24. Juli 1958: Die Feierlichkeiten zum 400jährigen Bestehen des Ratsgymnasiums Bielefeld beginnen

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

„Iwai soritsu yombyaku nen” – „Glückwunsch Gründung 400 Jahre”, lautet die Übersetzung des Gratulationsbriefes, den der ehemalige Ratsgymnasiast und –lehrer Bernd Eversmeyer von der Deutschen Schule in Tokio seiner alten Schule zum 400jährigen Bestehen 1958 schickte. Ein „angesehener hiesiger Meister” hatte eine Kiefer als japanisches Zeichen für „Dauerhaftigkeit, immergrünes Leben und Gedeihen” gewählt.

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„Iwai soritsu yombyaku nen” – „Glückwunsch Gründung 400 Jahre” lautet der Gruß der Deutschen Schule in Tokio an das Ratsgymnasium; Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1379

Ende Juli 1958 feierte das Bielefelder „Rats”, das bis 1964 freilich noch Staatlich-Städtisches Gymnasium hieß, mit einem umfangreichen Festprogramm das 400. Jubiläum des ältesten Gymnasiums der Stadt. Die Anstellung des Hermann Kip 1558 wird offiziell und traditionell als Gründungsdatum des Ratsgymnasiums angesehen, da mit diesem Datum die ältere Lateinschule städtisch geworden und zu einer höheren Lehranstalt erhoben worden war. Das Programm der Jubiläumstage 1958 pendelte zwischen Tradition und Moderne: Zum Auftakt am 24. Juli 1958 versammelten sich etwa 1.000 Schüler hinter der alten Schulfahne von 1876 (die jüngere, politisch reaktionäre Fahne von 1925 wurde nicht mitgeführt) zu einem Fackelzug, der laut der Genehmigung des Straßenverkehrsamts „in Dreierreihen durchzuführen” war.

Die vom ehemaligen Ratsgymnasiasten und damaligen Bürgermeister Walter Buddeberg vorgeschlagene Route des Marsches berührte alle früheren Stätten des Ratsgymnasiums und öffentliche Gebäude, die für die Schule von besonderer Bedeutung waren. Der Abschluss auf dem Alten Markt stand ganz im Zeichen der Übernahme der Patenschaft über die Friedrichsschule im ostpreußischen Gumbinnen, für das die Stadt wiederum 1954 eine Patenschaftsverpflichtung eingegangen war. Die Reden reflektierten vor allem die Vertreibungs- und Teilungsfolgen der nationalsozialistischen Herrschaft, auch der als Freimaurer in der NS-Zeit degradierte und 1937 von Bochum nach Bielefeld strafversetzte Direktor Paul Müller erkannte die verhängnisvolle Bedeutung „jenes 30. Januar 1933”.  Der offizielle Festakt am folgenden Tag in der Oetkerhalle bestand aus Reden prominenter Gäste aus Politik und Bildung und war von musikalischen Darbietungen umrahmt. Die Abschlussrede des Direktors Müller wiederum war ein eindeutiges Bekenntnis zu einem konservativen Bildungsprogramm: „Praktische Pädagogik ist wichtiger als blasse Theorie!”, denn „Bildung ist Flamme und nicht Stillstand!”

Tatsächlich hatte Schulleiter Müller in der in knapp 3.000 Exemplaren veröffentlichten Festschrift in seinem Vorwort deutlich den eigenen Anspruch definiert: „Was wir wollen. Wir erheben mit unserem Jahrbuch nicht den Anspruch, neue Wege im Land der Pädagogik aufzuzeigen. Wir haben nicht den Ehrgeiz, revolutionierend zu wirken.” Und so nimmt es nicht wunder, dass eine umfangreiche Untersuchung des progressiven Pädagogen Wilhelm Poppe (1887-1967), der bis zum Eintritt in den Ruhestand 1938 mehr als drei Jahrzehnte am Gymnasium unterrichtet hatte, keinen Eingang in die Festschrift fand. Vermutlich war es der reformpädagogische Impetus und die kritische Reflexion der NS-Zeit des liberalen Poppe, der dem eher konservativ orientierten Müller nicht behagte, aber nicht verhindern konnte, dass Poppes Darstellung unter dem Titel „Aufstieg und Niedergang – 30 Jahre Geschichte des Staatlich-Städtischen Gymnasiums Bielefeld” im Festmonat Juli 1958 gleichsam als Konkurrenz-Festschrift mit einem Grußwort von Oberbürgermeister Ladebeck publiziert wurde. Stadtdirektor Dr. Eberhard Vincke, der ebenfalls Poppes Studie unterstützt hatte, blieb sogar einer Abendveranstaltung im Anschluss an die Festivitäten fern: „Dann schweigen, könnte als Zustimmung aufgefaßt werden; abweichende Meinungen vorbringen, wäre der abendlichen Geselligkeit nicht angemessen.” Immerhin erwähnte die Freie Presse am 24. Juli 1958 die Veröffentlichung mit einem Kurzartikel, ohne dass der Hintergrund deutlich wird, und auch im Ratsgymnasium selbst wurde Poppes Studie während der Jubiläumstage zum Verkauf angeboten.

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Ein Schülerensemble inszenierte Sophokles´ „Antigone” unter der Leitung des städtischen Oberspielleiter Friedrich Steig; Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/ Ratsgymnasium, Nr. 1448

Noch im September 1959 bezeichnete Ladebeck gegenüber Müller die Nichtberücksichtigung der Analysen Poppes als „Unterdrückung dieser Schrift”, die an die warnenden Stimmen umsichtiger Pädagogen erinnerte, die ungehört blieben, so dass Hunderte, wenn nicht Tausende irregeleiteter ehemaliger Schüler ihr Leben für eine Verbrecherbande gegeben hätten: „Das aus der Geschichte der Schule festzustellen und weiterzugeben, wäre die wirklich sinnvolle Aufgabe der Festschrift gewesen. Aber natürlich tat das weh. Doch was heißt lernen für die Zukunft, wenn man die  Vergangenheit nicht überwinden kann?” Wie sensibel das Thema war, zeigte sich noch 1964, als die Westfälische Zeitung ausgerechnet am Tag der Umbenennung der Schule in Ratsgymnasium eine Glosse „Habent sua fata …” veröffentlichte. Der amtierende Schulleiter Karl Brumberg appellierte erfolglos an die Redaktion, nicht alte Geschichten aufzuwärmen und auch im Interesse der beiden Protagonisten der Auseinandersetzung, der 1960 pensionierte Müller und Poppe, mäßigend einzugreifen. Schließlich kaufte die Stadt die Restauflage von 500 Exemplaren und überließ sie größtenteils dem Gymnasium zur Verteilung, das umgehend 46 Exemplare an das Kollegium weitergab.

Das Festwochenende 1958 pendelte zwischen Tradition und Aufbruch, wie sich der ehemalige Ratsgymnasiast Gerd Kranzmann in der 2008 veröffentlichten Festschrift zum 450jährigen Bestehen des Bielefelder Ratsgymnasium erinnert: „Da gab es einen Fackelzug durch die Altstadt, eine große Veranstaltung auf dem Gelände der BTG [Bielefelder Turngemeinde] am Brodhagen und ein großes Schulfest auf dem Johannisberg. Jetzt erst wird in der Erinnerung deutlich, dass sich dort bereits das Spannungsverhältnis zwischen Modernisierung und Tradition auftat. Der Fackelzug durch die Altstadt gehörte zur Tradition aus dem 350-jährigen Jubiläum, die Großturnveranstaltung im blau-weißen Hemd am Brodhagen unter Leitung von Emil Casselmann war fragwürdig entliehen der Tradition der 20er und vor allen Dingen der 30er Jahre (500 Schüler Schüler machten auf Kommando Freiübungen auf dem BTG-Sportplatz!), das Schulfest setzte Kreativität der Schüler frei. Wir präsentierten im Jahre 1958 das Atomium, das Sinnbild der Weltausstellung in Brüssel 1958.”

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Das Programm der Jubiläumsfeierlichkeiten bewegte sich zwischen Tradition und Moderne; Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1448

War das von Casselmann im Vorfeld auf exakt 132 Minuten Dauer begrenzte Turnfest tatsächlich stark an die Formen einer zwischen 1933 und 1945 ideologisch missbrauchten Körper-Ästhetik angelehnt, war das Schulfest auf dem Johannisberg am letzten Festtag bei leichter Sommerkleidung geradezu fröhlich, witzig und modern, mit einer Atomium-Darstellung, die als „eine Rarität der kabarettistischen Kunst”, wie die Freie Presse anerkannte, einen Blick in die Schule der Zukunft gewährte, und einer ausgelassenen Kinder-Indianerschar, die Direktor Müller in ein Wigwam führte, mit Federn schmückte und zum Ehrenhäuptling der Apachen machte.

Gefeiert wurde auch eine gelungene Aufführung von Sophokles´ „Antigone”, das ein Schülerensemble unter der Leitung des städtischen Oberspielleiters Friedrich Steig eingeübt hatte. Das Ehemaligentreffen besuchten 500 frühere Ratsgymnasiasten, darunter Teilnehmer aus Übersee und erfolgreiche Absolventen, die in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft Karriere gemacht hatten, sowie der frühere Hausmeister „Vater Jeschke”. Abgerundet wurden die Jubiläumsveranstaltungen u.a. durch eine Präsentation bibliophiler Kostbarkeiten der Bibliothek des Ratsgymnasiums sowie eine Ausstellung künstlerischer Schülerarbeiten, die der Kunstlehrer Herbert Roschlau arrangiert hatte. Die neuen von Roschlau gestalteten und in einem eigenen Festakt an Direktor Müller überreichten Ehrenbücher zum Gedenken an die im Zweiten Weltkrieg Gefallenen verzeichneten allein 310 Namen von Schülern und Lehrern, die geglaubt hatten für Deutschland zu kämpfen, aber für falsche Ideale ihr Leben ließen. Bei der Gedenkfeier für die Gefallenen war die in den 1950er Jahren übliche Verdrängung und Relativierung nicht zu überhören. Unter einem Eisernen Kreuz – der Festausschuss hatte im Januar 1958 zugunsten dieses ausdrücklich auf das Christliche Kreuz verzichtet – formulierte Dr. Paul Uthoff als Vorsitzender des Vereins der Ehemaligen unreflektiert: „Zwar hätten die Söhne unseres Landes nichts anderes getan als die der gegnerischen Länder, sie waren mit der Waffe in der Hand für ihre Heimat eingetreten. Was aber auf der einen Seite heroische Tat war, das sollte auf der anderen ein verdammungswürdiges Tun sein.” Mit seiner Forderung nach einer grundlegenden Revision des Geschichtsbildes bezüglich der deutschen Verantwortung für beide Weltkriege trat der Redner für den deutschen Soldaten ein, der „im ganzen Ausland und leider auch im Inland verunglimpft worden” sei.

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Ein Spendenaufruf an Eltern und Ehemalige und die örtliche Wirtschaft verlief erfolgreich; Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/ Ratsgymnasium, Nr. 1448

Die intensiven Jubiläumsvorbereitungen indes standen nicht immer unter einem guten Stern: Als ersten Tagesordnungspunkt verhandelte der Festausschuss am 11. Juni 1958 „Das überaus traurige Ergebnis der Spenden”. Allerdings war die Sorge verfrüht, denn letztlich fiel die finanzielle Bilanz des Schuljubiläums ausgesprochen positiv aus, zumal neben Sachspenden (Konferenzzimmer, Aulagestühl, Unterrichtsmittel etc.) ein städtischer Zuschuss 4.000 DM und private Spenden über 32.800 DM in die Kasse gespült hatten, während die Ausgaben lediglich bei 21.900 DM lagen; noch Anfang 1960 lagen auf dem Jubiläumskonto fast 24.000 DM, die erst nach dem Auszug des Max-Planck-Gymnasiums verausgabt wurden. Der finanzielle Erfolg wäre noch größer ausgefallen, hätte das Land nicht nur 600 DM beigesteuert. Nicht ohne bittere Ironie hatte sich Direktor Müller Anfang 1958 an den Kultusminister Paul Luchtenberg (FDP) gewandt, nachdem das Ministerium lediglich 600 DM für die Festschrift beisteuern wollte, während das Kölner Drei-Königs-Gymnasium bei seinem 400jährigen Bestehen 1952 stolze 5.000 DM u.a. für deren Festschrift, die Fertigstellung einer Orgel etc. erhalten hatte: „Wir haben zwar nicht die jesuitische Tradition des Drei-Königs-Gymnasiums, wir sind immer gut evangelisch gewesen; aber das Gymnasium Bielefeldense hat hier in Ostwestfalen auch etwas bedeutet.” Müller bemühte nachfolgend ein hervorragendes Urteil über das Ratsgymnasium als erste unter den „gelehrten Anstalten” in Westfalen – von 1820 allerdings: „Was den Herren im rheinischen Köln recht war, sollte dem westfälischen Bielefeld billig sein.” Zwar berief sich Müller auf die protestantische Tradition des Gymnasiums, gleichwohl fand im Festprogramm auch ein katholischer Gottesdienst Platz.

Das 400. Jubiläum pendelte zwischen Tradition und Moderne, war aber auf jeden Fall ein finanziell gelungenes Unternehmen, was jedoch kaum das primäre Ziel gewesen sein dürfte. Diektor Müller bilanzierte in einem Brief an einen Kollegen in Süddeutschland: „Es war eine große Sache […]. Nun liegt die Krönung meines Lebens hinter mir. Was sonst noch kommt, ist ein müder Abgesang.”

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1154: Protkollbuch der Lehrerkonferenzen (1952-1958)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1357: Die 400-Jahr-Feier der Schule 1958 (1957-1958)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1358: Die 400-Jahr-Feier der Schule 1958, Vorarbeiten und Beiträge zur Festschrift; Schriftwechsel (1957-1959)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1374: Die 400-Jahr-Feier der Schule 1958, Korrespondenz (1958-1960)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1376: Korrespondenz mit Ehemaligen und Spendenangelegenheiten zur 400-Jahr-Feier der Schule 1958 (1956-1958)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1379: Glückwunschblätter zur 400-Jahr-Feier des Gymnasiums von der Deutschen Schule Tokio und vom Gymnasium Oerlinghausen (1958)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1420: Die 400-Jahr-Feier der Anstalt, Korrespondenz (1958)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1448: 400-Jahr-Feier der Anstalt, Festprogramme und Spendenaufruf (1958)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1698: Verschiedenes (1963-1969)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 400,1/Westermannsammlung, Sch 110b, Bd. 1
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-12-1: Oberbürgermeister Artur Ladebeck

Literatur

  • Altenberend, Johanns/Wolfgang Schröder (Hg.), DEO ET LITERIS. Schule mit Geschichte – Schule mit der Zeit. Festschrift zum 450-jährigen Jubiläum des Ratsgymnasiums Bielefeld, Bielefeld 2008
  • Die alten Lehrer leben im Spiegel der Erinnerung ihrer ehemaligen Schüler, Artikelserie aus dem Westfalenblatt, Bielefeld 1958
  • Festschrift zum 400-jährigen Jubiläum des Staatlich-Städtischen Gymnasiums zu Bielefeld, Bielefeld-Bethel 1958
  • Poppe, Wilhelm, Aufstieg und Niedergang – 30 Jahre Geschichte des Staatlich-Städtischen Gymnasiums Bielefeld, Bielefeld 1958

 

Erstveröffentlichung: 01.07.2008

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 24. Juli 1958: Die Feierlichkeiten zum 400jährigen Bestehen des Ratsgymnasiums Bielefeld beginnen, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2008/07/01/01072008/, Bielefeld 2008

 

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