mehr gegen Papiermark verkaufen will: Die neue Rentenmark sollte heute kommen. Zu welchem Kurse sie über die Papiermark eröffnen soll, weiß kein Mensch. Stresemanns Stellung kommt immer mehr ins Wackeln. Wer kann und will aber Nachfolger sein.“

Der gebürtige Bielefelder Adolf Bunte (1901-1945) war zunächst als Kassierer, spätestens seit März 1939 als Prokurist bei der 1872 gegründeten Leinen- und Wäschefabrik Wilhelm Dieterle in der Wilhelmstraße 5-7 beschäftigt. Das Unternehmen für Aussteuerwäsche hatte noch 1922 ein Fertigungsgebäude aufgestockt, neue Maschinen beschafft und beschäftigte u. a. 60 bis 80 Näherinnen. Buntes umfangreiche und noch nicht umfänglich ausgewerteten Tagebücher bewerten auch politisch-wirtschaftliche Verhältnisse und Stimmungen. Der 2. Oktober 1923, so Bunte, „bringt wieder wahnsinnige Arbeitslast. Fast täglich sind Löhne & Gehälter fällig, das Zählen & Sortieren der Geldmassen ist fürchterlich. Die Zahlen schwellen ins Unendliche, die Abrechnungen mit den Fabrikanten gehen ins Uferlose.“

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Adolf Bunte (1901-1945) vertraute seinem Tagebuch Privates und Zeitgenössisches an; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,146/Nachlass Adolf Bunte, Nr. 12

Bunte pflegte einen Freundeskreis, an den er hohe, wenn nicht gar übertrieben erscheinende Bildungs- und Kulturideale anlegte. Die Gruppe fand sich für informelle Leseabende als Eichendorffbund, dann als Siegfriedbund zusammen. Der privat organisierte, öffentlich nicht wahrgenommene Siegfriedbund hatte sich seit dem 26. März 1923 jeden Mittwoch dem gemeinsamen Lesen von Literatur gewidmet. Zum Auftakt war statt der erhofften zwölf Frauen und Männer nur die Hälfte gekommen, um den verabredeten „Zyklus“ mit Richard Wagners „Walküre“ zu beginnen. Im Herbst 1923 diagnostizierte der literatur- und theaterbegeisterte Bunte bei sich eine „seelische Krise“ und beendete am 2. Oktober 1923, erneut voller Selbstzweifel, abrupt seine kulturellen Vernetzungen: „Der Abschied von der bisherigen Kunsttätigkeit fällt mir leicht, sie war keine Herzenssache mehr. Ich sehe im Beruf eine hohe Aufgabe & stelle mein Wirken und Wollen auf den Pflichtmenschen ein, der nicht das flatternde Panier des Ideals schwingt & als Führer auf den Höhen schreitet, sondern in treuer, zäher Pionierarbeit sein Genügen findet, innerlich durchdrungen & tief befriedigt. Ob diese Entwicklung von Dauer sein kann, ist bei meiner Natur mehr als zweifelhaft.“ Nach Gesprächen mit Kultur-Mitstreitern stellte er fest, dass „u[n]s.[er Brudertum“ beendet sei: „Der Siegfriedbund ist aufgelöst, die reproduktive Epoche oder besser Nachepoche ein für allemal zu Ende!“.

Buntes selbst auferlegte Abkehr von Kunst und Kultur war offensichtlich von den wirtschaftlichen Verhältnissen motiviert. Die Seitenüberschrift im Tagebuch lautet „Die Auflösung des letzten Künstlerbundes“ – wohlgemerkt war Bunte zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 22 Jahre alt. Die erklärte vollkommene Hinwendung zu Arbeit und Verantwortung dürfte aber auch durch die geplante Verlobung mit Elisabeth Masanek (1902-1972) forciert worden zu sein, denn mit Kultur allein konnte eine noch so liebevolle Ehe materiell kaum zu sichern gewesen zu sein. Am 15. Oktober 1923 machte er seiner Elisabeth den Verlobungsantrag, am 1. Weihnachtstag fand die Verlobung statt, im Oktober 1926 wurde geheiratet.

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Alle Waren, nicht nur Eier, waren vom nominellen Preisanstieg betroffen; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V, Nr. 524

Am 2. November 1923 schrieb der in Dieterles Lohnbüro tätige Bunte: „Wird morgens in wüster Hast gelöhnt, $ vorbörslich 425 Md! Kux & ich erstehen noch für 599 Md einen Satz Aluminiumtöpfe […].“; 3. November 1923: „Meine Tätigkeit macht mich überaus nervös & gereizt, oft sogar brutal gegen andere Mitarbeiter.“ – war dieses Verhalten vielleicht eine Frustrationsfolge des selbsterklärten Kulturverzichts?; 8. November 1923: „Billionensturm! L & Müller kaufen für 7,238 000 000 000– M bei Binarsch ein Alpaca-Eßbesteck (4 x ½ Dtz).“; 15. November 1923: „gehen wieder Hunderte von Billionen ein. Kux & ich kaufen zum Kurse von 1260 Md (Goldmark 300 Md) ein: Bei Adlers Vertrieb, Kempe, Buddeberg (2 Wolldecken, 8 m Läufer, schlappe 62 400 000 000 000 M zur Kasse), Küster usw. Nur 20 Minuten zu Haus, dann Löhnung.“ 1919 hatte Dieterle monatlich etwa 44.000 Mark an Löhnen ausgezahlt, im Oktober 1923 waren es 13 657 093 856 000 Mark, also 13,6 Billionen Mark. Bunte selbst hatte im Januar 1923 noch 87 704 Mark verdient, im Oktober 343 993 100 000, also knapp 344 Milliarden Mark.

Weitere Inflationsfolgen

Adolf Buntes Zeilen deuten auch die atemlose Getriebenheit der Konsumenten an, ausgezahltes Geld schnellstmöglich vollständig in Waren umzusetzen, an deren Beschaffung möglicherweise vorher nicht gedacht war. Einkäufe jenseits des Tagesbedarfs wurden allein aus dem Antrieb getätigt, den schon für den Folgetag erwarteten rasanten Kursverfall zu minimieren, natürlich im Wissen, das auch an jenem Tag wieder eilig Geld auszugeben war – von einem Einkaufsbummel konnte kaum die Rede sein. Um die kontinuierlich hohe Nachfrage zu decken, mussten die Schaufenster und Ladentheken am Ausgabetag hinreichend Ware bieten, die entweder halbwegs wertbeständig oder Verbrauchsgut war. Die gesamte Bevölkerung war betroffen, musste rechtzeitig ihre Arbeitsstelle verlassen, bevor die Regale leer waren oder Geschäfte geschlossen.

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Kinderkarussell auf dem Kesselbrink, ca. 1935; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 56-2-78

Die Krise schrumpfte nicht nur in den Schaufenstern das Angebot, sondern auch an unerwarteter Stelle. Die Oktoberkirmes auf dem Kesselbrink war laut der Westfälischen Zeitung vom 24. Oktober 1923 zwar erstaunlich gut besucht, aber „nur noch der Schatten einer Kirmes aus wertbeständigen Tagen“. Moderne, jedoch betriebskostenintensive Dampfkarussells suchte man vergebens: „Dafür sah man ein mit Menschenkraft getriebenes Karussell. Die Kirmesbesucher fanden sich mit diesem zeitgemäßen Rückschritt mit Vergnügen ab.“ Die Vokabel „wertbeständig“ war das Schlüsselwort der Stunde, das in Artikel aus der Reichspolitik, aber auch in die Lokalberichterstattung Eingang fand.

Unter diesen schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen stieg übrigens auch die Kriminalität deutlich an. 1923 registrierte die Sicherheits- und Ordnungspolizei 1.047 Inhaftierungen, 1918 waren es noch 497 gewesen. Während hier ein Anstieg um 110,66 % eintrat, war die Bevölkerungszahl nur um 5,39 % auf 84.752 gewachsen. Anzunehmen ist, dass krisentypische Delikte wie Diebstahl, Betteln und Wucher zunahmen, jedoch sind keine detaillierten Statistiken überliefert. Zahlen der Verurteilten auf Reichsebene bestätigen den Anstieg von 1922 zu 1923, liefern aber keine Hinweise zu Betteln (was wohl eher eine Ordnungswidrigkeit war) und Wucherei: einfacher Diebstahl + 47,65 %, schwerer Diebstahl + 45,56 %.

Bezahlt werden konnte lokal auch mit dem von der Stadt-Sparkasse seit 1914 herausgegebenen Notgeld. Örtliche Kunstschaffende illustrierten die Scheine mit raffiniert und variantenreich gestalteten Motiven aus Stadtgeschichte und -anekdoten, garniert mit heute teils rätselhaft erscheinenden Sinnsprüchen, die die Zeitgenossen aber verstanden. Der höchste Bielefelder Nennwert betrug 10 Billionen Mark, wobei der Schein auf den 15. Dezember 1922 datiert war, was entweder ausgesprochen hellsichtig war oder schlichtweg fehlerhaft ist. Was dem Bielefelder Notgeld freilich fehlte, war die essentielle Wertbeständigkeit – so war es letztlich vor allem ein Sammelobjekt.

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Mit einem Nennwert von 10 Billionen Mark erreichte die Notgeld-Ausgabe der Stadt-Sparkasse Bielefeld ihren Höhepunkt; aus: Gerke, Günter, Das Geld der mageren Jahre – als alle Milliardäre waren. Bielefelder Notgeld 1917-1924, Bielefeld 1998, S. 170

Inmitten der Krise schlug der für die städtischen Finanzen zuständige Bürgermeister, heute würde er als Kämmerer bezeichnet, Josef Köllner (1872-1951) Oberbürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst (1865-1944) eine Ausweitung der Notgeld-Menge vor, also die örtliche Notenpresse bei Gundlach weiter anzukurbeln. Hintergrund war offensichtlich eine Mitteilung der Landesbank der Provinz Westfalen vom 16. November 1923, die den Bedarf nicht decken konnte und die Kommunen zur fortgesetzten Emittierung wertbeständigen (!) Notgelds aufrief. Köllner bilanzierte: „Durch die katastrophale Geldentwertung kommt die Stadt in ernste finanzielle Schwierigkeiten. Billionenbeträge werden jetzt schon fast täglich angefordert, deren Beschaffung nur mit größten Schwierigkeiten möglich ist.“ In Billionenhöhe erhobene Nachsteuern, die den Fehlbetrag im städtischen Haushalt decken sollten, wurden durch den rapiden Währungszerfall innerhalb weniger Tage aufgezehrt. Da Personalkosten kaum zu reduzieren, Anleihen nicht aufzunehmen und Steuern nicht mehr zu erhöhen waren, regte er an „die Inflation, die Ursache unserer grossen Ausgaben, zur Geldbeschaffung für die Stadt zu benutzen und zwar mit Hilfe unseres Notgeldes.“ Das Notgeld werde nach Bedarf produziert, um eben diesen Bedarf zu decken – „Die Stadt hat dadurch billiges Geld, das in irgend einer Weise doch wieder beschafft werden muss.“ Es winkten „Riesenbeträge“, wenn die Stadt das hergestellte Geld wertbeständig anlege.

Köllner schien dabei an den städtischen Wohnungsbau gedacht zu haben, denn es „bieten unsere städtischen Häuser allein Deckung genug für einige Hundert Billionen Mark.“ Es bleibt unklar, ob Köllners Vorschlag in irgendeiner Form weiterverfolgt wurde, in den städtischen Verwaltungsberichten wird er nicht erwähnt und die dort gelisteten ausgeführten Wohnungsbauten 1923 waren zwar deutlich mehr als im Vorjahr, jedoch ist kaum anzunehmen, dass von Köllners Vorschlag Mitte Oktober an bis Jahresende derart viele Neubauten projektiert und vor allem abgeschlossen werden konnten.

Bis Mitte Dezember 1923 stabilisierten sich die Verhältnisse. Pathetisch-idealistische und damit für ihn nicht ungewöhnliche Zeilen lieferte Adolf Bunte am 18. Dezember 1923 kurz vor seiner Verlobung. Die Vorbilder seiner Gedankengänge könnten aus Strömungen der Jugendbewegung stammen. Sie enthielten zwischen der Mitteilung, die literarischen Lesungen wiederaufzunehmen, und banalen Notizen eine deutliche Kapitalismus- und Gesellschaftskritik: „Der Stillstand der Geldentwertung, das Aufhören der astronomischen Zahlen hat ins menschliche Leben nicht nur Ruhe & Stetigkeit, sondern auch eine gewisse Zuversicht & neuen Mut gebracht. Die Reaktion gegen die Welle des Mammonismus & gegen das Zeitalter der Veräußerlichung bereitet sich vor! – Die Stabilisierung der Mark bewirkt auch den Fortfall der Risikoprämien & damit starke Preisstürze auf alle Gebieten. – L. [seine Freundin Elisabeth] bäckt nachmittags bei Hanna Plätzchen […].“ Es bleibt noch undeutlich, ob Bunte, der evangelisch war, ein religiöser, politischer, jugendbewegter oder anderer Impetus zu derartigen Wertungen antrieb. Ein Antisemitismus kann aus diesen Zeilen nicht abgeleitet werden, auch wenn der Mammonismus-Begriff gerade von NSDAP-Apologeten wie Gottfried Feder (1883-1941) judenfeindlich verwendet wurde. Auffällig ist, dass zehn der 17 „Mammonismus“-Erwähnungen in Bielefelder Zeitungen 1923 im „Aufwärts“ erschienen, der in Bethel als Organ der von Bodelschwinghschen Stiftungen herausgegeben wurde.

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Wilhelm Huber (1869-1941); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,149/Familienarchiv Huber, Nr. 9

Mit bilanzierender Zuversicht schrieb ein privat beschwingter Bunte, der in Bielefeld ein weitgehend verborgenes Leben führte, zum Jahresende im inzwischen vertrauten Stil: „1923 ist das Jahr, welche die letzten Freundschaften aus alter Zeit begräbt […]. Und ein Neues hat begonnen: Die rechte Liebe und innige Kameradschaft zwischen Mann & Weib. Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!“ Etwas weniger Pathos zeigte Wilhelm Huber, der am 10. November 1923 nach Gesprächen mit Rohstofflieferanten in Berlin wegen des Garn- und Baumwollmangels noch angemerkt hatte, „wir ersticken im Papiergeld“ und am 10. Dezember 1923 bei Geschäftspartnern „starke Depression im Hinblick auf die Zukunft“, gleichzeitig aber auch eine „Besserung der Geldverhältnisse“ und Preissenkungen ausgemacht hatte: „Die Sylvester-Glocken läuten das alte Jahr zu Grabe und mit ihm all dies Sorgen und Nöte, die es uns gebracht hat. Und doch, wie haben uns gerade die letzten Tage, das frohe Zusammensein in Gesundheit mit unseren Kindern gezeigt, wie viel zu danken ist. Kleine Zeichen des Beginns einer Genesung sind ja auch in Volks-  und Wirtschafts-Leben zu erkennen. Schenke Gott dem Vaterlande und uns innerlich und äußerlich einen weiteren Aufstieg im neuen Jahre.“

Die am 15. November 1923 eingeführte Rentenmark stoppte die Hyperinflation – man sprach vom „Wunder der Rentenmark“. Der in Bad Oeynhausen geborene spätere Journalist Rudolf Pörtner (1912-2001), der das Bielefelder Ratsgymnasium besucht hatte, schrieb: „Als mein Vater mit dem ersten wertbeständigen Zahlungsmittel heimkehrte, traten wir zur Besichtigung einer säkularen Kostbarkeit an, und es verschlug uns fast den Atem, als wir die erste Rentenmark zunächst beäugen, dann sogar wie eine wundertätige Reliquie in die Hand nehmen durften.“

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V, Nr. 524: Eier-, Wild- u. a. Preise, 1922-1924
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V, Nr. 528: Kartoffelhandel und -erzeugnisse, 1922-1923
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,7/Geschäftsstelle VII, Nr. 151: Geldmarkt, Notgeld, Effekten, Wertpapiere, 1918-1927
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,119/Familienarchiv Petri, Nr. 6: Tagebuch Hermann Petri, 1920-1929
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,146/Nachlass Adolf Bunte, Nr. 3: Tagebuch 1923-1924
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,146/Nachlass Adolf Bunte, Nr. 12: Ausweise des Adolf und der Elisabeth Bunte, Porträt des Adolf Bunte, 1935-1937, 1977
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,149/Familienarchiv Huber, Nr. 9: Fotoalbum „Familie Huber: Die Vorfahren in Bildern“, 1962-1967
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,149/Familienarchiv Huber, Nr. 22: Tagebuch Wilhelm Huber, 1922-1924
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 10.1923 u. 16.11.1923
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 56-2-78: Kinderkarussell auf der Kirmes am Kesselbrink, ca. 1935; Nr. 31-37-19: Firmengebäude Dürkopp, ca. 1920
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,9/Plakate, Nr. 3057: Der 9. Pfeil – zeichnet Kriegsanleihe, 1918
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,12/Münzen und Papiergeld: 1 Billion-Schein der Landesbank Westfalen; 5.000/5 Milliarden-Schein der Reichsbank

Literatur

  • Dieterle, Hans Werner, Gebr. Dieterle Leinenwaren und Wäschefabrik Bielefeld 1872-1947. 75 Jahre Arbeit und Aufbau, Bielefeld 1947
  • Franzmann, Gabriele, Kriminalitätsstatistik des Deutschen Reichs 1882-1936. Abgeurteilte nach Deliktarten, Häufigkeit einzelner Straftaten, verhängte Strafen, 2016 (GESIS Datenarchiv, Köln, https://doi.org/10.4232/1.12453; Anmeldung erforderlich; Stand 30.10.2023)
  • Gerke, Günter, Das Geld der mageren Jahre – als alle Milliardäre waren. Bielefelder Notgeld 1917-1924, Bielefeld 1998
  • Gessner, Dieter, Die Weimarer Republik, Darmstadt 2002
  • Jahresberichte über den Stand der Verwaltung und die Verwaltung der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt für die Jahre 1915-1925, (maschsch.) Bielefeld 1926
  • Jones, Mark, 1923 – Ein deutsches Trauma, Berlin 2022
  • Kaleschke, Christoph, „Der Ruf nach Zahlmitteln will nicht enden …“. Zur Rolle der Sparkassen in der deutschen Inflation 1914-1923, in: Harald Wixforth (Hg.), Sparkassen in Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Jahrbuch der Gesellschaft für mitteleuropäische Banken- und Sparkassengeschichte/Geld und Kapital, Bd. 2), Wien 1998, S. 159-184
  • , Fluch oder Segen? Das Bielefelder Notgeld als Instrument der Krisenintervention 1917-1924, in: Westfälische Forschungen 67 (2017), S. 163-215
  • Kluge, Ulrich, Die Weimarer Republik, Paderborn/München/Wien/Zürich, 2006
  • Pörtner, Rudolf (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Düsseldorf 1990
  • Pörtner, Rudolf jun./Irene Steffen, Zum deutschen Haus – Eine Kindheit und Jugend bis 1933, Tübingen 2013
  • Reichel, Peter, Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923, München 2022
  • Stocker, Frank, Die Inflation von 1923 – Wie es zur größten deutschen Geldkatastrophe kam, München 2022
  • Teupe, Sebastian, Zeit des Geldes. Die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923, Frankfurt am Main 2022
  • Ulrich, Volker, Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022
  • Vogelsang, Reinhard, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005
  • Wallwitz, Georg von, Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war, Berlin 2021

Erstveröffentlichung: 01.11.2023

Rath, Jochen, 15. November 1923: Die Rentenmark soll die Inflation beenden – Bielefelder Stimmen,  https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2023/11/01/01112023/

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