20. Februar 1874: Geburt des Arztes Dr. Bernhard Mosberg in Bielefeld

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

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Dr. Bernhard Mosberg (1874-1944); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 95-13-16

Dr. Bernhard Mosbergs (1874-1944) Lebensweg kreuzten viele Menschen: Patienten, Kollegen, darunter berühmte Ärzte und auch berüchtigte, sowie eine Monarchin. Als Mediziner half er Kranken, als Orthopäde vor allem den zahllosen, teilweise schwer Verletzten des Ersten Weltkrieges, denen er mit seinen Prothesen Beweglichkeit und vor allem Lebensmut und die psychologisch wichtige Selbstbestätigung gab, weiterhin ein wertvoller Teil von Familie und Gesellschaft zu sein. 1917 stellte er der Kaiserin in Bethel seine Arbeit für den Menschen vor, er arbeitete in einer Kommission mit Prof. Dr. Ferdinand Sauerbruch (1875-1951), 1944 befand Dr. Josef Mengele (1911-1979) in Auschwitz, dass das Leben dieses selbstlosen Arztes enden sollte.

Familie, Ausbildung und Niederlassung

Bernhard Mosberg wurde am 20. Februar 1874 in Bielefeld als Sohn des Unternehmers Jonas Mosberg (1830-1910) und seiner Frau Henriette Mosberg geb. Eber (1843-1921) geboren. Jonas hatte 1868 wiederum von seinem Vater Moses (1790-1874) das Berufsbekleidungsgeschäft in der Breiten Straße 45 übernommen. Bernhards Brüder Max (1867-1942) und Julius (1868-1943) stiegen in das Unternehmen ein, das sie an der Jöllenbecker Straße 5 zum Branchenriesen „M. Mosberg“ ausbauten.

Bernhard entwickelte andere Interessen. Von Ostern 1883 bis Ostern 1894 besuchte er das Ratsgymnasium, das er, im Gegensatz zu seinen Brüdern, mit dem Reifezeugnis verließ. Bernhard Mosberg verzog am 16. April 1894 nach Würzburg und immatrikulierte sich am 24. April an der Universität für Medizin. 188 der 295 Erstsemester hatten sich ebenfalls für diesen Studiengang entschieden. 1898 wurde Mosberg dort mit einer Arbeit „Über die Ausscheidung des Phlorhizins und des Zuckers in der Niere“ zum Dr. med. promoviert. Danach war er als Assistenzarzt beim Orthopäden Dr. Oscar Vulpius (1867-1936) in Heidelberg und als 1. Assistenzarzt bei Prof. Dr. Johann Andreas Rosenberger (1847-1915) in Würzburg tätig, wo er noch 1902 zum Assistenzarzt im Sanitätskorps des Reichsheeres befördert wurde.

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Eröffnungsanzeige der Klinik Mosbergs; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 39: Volkswacht v. 22.10.1902

Im Sommer 1902 erlebte Bernhard bewegte Wochen. Am 12. August kehrte er von Würzburg in seine Heimatstadt zurück und ließ sich als Facharzt für Orthopädie und Chirurgie nieder. Am 19. September 1902 heiratete er die Fabrikantentochter Rosalie („Rosa“) Oppenheimer (1878-1943) in deren Geburtsstadt Niedermarsberg. Und schon im Oktober 1902 eröffnete er im Elternhaus der Literatin Josefa Metz (1871-1943) in der Detmolder Straße 4 eine „Chirurgisch-orthopädische Heilanstalt“ und ein „medico-mechanisches Institut für Unfallverletzte“.

Diese sinnvolle Verbindung scheint Mosberg von Vulpius übernommen zu haben, dessen 1896 in Heidelberg eröffnete Orthopädisch-Chirurgische Poli- und Privatklinik eine der ersten Unfallanstalten in Deutschland war. Dass Bielefeld so schnell nachzog, war allein Bernhard Mosberg zu verdanken. Laut Eröffnungsanzeige bot die neue Klinik ein umfangreiches Spektrum an: Heilgymnastik, Massage, Behandlung von Verkrümmungen, Lähmungen und Röntgendurchleuchtung sowie eine orthopädische Werkstätte. Ende 1907 verlegte Mosberg seine Heilanstalt in die Koblenzer (damals noch Coblenzer) Straße 2a, 1908 zog er in die Koblenzer Straße 4 um. Die Koblenzer Straße war um 1910 so etwas wie die Ärzte-Meile Bielefelds: Unter 2a war Mosbergs Heilanstalt gemeldet, unter 2b praktizierte Dr. Julius Ruppersberg, ab 1919 Dr. Theodor Bleek, und unter Nr. 8 Dr. Heinrich Lohmann.

Vielfach engagiert

Bernhard Mosberg war Initiator und Gründungsmitglied des am 20. Mai 1910 ins Leben gerufenen Bielefelder „Vereins für Krüppelfürsorge“, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den „Krüppelkindern“, also körperbehinderten Kindern, von denen etwa 100 im Stadtgebiet gezählt wurden, spendenfinanzierte ärztliche und erzieherische Hilfen angedeihen und im Bedarfsfall Behandlungen und orthopädische Hilfsmittel zukommen zu lassen. Das war exakt das Betätigungsfeld Mosbergs, der zum Beisitzer gewählt wurde. Zu den 126 Mitgliedern 1911 zählten auch seine Frau Rosalie sowie seine Brüder Julius und Max. Die Kriegsereignisse und -folgen überlagerten bald die wertvolle Arbeit des Vereins, der 1918/19 insgesamt 196 Mitglieder in seinen Listen führte. Am 21. Oktober 1921 beschloss eine einberufene Mitgliederversammlung die Auflösung – anwesend waren nur der Vorsitzende Bürgermeister Max Ruscher (1876-1969) und Mosberg. Ruscher beantragte wegen des „Gesetzes betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge“ vom 6. Mai 1920, das die Wahrnehmung dieser Aufgabe in die Hände der Kommunen legte, die Vereinsauflösung: „das einzige erschienene Mitglied, Herr Dr. Mosberg, stimmt diesem Antrag zu.“, so das Protokoll.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden am 18. September 1914 erste Verwundete in Mosbergs Klinik, das als Reservelazarett diente, eingeliefert. Mosberg meldete sich, laut Angaben seines Sohnes nach 1945, zur Front, wurde als Stabsarzt bei Reserve-Infanterie-Regiment 256 eingesetzt, avancierte zum Oberstabsarzt und erhielt das Eiserne Kreuz (1917) sowie die Rot-Kreuz-Medaille (1918). 1915 übernahm Bernhard Mosberg die Leitung der „Abteilung für Kriegsbeschädigten-Fürsorge“ der von Bodelschwinghschen Anstalten und des Instituts für Schwerkriegsversehrte in Deutschland und wurde orthopädischer Berater beim VII. Armee-Stab Westfalen-Rheinland. 1916 stellte er als Stabsarzt und Leiter der Kriegsbeschädigten-Fürsorgeabteilung in der Münchener Medizinischen Wochenschrift eine „einfache Radialschiene“ vor. Winkelgelenke, Spiralfedern, Stahlschienen und ein bisschen Leder verliehen Mosbergs Konstruktion eine augenfällige Leichtigkeit und versprachen dem Patienten damit deutlich verbesserte Motorik. Im gleichen Jahr publizierte er dort „Zur Armprothesenfrage“. Als ärztlicher Beisitzer gehörte er neben keinem geringeren als Dr. Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) der Abteilung Düsseldorf der „Prüfstelle für Ersatzglieder“ an, die 1916 ihre Tätigkeit aufgenommen hatte.

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Kaiserin Auguste Viktoria (1858-1921) besteigt 1917 in Bethel eine Dürkopp-Limousine; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 93-1-48

Als Kaiserin Auguste Viktoria (1858-1921) „in einfach-vornehmer Reisetoilette, bestehend in blauem Seidenkleid mit breitem, dunkel garnierten Hut und weißem Schleier“ am 26. Juli 1917 am Assapheum der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel einer bereitgestellten Dürkopp-Limousine entstieg, gehörte zur angemessen jubelnden Prominenz „der zur Vorstellung befohlenen Herrschaften“ als Leiter des Reservelazaretts und der orthopädischen Abteilung auch Dr. Bernhard Mosberg. Die Monarchin sprach Verwundete im Saal und im Haus Gosen an, nahm sich Zeit für Gespräche mit den Soldaten, die ihre neu erlernten handwerklichen Fähigkeiten vorstellten. Die anschließende Führung in der „Ersatzglieder-Abteilung“ (auch „Gliederersatz-Werkstätte“) und in der Prothesen-Abteilung übernahm fachkundig Mosberg, wo sich die Kaiserin erneut einigen der 274 Verwundeten zuwandte. In Bielefeld wird es mancher als Zurücksetzung empfunden haben, dass die Kaiserin die Stadt als solche nicht besucht hatte, so wie schon 1907, als sie wegen Erkrankung ihren Mann kurzfristig nicht begleiten konnte. So verwundert es nicht, dass sie sich beim Besuch 1917 nicht in das „Goldene Buch“, der Stadt eintrug, die sie nie betreten sollte.

Mosberg war ein über die Stadtgrenzen hinaus gefragter Orthopädie-Experte und genoss in Fachwelt und Stadtgesellschaft Ansehen und Aufmerksamkeit. 1959 erinnerte sich ein Freund des Sohnes: Sie „waren ein wunderbares Beispiel für die wirklich adeligen Menschen […]. Aufrichtig, gut und so edel hilfsbereit“. Wiederholt berichteten Zeitungen über seine Einsätze nach Unfällen und über seine orthopädischen Schulungen und Vorträge. In den 1920er-Jahren unterstützte Mosberg die Ausbildung von Turnlehrern und -lehrerinnen mit zweitägigen orthopädischen Lehrgängen, die Rückgratverkrümmungen entgegenwirken sollten. Parallel gab er auch Turnkurse für Kinder, die aber im Juni 1933 gekündigt und dem städtischen Krankenhaus übertragen wurden: „Mit einfacheren Mitteln wird das gleiche Ziel erreicht wie bisher.“ Es bleibt noch unklar, ob ein politisch-antisemitischer Hintergrund für die einseitige Kündigung bestand.

Bernhard Mosbergs fachliche Qualitäten und sein erfolgreiches Wirken seit 1915 veranlassten die von Bodelschwinghschen Anstalten zu einem ungewöhnlichen Entschluss. 1919 wurde er der erste (und bis auf Weiteres einzige) Jude, der als Arzt von Bethel eingestellt wurde. In den Bethel-Einrichtungen Heilgarten und Heilstatt leitete er die medizinisch-berufliche Rehabilitationsabteilung der Kriegsgeschädigten. Diese Anstellung und damit ein wirtschaftliches Standbein verlor Bernhard Mosberg 1932. Bethel begründete die Kündigung des nebenberuflichen Beschäftigungsverhältnisses mit wirtschaftlichen Erwägungen, jedoch gab es Hinweise auf Konkurrenzlagen zu anderen Ärzten und zunehmende Beschwerden von Patienten über Behandlungen durch einen Juden. Das Klima verdüsterte sich bereits vor 1933.

Verdrängt und verfolgt

1933 musste Bernhard Mosberg vor Gericht erscheinen – als Zeuge in einem Betrugsprozess gegen seinen Mitarbeiter August Rönneburg bei der 1924 eingerichteten Orthopädischen Versorgungsstelle, der fingierte Rechnungen vorgelegt hatte und deshalb zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Verurteilt wurden auch zwei Bandagisten und ein Unternehmer aus Bad Oeynhausen. Antisemitische Kommentare oder entsprechend motivierte Schuldzuweisungen an den Institutsleiter Mosberg waren nicht erkennbar, wiewohl er eine eigene Oberflächlichkeit bei der Rechnungsvorlage nicht ausschließen wollte, aber mit einem begründet erscheinenden Vertrauen in die Redlichkeit seines Mitarbeiters rechtfertigte. Der Auftritt Mosbergs geriet zunächst recht dramatisch, denn gerade als er das Wort ergreifen wollte, legte der Hauptangeklagte ein umfangreiches Geständnis ab.

Die öffentlichen Zu- und Herabsetzungen, antisemitische Hetze und Gesetze ab 1933 trafen die Familie hart. Tochter Gertrud, die 1923 an der Auguste-Viktoria-Schule die Reifeprüfung abgelegt, danach in Bonn, Münster und München Medizin studiert und 1928 in Bonn zum Dr. med. promoviert wurde, ließ sich zur orthopädischen Fachärztin ausbilden und arbeitete bis 1933 an der Charité in Berlin. Nachdem jüdische Ärzte und Ärztinnen dort entlassen wurden, kehrte sie nach Bielefeld zurück und ging noch im selben Jahr in die Niederlande, wohnte zunächst in Groningen, ab 1937 in Amsterdam, wo sie als Ärztin arbeitete.

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Koblenzer Straße 4 (heute Artur-Ladebeck-Straße 6); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1287-99

Vor dem Haus der Mosbergs in der Koblenzer Straße patrouillierten regelmäßig uniformierte Nationalsozialisten und schüchterten Patienten und Nachbarn ein. Bernhard Mosberg vertraute lange auf seinen Status als Weltkriegsteilnehmer, der eine Schonung vor den Repressalien des Regimes zu versprechen schien. 1935 ging der Sohn zunächst in die Schweiz, im Oktober 1937 nach Cambridge in Großbritannien. Nach einem Nervenzusammenbruch seiner Frau brachte Bernhard Mosberg sie schon im Juli 1937 in das Reformierte Sanatorium „Port Natal“ in das niederländische Assen. Während der Pogromnacht war Mosberg in den Niederlanden und kehrte aus gutem Grund nicht zurück.

Ab 1939 nutzten die Nationalsozialisten, genauer gesagt das städtische Grundstücksamt, das Haus Koblenzer Straße 4, um dort Jüdinnen und Juden unterzubringen. Das Hausbuch verzeichnet bis 1943 exakt 152 Zuzüge in das damit zum „Judenhaus“ gewandelte Objekt. Von dort verzogen viele noch innerhalb Bielefelds, davon 57 in das Lager Schloßhofstraße 73 und 73a, von wo sie später deportiert wurden. Direkt von der Koblenzer Straße wurden 1941/42 insgesamt 24 Personen in die Ghettos und Konzentrationslager verbracht: nach Riga (10), Theresienstadt (7), Warschau (5) und Auschwitz (2).

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In Amsterdam fertigte Dr. Bernhard Mosberg seinen Lebenslauf; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 364

In einem Lebenslauf, den Bernhard Mosberg mutmaßlich im Frühjahr 1940 (er erwähnt die niederländische Mobilmachung) seinem Einbürgerungsantrag in den Niederlanden anfügte, bezeichnete er sich und seine Frau politisch als liberal und erklärte sehr klar: „Ich habe niemals wieder die deutsche Grenze überschritten, und ich habe nicht die Absicht – gleichviel unter welchen Umständen – nach Deutschland zurückzukehren.“ Bernhard Mosberg schien mit seinem Heimatland abgeschlossen zu haben, bot den Niederlanden seine „Dienste als Spezialist für Versehrtenorthopädie“ an.

In Amsterdam war Bernhard Mosberg bei seiner Tochter in der De Lairessestraat 166 gemeldet, wohin Gertrud bereits 1937 Möbel, Porzellan und medizinisches Inventar aus Bielefeld hatte bringen lassen. Von Juni 1939 bis Januar 1940 war auch Hermann Heinrich Bernhard dort gemeldet. Im Erdgeschoss betrieb Gertrud Mosberg eine orthopädische Praxis, wo der Vater unterstützend wirkte. Mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Niederlande veränderte sich auch in Amsterdam alles. Ab Mai 1941 durften Vater und Tochter nur noch jüdische Patienten behandeln. Der örtliche, von den Besatzern eingerichtete „Judenrat“ handelte eine Zurückstellung von Ärztinnen und Ärzten von den Verhaftungen und Deportationen aus, die im Sommer 1942 eingesetzt hatten. Bernhard Mosberg war als medizinischer Pfleger bei seiner Tochter von dieser Regelung begünstigt.

Westerbork – Theresienstadt – Auschwitz

Am 11. März 1943 wurde Rosalie Mosberg aus dem Sanatorium in Assen, angeblich gegen den Protest des Personals, nach Sobibor deportiert und dort am 26. März 1943 ermordet. Mitte Juli 1943 befahl die Gestapo Bernhard und Gertrud in das ehemalige Amsterdamer Theater Hollandsche Schouwburg, von wo aus sie in das Lager Westerbork verbracht wurden, das sie am 17. Juli 1943 erreichten. Nach einem bald halbjährigen Aufenthalt dort kamen beide mit dem Transport XXIV/2 nach Theresienstadt, was unter den bekannten Zielen noch als das vergleichsweise annehmbarste erschien und bei Bernhard Mosberg sogar mit seinen „Zivilverdiensten“ begründet wurde, wobei hier seine Tätigkeiten als Militärarzt im Ersten Weltkrieg vermerkt wurden.

Theresienstadt war oftmals nur eine Durchgangsstation. Am 18. Mai 1944 kamen beide in Auschwitz-Birkenau an, nachdem das „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt für erwartete Besichtigungen durch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes ausgedünnt worden war. In Auschwitz wurden sie im „Familienlager – Theresienstadt“ interniert.

Bernhard Mosberg wurde mutmaßlich am 7. Juli 1944 in Auschwitz ermordet. Seine Tochter Gertrud entging den Vergasungen mutmaßlich, weil sie als Ärztin eingesetzt worden war. Nach der Räumung von Auschwitz vor der herannahenden Roten Armee im Januar 1945 kam Gertrud mit einem der sog. Todesmärsche in das KZ Ravensbrück und starb dort entkräftet im März 1945.

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Dr. Bernhard und Rosalie Mosberg bei einer Familienfeier, ca. 1930; Privatbesitz USA

Wenige Monate nach Kriegsende forschte der überlebende Sohn Hermann Heinrich Bernhard von Großbritannien aus nach dem Schicksal seiner Familie. Im Sommer 1945 wandte er sich an Friedrich von Bodelschwingh (1877-1946), den Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten, um etwas über den Stand der Immobilie Koblenzer Straße 4 zu erfahren. Gegenüber dem „International Committee on Refugees schilderte er in seiner ersten Anfrage vom 24. August 1945 das Schicksal seiner Schwester Gertrud und seines Vaters, der, so weit bekannt, vergast wurde „on the orders of the SS-´Lagerarzt´ – the camp medical officer, Dr.“. Am 21. Dezember 1945 beantragte Mosberg eine Zulassung als Nebenkläger „in the case against Dr. Mengele.

Mitte März 1946 legten die Antragsteller Zeugenaussagen von Dr. Marie Stoppelman (1914-1994), die als Laborleiterin, und Dr. Lucie Adelsberger (1895-1971) vor, die in Amsterdam eine Kollegin Gertrud Mosbergs gewesen war und in Auschwitz als Häftlingsärztin Mengele assistieren musste. Am 7. Dezember 1945 hatte beide gemeinschaftlich in Amsterdam vor einem Notar eine Aussage Gertrud Mosbergs wiedergegeben, die diese noch in Auschwitz-Birkenau ihnen gegenüber gemacht habe. Sie habe Mengele demnach persönlich um Schutz für ihren Vater gebeten, nachdem sich abzeichnete, dass die aus Theresienstadt deportierten ermordet werden sollten. Mengele habe dieses ausdrücklich verweigert. Diese Ablehnung wurde als wichtiges Indiz gedeutet, dass Mengele persönlich den Mord angeordnet habe und damit verantwortlich war. In ihrem 1947 erstveröffentlichten Buch „Five chimneys“ zitiert die Shoah-Überlebende Olga Lengyel (1908-2001) im Kapitel „The Beasts of Auschwitz“ sogar Mengeles Antwort an Gertrud Mosberg: „Ihr Vater ist 70 Jahre alt. Denken Sie nicht, er hat lang genug gelebt?“ („Your father is seventy years old. Don’t you think he has lived long enough?”). Als US-Behörden Mitte der 1980er-Jahre den Verbleib des Kriegsverbrechers und Auschwitz-Lagerarztes Dr. Josef Mengele untersuchten, gerieten auch Zeugenaussagen zum Tod Mosbergs aus der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Fokus der Ermittlungen.

Ungeübte Erinnerungskulturen

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Mosberg-Gedenkplatte im städtischen Gesundheitsamt; Foto: Stadtarchiv Bielefeld, 2024

Bernhard Mosberg war in Bielefeld nicht ganz vergessen, doch man erinnerte nicht öffentlich an ihn. Das änderte sich erst 1959, als im städtischen Gesundheitsamt eine Gedenktafel für den „verdienstvollen Arzt der Körperbehinderten“ installiert wurde, die auch seinen Sterbeort nicht verschwieg. Allerdings war die Stadt darauf nicht von selbst gekommen. Hermann Heinrich Bernhard Mosberg hatte am 14. Dezember 1957 beim Bundespräsidialamt eine „eine[r] symbolische[n] Sühnung von solchen Freveltaten“ angeregt. Über den Landesinnenminister kam die Anfrage auf den Tisch der Bezirksregierung in Detmold, die Oberbürgermeister Artur Ladebeck (1891-1963) eine Straßenbenennung nach Bernhard Mosberg vorschlug, der die Stadtbevölkerung „volles Verständnis entgegenbringen“ dürfte.

Ohne großes Aufheben installierte die Verwaltung eine 67 x 45 cm große Schriftplatte aus Krensheimer Muschelkalkkernstein und informierte den Oberbürgermeister abschließend. Die Freie Presse v. 6. Februar 1959 erinnerte wie die anderen Tageszeitungen an Dr. Mosberg, deutete aber eine kleine Kritik an den Umständen an: „Wie wir erfahren, will die Stadt die Würdigung des verdienten Arztes und Menschen, die bei der Anbringung des Schildes unterblieb, nachholen. Es würde uns freuen.“

Im Laufe der Jahre wanderte die Platte: Vom Gymnastikraum in der Körnerstraße ins Treppenhaus des Neubaus in der Nikolaus-Dürkopp-Straße – heute hängt sie im Eingangsfoyer. Die 2015 von einer Projektgruppe des Ratsgymnasiums geplante Tafel mit biographischen Informationen fehlt indes weiterhin. So unauffällig diese Erinnerungsplatte heute im Haupteingangsfoyer neben einer großformatigen Raumübersicht ist (und auch etwas isoliert wirkt, da biographische Kontexte fehlen), umso aufsehenerregender war die zweite öffentliche Erinnerung an Bernhard Mosberg.

In Schildesche war seit 1937 eine Straße nach dem preußischen und für antisemitische Haltungen bekannte Hofprediger Adolf Stöcker (1835-1909) benannt, an der heute in matten Farben gestrichene Reihenhäuser liegen. Obwohl der SPD-Politiker Emil Gross (1904-1967) bereits 1947 eine Umbenennung angeregt hatte, hielt sie sich bis 1987. Erst auf Initiative der Friedensgruppe der Altstädter Nicolaigemeinde tat sich etwas. Im Oktober 1986 sammelte sie im Rahmen einer Ausstellung zur evangelischen Kirchengeschichte im nationalsozialistischen Bielefeld 223 Unterschriften für eine Umbenennung nach Bernhard Mosberg und beantragte diese am 12. November des Jahres. Oberbürgermeister Klaus Schwickert (1931-2019) ließ die Einsender wissen, dass er den Antrag als begründet einschätze und ihn begrüße, jedoch überraschte das Vermessungs- und Katasteramt seinen obersten Chef mit einer eigeninitiativ gestarteten Umfrage bei den 174 Anwohnern. Der Fragebogen vermerkte einleitend, dass Umbenennungen „immer Unannehmlichkeiten und geringe Kosten“ nach sich zögen, informierte aber vor allem völlig unzureichend über Stöcker und Mosberg. Das Ergebnis musste demnach nicht überraschen: 81 der 99 Rückmeldungen plädierten für eine Beibehaltung, 15 für eine Umbenennung, drei waren ungültig. Das Vorgehen löste verwaltungsinterne Aufklärung und Änderungen aus.

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Informationsblatt der Friedensgruppe der Altstädter Nicolai, 1987; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,1/Oberbürgermeister Nr. 539

Jenseits von plötzlich kursierenden Alternativvorschlägen – Kinderchor-Gründer Friedrich Oberschelp (1895-1986) und SOS-Kinderdorf-Gründer Hermann Gmeiner (1919-1986) – schlug das Pendel langsam um. Die Friedensgruppe startete eine eigene Informationskampagne bei den Anwohnern und SPD und Grüne schlossen sich dem Umbenennungsantrag an. Die CDU dagegen schloss sich der von ihr eingeholten Einschätzung des Presbyteriums der Kirchengemeinde an, die es nicht für hilfreich hielt, durch einen „Prozeß der Nachbesserungen“ Vergangenheit bewältigen und kommunalpolitische Entscheidungen nach 1945 korrigieren zu wollen. Da die in Rede stehende Straße durch die Stadtbezirke Mitte und Schildesche verlief, mussten beide Stadtbezirksvertretungen abstimmen: Bei drei Enthaltungen stimmte Mitte mit neun gegen sechs Stimmen von CDU und FDP für eine Umbenennung, Schildesche allerdings mehrheitlich dagegen (7 Ja, 9 Nein, 1 Enthaltung). Diese abweichenden Voten riefen den Hauptausschuss auf den Plan, der – offensichtlich nach Gesprächen innerhalb und vielleicht auch zwischen den Fraktionsspitzen – am 9. Juli 1987 einstimmig die Umbenennung beschloss. Anfang 2024 war ein Tippfehler zurecht moniert worden, der dem Sterbeort „Auschwitz“ ausgerechnet ein Doppel-S zuschrieb. Man tut sich mitunter selbst an einfachster Stelle schwer mit Erinnerungskultur.

Wenige Wochen nach der Installation der Mosberg-Gedenkplatte druckte die Westfälische Zeitung am 5. März 1959 einen Leserbrief des Landeskirchenrats Dr. Wilhelm Rahe (1896-1976) ab, der Mosberg 1933/34 besucht hatte: „Ich fand ihn in großer Einsamkeit. Seine Lage bedrückte ihn sehr. Er kam nicht darüber, daß er, der sich ganz dem Deutschtum zugehörig wußte, den ersten Weltkrieg mitgemacht und sich immer wieder in den Dienst der Kriegsbeschädigten und Körperbehinderten gestellt hatte, jetzt vom Leben des deutschen Volkes ausgeschlossen, ja mit seiner Familie drangsaliert und verfolgt wurde. […] Hätten wir nicht laut unsere Stimme gegen das schreiende Unrecht, das unseren jüdischen Mitbürgern angetan wurde, erheben müssen?“.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,11/Geschäftsstelle XI, Nr. 20: Verein für Krüppelfürsorge, 1910-1922
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle 5, Nr. 551: Wohnungsangelegenheiten jüdischer Personen, 1939-1942
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,1/Oberbürgermeister, Nr. 539: Verwaltungsinterne Angelegenheiten, 1986-1987, Enthält u.a.: Umbenennung der Adolf-Stöcker-Straße in Bernhard-Mosberg-Straße; Darin: drei Fotos: Straßenschild Adolf-Stöcker-Straße, Porträt Adolf Stöcker und Bernhard Mosberg
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,4/Büro des Rates, Nr. 827: Rat der Stadt (Wesentliche Einzelvorgänge), 1978-1990; Enthält u.a.: Umbenennung der Adolf-Stöcker-Straße zur Bernhard-Mosberg-Straße, 1986-1987
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 100-1903,2: Geburtsregister Bielefeld 1903, Bd. 2, Nr. 1107 (Geburt Gertrud Julie Mosberg)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 1430: Hausbuch Koblenzer Straße 4
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,7/Hochbauamt, Nr. 133: Gedenktafel für Dr. Bernhard Mosberg im Gymnastiksaal des Gesundheitsamts, 1958-1959; Enthält u.a.: Entwurf und Schriftverkehr
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,3/Amt für Wiedergutmachung, Stadt, B 145: Wiedergutmachung Mosberg
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 3: Schüleralbum, 1867-1888 (Aufnahmejahre)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 364: Teile von Wiedergutmachungsakten für jüdische Bürger Bielefelds, 1955-1957; Enthält u.a.: eigene Lebensläufe von Dr. Bernhard Mosberg und Dr. Gertrud Mosberg, ca. 1939/40 (maschsch. Abs.)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 100,1: Familienkunde, Lebensbilder, 1957-1962 (S. 116: Zeitungsartikel und Leserbrief Dr. Wilhelm Rahe von 1959)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen,
    • 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 13.6.1933 (Ende der Kinderturnkurse)
    • 39: Volkswacht v. 22.10.1902 (Anzeige Klinik-Eröffnung)
    • 50: Westfälische Zeitung v.22.9.1902 (Vermählungsanzeige), 27.7.1917 (Kaiserin in Bethel), 13.6.1933 (Ende der Kinderturnkurse) Generalanzeiger v. 21.9.1914 (Einrichtung Reservelazarett), 27.7.1917 (Kaiserin in Bethel)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, 11-2241-6(Kaiserin in Bethel, 1917) 95-13-16 (Dr. Bernhard Mosberg), 95-13-74 (Artur-Ladebeck-Straße 6, früher Koblenzer Straße 4, 1960, ca.

Andere Archive

Literatur

Online-Ressourcen

Auskünfte

  • Auskunft des Stadtarchivs Marsberg v. 15.2.2024

Erstveröffentlichung: 01.02.2024

Hinweis zur Zitation: Rath, Jochen, 20. Februar 1874: Geburt des Arztes Dr. Bernhard Mosberg in Bielefeld,  https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2024/02/01/0102024/ , Bielefeld 2024

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