26. März 1897: Geburtstag von Dr. Rudolf Nierhoff, Oberbürgermeister Bielefelds 1961-1962

•  Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld • 

 

Dass ihm als Oberbürgermeister verabredungsgemäß nur eine kurze Amtszeit beschieden war, dürfte wohl der eigentliche Grund dafür sein, dass Dr. Rudolf Nierhoff (1897-1988) nicht auf Anhieb als ehemaliges Stadtoberhaupt Bielefelds genannt wird. Seine Wahl 1961 war Ergebnis einer außergewöhnlichen politischen Konsensfähigkeit und pragmatischen Lösungsorientierung in der Bielefelder Politik. In seine kurze Amtsperiode vom 12. April 1961 bis zum 9. Januar 1963 fielen Entscheidungen und wurden Entwicklungen angebahnt, die für die Stadt bis heute relevant sind. Die wichtigste dürfte wohl die Interessenbekundung Bielefelds als Standort für eine neue Universität sein, die freilich erst 1969 eröffnet werden sollte.

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Dr. Rudolf Nierhoff (1897-1988); Foto, ca. 1965; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-14-38

Familie, Studium und Beruf

Geboren wurde Friedrich Rudolf Ludwig Nierhoff am 26. März 1897 in Bielefeld als Sohn des Oberlehrers Dr. Emil Carl Friedrich Arnold Nierhoff (1855-1928), der am Ratsgymnasium unterrichtete, als Nationalliberaler von 1905 bis 1910 Stadtverordneter und anschließend bis 1919 Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung war, und der Marie Wilhelmine Nierhoff geb. Banning (1862-1919). Aus Rudolf Nierhoffs am 7. August 1928 in Bielefeld mit Grete Luise Fanny Selma Nierhoff geb. Heidsiek (1906-1998), Tochter eines Rechtsanwalts und Notars, geschlossenen Ehe gingen zwei Töchter hervor sowie 1935 ein totgeborener Sohn. Über seine Schwester Clara Helene Dorothee (1899-1988) war Nierhoff seit 1919 mit dem späteren SS-Obergruppenführer und SS-General Karl Pfeffer-Wildenbruch (1888-1971) verschwägert.

Nach dem Volksschulbesuch wechselte Nierhoff Ostern 1906 an das Bielefelder Ratsgymnasium, an dem der Vater unterrichtete, und rückte unmittelbar nach Ablegen der Reifeprüfung (4. Juni 1915) zur Armee ein. 1916 erhielt er als Vizewachtmeister im Feldartillerie-Regiment 22 das Eiserne Kreuz II. Klasse, 1918 als Leutnant derselben Einheit das EK I. Klasse, wurde aber im September beim Marne-Übergang schwer verwundet.

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Ratsgymnasium Bielefeld; Foto: Ernst Lohöfener, 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 24-210-1

Nach Kriegsende studierte Nierhoff in Münster, Heidelberg und Göttingen Jura. Als Student veröffentlichte er im Januar 1922 im „Unterhaltungsblatt der Westfälischen Zeitung“ eine dreiteilige Artikelserie über diese Universitätsstädte und offenbarte literarisches Talent, das er aber nicht weiterentwickelte. Aus Heidelberg berichtete er: „Feindlich, wie es bei aller unsere Not Mode ist, ohne Verständnis für die gegenseitige Psyche, stehen sich auch hier Arbeiter und Student gegenüber“. Nierhoff erkannte in Heidelberg eine wohl einzigartige „Gegensätzlichkeit und Zerrissenheit“ in der Studentenschaft. Der Studentenausschuss habe sich seit der Revolution 1918 politisiert, war aber dominiert von Vertretern der Korporationen und zugewandten freien Studenten, „die einen stark ausgeprägten nationalen Gedanken vertraten und meist in der alten Zeit auch die sahen, die die Einigkeit und die Stärke Deutschlands am besten zur Entwicklung gebracht hatten.“ Dem gegenüber stand eine kleine Gruppe der „sogenannten freien Hochschulgemeinde“, die Nierhoff als politisch „ausgesprochen demokratisch“ bezeichnete. Nierhoff selbst war Ausschussmitglied, dürfte aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der Verbindung „Leonensia“ dem konservativen Teil angehört haben.

Göttingen dagegen wirkte auf ihn geradezu langweilig: „Göttingen ist und ist immer nur Universität gewesen. […] Und auch die Stadt lebte immer in demselben Pulsschlag weiter.“ Das abschließende Bismarck-Loblied belegt Nierhoffs zeitlebens beibehaltene konservative Haltung: „Genius […], der Deutschland das Erwachen und die Einigung brachte“ – ein „Führer zur Größe“. Die Bewertungen Münsters waren eher unpolitisch, freundlich zu Architektur und Umland (Radfahren!), kritisch zur Hochschule: „Der Universität selbst, der Verwaltung, der Dozentenschaft, haftet etwas Schwerfälliges, wenig Frisches an. Münster ist fast zu ernst, es fehlt die Tradition, die Schulung in studentischer Freude.“ Erst 1958 sollte ein Artikel „Cavete Münster! Elegie eines Nicht-Akklimatisierten“ im Semesterspiegel der Münsteraner Studentenschaft der Stadt insgesamt wieder eine Tristesse attestieren, die allerdings deutlich pointierter und ätzender ausfiel als Nierhoffs Universitäts-Kritik 1922.

Am 16. Dezember 1921 legte er in Göttingen die 1. und am 10. Dezember 1923 in Berlin die 2. Juristische Staatsprüfung ab. Im Dezember 1923 wurde er in Göttingen mit einer Dissertation über „Die Girozahlung“ promoviert. Von Dezember 1921 bis September 1924 arbeitete er am Kammergericht Berlin und an den Amtsgerichten in Gütersloh und Bielefeld als Gerichtsreferendar, von Januar bis März 1925 als Gerichtsassessor am Amtsgericht Bielefeld. Nach kurzzeitiger Tätigkeit als Hilfsarbeiter in der Kanzlei des Rechtsanwalts und Notars Dr. Wilhelm Meyer in Bielefeld führte er mit diesem ab September 1925 eine gemeinsame Kanzlei. Im April 1931 wurde Nierhoff Notar und gründete mit Dr. Dr. Paul Dieterle eine neue Kanzlei, die 1951 mit der Sozietät von Johannes („Hans“) Gromann vereinigt und später zur Sozietät Nierhoff – Gromann – von Zitzewitz wurde.

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Bielefeld von der Sparrenburg aus; Foto: Josef Hoppe, Dortmund, 1927; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 12-2-215

Politische Werdegänge: Vom patriotischen Studenten zur DNVP und zum „Stahlhelm“ zur NSDAP

Als junger Student veröffentlichte Nierhoff am 5. August 1921 unter dem Titel „Bielefelds Oktober-Eichen“ Gedanken über die Revolution von 1918: „Aufgepeitscht sind bei uns die Gegensätze durch die Revolution […]. Von vielen als Verbrechen gebrandmarkt, anderen als erlösende, rettende Tat gepriesen und wieder anderen als Schicksal, das Gutes und Böses brachte, genommen, liegt sie hinter uns und schuf in Anhängern und Gegnern getrennte Lager, die nicht die herbste Not schwer leidender, bitter kämpfender Heimatgenossen wieder zusammenführte. Das Ende des Jahres 1918 aber schafft kein Gott mehr aus der Welt, aber das Gift, mit dem die Revolution unseren Staat durchsetzt hat, sollten wir lösen und nicht aus ihrer Beurteilung immer neue Gegensätze holen.“

Nierhoff, dessen Vater ein Nationalliberaler mit entsprechend konservativer Haltung gewesen war, appellierte hier an eine Aussöhnung der seit November 1918 verfeindeten Lager in Deutschland, um – wie 1813 gegen Napoleon – dem äußeren Druck Frankreichs geschlossen zu begegnen, das aufgrund des Versailler Friedens u. a. vormals deutsche Gebiete erhalten hatte und auch das Rheinland besetzt hielt. Erst nach einer Konsolidierung der Kräfte können nach „vielen, vielen Jahren Völkerverbrüderung und Internationalismus kommen.“ Er glaubte zu erkennen, dass „auch die schlimmste Bedrückung die in uns liegenden Kräfte nicht hat töten können. Sie regen sich wieder und schaffen neues Leben.“ Das klingt noch nicht eindeutig nach Vorstellungen einer DNVP und schon gar nicht nach denen einer NSDAP, die im Februar 1920 in München gegründet worden war und erst 1925 in Bielefeld mit einer Ortsgruppe Fuß fassen sollte. Aber das Gefühl der inneren Zerrissenheit, äußeren Unterlegenheit und offenbaren Verwundbarkeit war genau der Nährboden, der viele Konservative 1933 die „Machtergreifung“ Hitlers und der NSDAP und die ausgerufene „nationale Erhebung“ in Deutschland begrüßen ließ.

Vor allem aber wies der Student Nierhoff 1921 die Schuld an den politisch-gesellschaftlichen Verwerfungen der Revolution von 1918 zu, erkannte sie jedoch nicht in den viel früheren Fehlentwicklungen des Kaiserreichs. Eine nationale Einigung als Abwehrreaktion gegen Kriegs- und Besatzungsfolgen konnte die politisch-gesellschaftlichen Fragmentierungen allenfalls vorübergehend überdecken, so wie 1914 (Kaiser Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“). Oder aber zum Fundament einer Diktatur werden. Als Basis für einen dauerhaften Konsens konnten sie nur konservativ-nationalistische Kräfte erkennen, die sich u. a. in der DNVP versammelten und eine Wiederherstellung von Monarchie und Preußentum propagierten.

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Hitlerjugend umlagert das früher vor dem Rathaus am Niederwall befindliche Bismarck-Denkmal, während ein an seiner Mütze erkennbarer Ratsgymnasiast vorbeigeht; Foto: 1936; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 91-5-49

Am 1. Februar 1936 beantragte Nierhoff, der im Entnazifizierungsverfahren nach dem Zweiten Weltkrieg angab, vor 1933 der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) angehört zu haben, die Aufnahme in die NSDAP. Die NSDAP-Mitgliederkartei hält einen Eintritt am 1. April 1936 fest, wiewohl bis 1937/39 eine Aufnahmesperre bestand. Das Aufnahmedatum und die Mitgliedsnummer 3754683 weisen Nierhoff aber als ehemaliges „Stahlhelm“-Mitglied aus, denn die NSDAP-Reichsleitung hatte für diese Beitrittskandidatengruppe einen entsprechenden Nummernblock reserviert. Der Ende 1918 gegründete „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ gab sich zwar überparteilich, war tatsächlich aber ein demokratiefeindlicher Wehrverband, der die Weimarer Republik ablehnte und auch jüdischen Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs die Aufnahme verweigerte. Der Verband war an den Strukturen der Kaiserzeit orientiert und stand folglich der DNVP nahe. Laut seiner Entnazifizierungsakte gehörte Nierhoff von Ende Dezember 1932 bis zu dessen Auflösung 1935 dem „Stahlhelm“ an, was ihn gerade so für eine Aufnahme qualifizierte, denn Voraussetzung für einen Beitritt war eine „Stahlhelm“-Mitgliedschaft vor dem 30. Januar 1933 bis zu dessen Auflösung. Eine Selbstverständlichkeit war die NSDAP-Aufnahme freilich nicht, denn „Stahlhelmer“ mussten eine Bewerbung abgeben, die von Parteiinstanzen geprüft und gelegentlich auch abgelehnt wurde.

Im Entnazifizierungsverfahren wurden folgende weitere Mitgliedschaften Nierhoffs in Gliederungen der NSDAP festgehalten: NS-Kriegsopferversorgung (ab 1933), NS-Rechtswahrerbund (ab 1933) und Nationalsozialistischer Altherrenbund der Deutschen Studenten (ohne Zeiten). Eigenen Angaben zufolge leitete er die NS-Rechtsbetreuungsstelle in Bielefeld und war Fachschaftsberater für Rechtsanwälte, was jeweils keine Parteiämter waren. Von Mai 1943 bis September 1945 war Nierhoff, der zuvor die v. Bodelschwinghschen Anstalten (heute Stiftungen) und das Ev. Johanneswerk gerichtlich vertreten hatte, beauftragter Richter am Landgericht Arnsberg. Ab November 1934 soll der evangelisch-reformierte Nierhoff mit seiner Ehefrau der Bekennenden Kirche zugehörig gewesen sein und war Presbyter und stellvertretender Kirchmeister der Evangelisch-reformierten Gemeinde Bielefeld.

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„Männer mit Weitblick“: Nierhoff und Helmut von Bockelberg (1911-1996), der Spitzenkandidat der Kreis-CDU war; CDU-Wahlbroschüre, 1961; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Westermann-Sammlung, Nr. 122

Auf dem Weg ins Bielefelder Rathaus

Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es bis 1952, ehe Nierhoff wieder einer Partei beitrat. Für die CDU, der er bis zu seinem Tod angehören sollte, saß Nierhoff vom 9. November 1952 bis zum 9. November 1969 im Stadtrat Bielefelds, bekleidete ab dem 24. November 1952 das Ehrenamt des 2. Bürgermeisters und ab dem 7. November 1956 das des 1. stellvertretenden Bürgermeisters, welches er bis zum 12. April 1961 innehatte. 1958 kandidierte er erfolglos für den Landtag NRW.

Anfang 1961 erklärte Bielefelds Oberbürgermeister Artur Ladebeck (1891-1963) aus gesundheitlichen Gründen, nach der Kommunalwahl im Frühjahr nicht mehr kandidieren zu wollen. Mit diesem Verzicht war klar, dass Bielefeld ein neues Stadtoberhaupt erhalten würde. Für die Kommunalwahl am 19. März 1961 setzte die CDU Nierhoff auf Listenplatz 1, die SPD nominierte mit Walter Bolbrinker (1896-1981), Herbert Hinnendahl und Dr. Gerhard Koch (1906-1983) gleich drei Spitzenkandidaten, ohne einen Oberbürgermeister-Favoriten zu profilieren. Die CDU setzte eindeutig auf Nierhoff, während die SPD sogar noch mit dem Konterfei Artur Ladebecks plakatierte. Um dieses Plakat „Ladebeck für unser Bielefeld“ entstand ein Geplänkel zwischen den Parteien, denn die CDU witterte Wählertäuschung, die SPD verwies souverän auf die Leistungen des noch amtierenden Oberbürgermeisters, der seinen Verzicht unmissverständlich öffentlich gemacht hatte, als Bürger der Stadt aber selbstverständlich „für unser Bielefeld“ sein dürfe. Die FDP setzte den Architekten Walter Buddeberg (1890-1968) an den Spitzenplatz. Der zuvor im Stadtrat noch vertretene Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) trat ebenso wenig an wie die rechtsextreme Deutsche Reichspartei, von der wegen entsprechender Aktivitäten eine Teilnahme zunächst erwartet worden war.

Die CDU erteilte im Wahlkampf Eingemeindungsplänen eine klare Absage, die ein Aufgehen des Kreises Bielefeld in der Stadt propagierten: Während die städtische SPD ein solches Vorhaben unterstütze, sei die Kreis-SPD mehrheitlich dagegen – die SPD sei also uneinig, die CDU in Stadt und Kreis dagegen sei in der Ablehnung derartiger Pläne einhellig. Die CDU setzte auf eine engere Kooperation mit dem Kreis z. B. bei der Raum- (Industrieansiedlung) und Verkehrsplanung, beim Krankenversorgung und -transport, Umweltschutz, Polizei, Berufsschulwesen und Öffentlichen Personennahverkehr insbesondere nach Sennestadt. Nierhoff stellte ausdrücklich mehr Geld für die Kultur in Aussicht, um ein ausgezeichnetes Orchester, einen bekannten Dirigenten und ein ausgezeichnetes Theater zu unterhalten und zu fördern.

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Mit der „Weitblick“-Giraffe warb die CDU im Kommunalwahlkampf 1961; CDU-Wahlbroschüre, 1961; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Westermann-Sammlung, Nr. 122

Die städtische SPD setzte auf die Themen Straßen-, Wohnungs-, Schul- und Sportstättenbau, Modernisierung der Krankenhäuser, Versorgungssicherheit und im Programm etwas weiter hinten angeordnet doch auf eine Gebietsreform: „Ueberwindung der Raumnot der Stadt Bielefeld durch eine weitschauende Gebiets- und Wirtschaftsplanung“. Die FDP sprach sich dagegen vor allem für einen Stopp der „Verkehrsnot“ u. a. durch eine Modernisierung der B 61 und die Einrichtung einer „Unterpflasterbahn“ (U-Bahn) aus. Laut der Westfälischen Zeitung v. 10. März 1961 bezeichnete Prof. Dr. Helmuth Gerloff (1894-1975) von der FDP den „als Weisheit letzter Schluß“ gepriesenen, kaum vier Jahre zuvor eröffneten Jahnplatztunnel als „bereits hoffnungslos veraltet“.

Der Wahlkampf war von Besuchen der Politprominenz geprägt: Am 2. März 1961 war Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt (1913-1992) für die SPD zu Gast, am 16. März dann Prof. Dr. Carlo Schmid – die CDU lud die Landesminister Peter Erkens und Josef Hermann Dufhues sowie Ministerpräsident Kai Uwe von Hassel aus Schleswig-Holstein sowie abschließend Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Ludwig Erhard ein.

„Der Sturm der bürgerlichen Parteien auf das rote Rathaus ist geglückt. Die absolute Mehrheit der SPD gebrochen“, bilanzierte das Westfalen-Blatt am 20. März 1961. Die Kommunalwahl am 19. März 1961 nämlich bestätigte die SPD mit 49,6 % (1956: 53,2 %) zwar als stärkste Partei, die Fraktion hatte aber vier der bislang 28 Mandate verloren. Die CDU errang 37,5 % (24,7 %) der Stimmen, hatte total von 23.939 auf 37.830 Stimmen zugelegt, vom Verzicht von BHE und DRP am besten profitiert und nebenbei wohl auch der FDP Stimmen abgenommen (Rückgang von 16,1 % auf 12,9 %). Im Ergebnis stand ein Patt von 24:24 Stimmen zwischen SPD und CDU/FDP (18/6). Angesichts des „Erdrutschs“ und des Mandats-Patts prognostizierte das Westfalen-Blatt ein „Tauziehen“.

Die CDU führte ihren Erfolg auf ihr klares Programm und einen modern geführten Wahlkampf ebenso zurück wie auf die unklare Haltung der SPD zum eigenen Oberbürgermeister-Bewerber. Diese Vermutung ist nicht völlig von der Hand zu weisen, denn die CDU trat mit einem eindeutigen Kandidaten und in Broschüren einmütig mit der Kreis-CDU auf. Die Stadt-SPD dagegen war auf sich gestellt und bot gleich drei Spitzenkandidaten an: „Sie alle könnten vom künftigen Rat gewählt werden. Der Wähler möge abwarten … Es scheint uns ein unbestreitbarer Vorteil, daß die CDU sich weniger delphisch-orakelhaft verhält […]. Wen stellt die SPD gegen Dr. Nierhoff? Drei sind in diesem Fall weniger als einer! Weshalb rückt sie nicht mit der Sprache raus?“, hatte die Westfälische Zeitung am 14. März 1961 gefragt.

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Während die SPD ohne einen klaren Kandidaten in den Wahlkampf ging, plakatierte die CDU ihren Spitzenkandidaten Nierhoff; Foto (Ausschnitt) Ecke Ulmenstraße/Kreuzstraße, 1961; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Westermann-Sammlung, Nr. 122

Noch vor der ersten Oberbürgermeister-Wahlrunde im Stadtrat legte SPD-Mann und „Drittel“-Spitzenkandidat Walter Bolbrinker das soeben errungene Mandat nieder und lieferte der Presse eine unerwartete Sensation. Die erste Oberbürgermeister-Wahlrunde im Stadtrat am 5. April 1961 endete mit dem erwarteten Patt zwischen Nierhoff und Hinnendahl. Nach zwei weiteren unentschiedenen Wahlgängen wäre es zu einem Losentscheid gekommen, worauf die SPD es anfänglich noch hatte drauf ankommen lassen. Die interfraktionellen Gespräche über eine Lösung, die gleichzeitig Partei- und Wählerwillen abbilden konnte, mündeten in eine Vereinbarung „Vernunft und Bereitschaft zur Fairness“. Diese überparteiliche Einigung sah eine Teilung der Amtszeit zwischen Nierhoff und Hinnendahl vor, so dass der CDU-Mann am 12. April 1961 einstimmig zum Oberbürgermeister gewählt wurde und bis zum 9. Januar 1963 amtieren sollte. Die Westfälische Zeitung kommentierte am 13. April 1961 zufrieden: „In Bielefeld hat sich wieder einmal gezeigt, daß man die Dinge in einer Atmosphäre nüchterner Sachlichkeit zu lösen sich bemüht hat – und zwar erfolgreich. Diese Tatsache dürfte in der ganzen Bürgerschaft der alten Leineweberstadt mit Genugtuung vermerkt werden.“

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Die Universität Bielefeld; Luftaufnahme, 1970; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 24-706-4

Nierhoff war es, der in seiner Amtszeit im Oktober 1961 eine Interessenbekundung Bielefelds als Universitäts-Standort abgab, nachdem das Land zusätzliche Haushaltsmittel für eine zweite Hochschul-Neugründung neben Bochum angekündigt hatte. Die Düsseldorfer Boulevard-Zeitung „Der Mittag“ v. 7. Oktober 1961 gab Nierhoffs Argumente wie folgt wieder: „Die Industriestadt mit ihrer landschaftlich reizvollen Umgebung sei der ideale Platz für eine Universität. Keine Dunstglocke werde jemals die Gedanken der Studierenden in Bielefeld umnebeln.“ Es entbrannte zwischen verschiedenen Kommunen danach ein durchaus lebhafter Wettkampf um den Standort einer Universität für Ostwestfalen. Stellungnahmen aus Politik und Wirtschaft propagierten aus lokalpatriotischen Gründen, schließlich war eine Hochschule auch ein harter Standortfaktor, die jeweils eigene Stadt, wobei Bielefeld die anderen Konkurrenten (Detmold, Herford, Paderborn und sogar Soest) hinsichtlich der Einwohnerzahl eigentlich um Längen abhängte. Eröffnet werden sollte die Universität Bielefeld erst im September 1969. Nierhoff war darüber hinaus Vorsitzender des Rechtsausschusses und des Ausschusses für die Vergabe künstlerischer Arbeiten, darüber hinaus Mitglied in Aufsichtsgremien der Flughafen Bielefeld GmbH, der Kreissparkasse Bielefeld und für die Vorbereitung der 1968 eröffneten Kunsthalle, deren erste Konzepte und Modelle er noch im Dezember 1962 als Oberbürgermeister kommentieren durfte.

Nierhoff, dessen Oberbürgermeister-Tätigkeit 1961/62 von Anfang befristet war, aber unter der Aura politischen Konsenses stand, verstarb am 3. Juni 1988 in Bielefeld.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, Nr. C 1113: Personalakte Rudolf Nierhoff
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 100-1897,1: Geburtsregister Bielefeld 1897, Bd. 1, Nr. 437/1897; Nr. 200-1928,1: Heiratsregister Bielefeld 1928, Bd. 2, Nr. 440/1928; Nr. 300-1988,2: Sterberegister Bielefeld 1988, Bd. 2, Nr. 900/1988
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1187: Schüleralbum, 1889-1923
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 102, 104, 106 und 122: Wahlen und Politik, 1961-1962
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6 (Westfälische Neueste Nachrichten v. 11.1916, 25.9.1918 u. 5.8.1921), 50 (Westfälische Zeitung; u.a. v. 30.10.1916, 25.9.1918, 11.1.1922, 14.1.1922 u. 17.1.1922) u. 54 (Westfalen-Blatt)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 12-2-215 (Bielefeld-Panorama), 24-210-1 (Ratsgymnasium), 27-706-4 (Universität), 61-14-38 (Nierhoff) u. 91-5-49 (Bismarck-Denkmal)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,10/Zeitgeschichtliche Sammlung, Nr. 20012: Städtisches Kunsthaus Bielefeld, 1966; Enthält u.a.: Dr. Rudolf Nierhoff, Sinn und Zweck der Dr. August Oetker-Stiftung, 1962
  • Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, NW 1056, Nr. 1794: Entnazifizierungsakte Dr. Rudolf Nierhoff

Literatur

  • Der Städtetag 15 (1962), S. 147
  • Deutsche Verlustlisten Ausgabe 2131 v. 1.10.1918, S. 26670
  • Falter, Jürgen W.: Hitlers Parteigenossen. Die Mitglieder der NSDAP 1919-1945, Frankfurt/New York 2020, S. 78
  • Löning, Martin, „Bielefeld erhält die Universität“. Eine Darstellung der Standortentscheidung für die ostwestfälische Universität aus Bielefelder Sicht: in: 85. Jahresbericht für die Grafschaft Ravensberg (1998/99), S. 263-302 (online)
  • Mälzer, Moritz, Auf der Suche nach der neuen Universität. Die Entstehung der „Reformuniversitäten“ Konstanz und Bielefeld in den 1960er Jahren (Bürgertum, Neue Folge, Bd. 13), (Diss. Berlin 2014) Göttingen 2016
  • Pöllath, Reinhard/Ingo Sanger (Hg.), 200 Jahre Wirtschaftsanwälte in Deutschland, bearb. v. Markus Heukamp Baden-Baden 2009, S. 33 ff.
  • Vogelsang, Reinhard, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005

Erstveröffentlichung: 01.03.2022

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 26. März 1897: Geburtstag von Dr. Rudolf Nierhoff, Oberbürgermeister Bielefelds 1961-1962, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2022/03/01/01032022/, Bielefeld 2022

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