• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
Es war eine der „größten und eindrucksvollsten Trauerfeiern“, die Bielefeld in der noch jungen Bundesrepublik erlebt hatte. Am 23. Februar 1967 gaben mehr als tausend Menschen einem Mann ihr letztes Geleit, der nach dem Zweiten Weltkrieg an der politischen Entwicklung Bielefelds und Nordrhein-Westfalens maßgeblich beteiligt war, dessen Wort in der Stadt, im Land und im Bund Gewicht hatte: Emil Gross. Der Verleger und sozialdemokratische Politiker war am 19. Februar 1967 im Alter von 62 Jahren an einem Schlaganfall gestorben. Welche Bedeutung sein Tod in den verschiedenen politischen Milieus der Stadt hatte, konnte den Nachrufen der Bielefelder Tageszeitungen entnommen werden. Während das konservative Westfalen-Blatt respektvoll Abschied nahm und dem Verstorbenen attestierte, dass sein Name „im Buch der Stadt unauslöschlich eingeprägt“ bleibe, berichtete die von Gross herausgegebene Freie Presse gleich über mehrere Seiten über sein Lebenswerk und machte zwischen den Zeilen deutlich, dass mit ihm eine Ära zu Ende gegangen sei, dass sein Tod eine Zäsur darstelle. Wer war Emil Gross, an den heute in der westlichen Innenstadt ein Platz gleichen Namens erinnert?

Emil Gross wurde am 6. August 1904 in Bielefeld geboren. Sein Vater Adolf Groß, er schrieb seinen Namen noch mit „ß“, war Dreher in der Bielefelder Metallindustrie, der Beruf von seiner Mutter Johanne, geborene Höpker, ist nicht bekannt. Emil hatte zwei jüngere Brüder, die 1910 und 1913 geboren wurden; eine vor ihm geborene Schwester ist bereits ein halbes Jahr nach ihrer Geburt verstorben. Emil Gross wuchs in einem sozialdemokratischen Milieu auf; sein Vater war seit 1903 Mitglied der SPD, hatte aber wohl keine Funktionen in der Partei übernommen. Die Familie wohnte im Bielefelder Westen (zunächst in der Siegfriedstraße, seit 1905 in der Rolandstraße), der im frühen 20. Jahrhundert ein typisches Viertel von gut ausgebildeten Handwerkern und Facharbeitern war. Das zeigte sich auch in der 10. Bürgerschule, der Gutenbergschule, in die Emil acht Jahre lang ging. In seinem letzten Schuljahr 1917/18 zählte seine Klasse 48 Schüler, ausschließlich Jungen, deren Väter Schlosser, Dreher, Lageristen, Heizer, Kupferschmied, Buchdrucker, Tischler, Dachdecker und Klempner waren. Der Vater eines Schülers war Werkmeister, der eines anderen „Aufseher“. Viele gaben als Beruf „Arbeiter“ an, einige waren als Schaffner bei der Post beschäftigt, ein Vater war Kontorist, ein anderer „Händler“. Obwohl Emil ein guter Schüler war, musste er nach der 8. Klasse die Schule verlassen, weil seine Eltern für eine weiterführende Schule kein Geld hatten.

Emil Gross machte eine kaufmännische Lehre bei der renommierten Geschäftsbücherfabrik Eilers und arbeitete anschließend gut zwei Jahre als Angestellter bei der Fahrradsattelfabrik Wittkopp. Noch als Lehrling begann seine Politisierung: Am 22. Februar 1922 trat der Fünfzehnjährige der Sozialistischen Proletarierjugend bei. Nach deren Vereinigung mit dem Verband der Arbeiterjugendvereine (VAJV) zur Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) wechselte Gross am 1. April 1923 zur SAJ und wurde noch im gleichen Jahr ihr Vorsitzender in Bielefeld. Im August 1923 trat er in die SPD ein, gab 1924 seine Tätigkeit bei Wittkopp auf und wurde hauptamtlicher Funktionär im Bielefelder Parteibüro. Dem Bezirksjugendvorstand der SAJ gehörte er ebenfalls seit 1924 an. Zwei Jahre später, Emil Gross war erst 22 Jahre alt, wurde er zum Bezirksjugendleiter gewählt. Eine auch in der Weimarer Republik nicht alltägliche politische Kariere. Dass der junge Sozialdemokrat in der parteieigenen Bielefelder Tageszeitung „Volkswacht“ regelmäßig Artikel verfasste, war seinen Ämtern geschuldet. Er emanzipierte sich aber in dieser Zeit von seinem Protegé Carl Schreck (1873-1956), der die SAJ, wie es Michael Pörtner formulierte, eher „als Pflege der Unterhaltung und Geselligkeit mit Vorträgen und Wanderungen“ verstehen wollte. Der junge Gross setzte dem eine stärkere Politisierung der Jugend entgegen. Noch unter dem Eindruck der entbehrungsreichen Nachkriegs- und Inflationsjahre stehend, schrieb Gross 1927 in der Volkswacht: „Wir sehen heute in Deutschland eine immer stärkere Proletarisierung weiter Volkskreise. Wir sehen jedoch nicht, dass in diesen Kreisen mit der wachsenden Verarmung auch die politische Erkenntnis fortschreitet. Wir haben deswegen gerade im werdenden demokratischen Zeitalter zu erkennen, dass nicht nur eine gewaltige zahlenmäßige Entwicklung der Arbeiterorganisationen notwendig ist, sondern mit dieser Schritt halten muss eine politische Erziehungsarbeit. Es genügen nicht mehr schlagwortartige Hinweise auf Kapital und Arbeit, es ist notwendig geworden, wirtschaftliche und politische Begriffe zu klären. Wer wäre stärker berufen, diese Erziehungsarbeit zu leisten, als die Jugend.“

1928 besuchte Emil Gross ein halbes Jahr die Heimvolkshochschule Tinz in Thüringen, die nach dem Ersten Weltkrieg als „sozialistische“ Einrichtung im Schloss Tinz gegründet worden war. Dort bereitete er sich auf die „Hochbegabtenprüfung“ vor, die in Preußen talentierten Volksschülern ermöglichte, trotz fehlenden Abiturs zu studieren. Im November 1929 bestand er diese Prüfung und nahm im folgenden Jahr ein Studium der Staatswissenschaften an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin auf. Aufgrund seiner herausragenden Leistungen wurde er 1931 in die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufgenommen, die sein Studium mit einem Stipendium förderte.

An seinem politischen Engagement hielt Emil Gross während seines Studium fest. Bereits 1931 wurde er zum Vorsitzenden der Sozialistischen Studentenschaft der Berliner Hochschulen gewählt und war Mitglied des Hauptvorstandes der Sozialistischen Studentenschaft Deutschlands und Österreichs. Zeitzeugen erinnerten sich, dass sich Emil Gross vor allem als Organisator und Redner einen guten Ruf erworben hatte. In seiner herausgehobenen Position war er zwangsläufig an Konflikten mit nationalsozialistischen Studenten beteiligt. In einem Gestapo-Bericht aus dem Jahr 1937 heißt es rückblickend, dass es unter „seiner Leitung […] mehrfach zu Tätlichkeiten zwischen der republikanischen und der nationalsozialistischen Studentenschaft gekommen“ sei. Emil Gross war sich darüber bewusst, dass sein Leben nach der Machterhebung Hitlers am 30. Januar 1933 in Gefahr war. Noch bevor er sein Studium beenden konnte, floh er Ostern 1933 über Dortmund, wo seine Freundin und spätere Ehefrau Maria Schmidt (1903-1988) in einer Widerstandsgruppe der SAJ aktiv war, nach Amsterdam. Durch einen Gestapo-Erlass wurde ihm am 16. August 1937 die „deutsche Reichszugehörigkeit“ aberkannt. In den Akten des Bielefelder Einwohnermeldeamtes ist der Vermerk zu lesen: „Sobald Groß auftaucht, Nachricht geben. Staatspolizei.“

Amsterdam wurde zum „Mokum“ für jüdische und politische Emigranten, die Deutschland seit 1933 verlassen mussten. Mit diesem Begriff, der sich aus dem Hebräischen „makom“ herleitet und „sicherer Hafen“ bedeutet, bezeichneten Juden die Stadt, die seit dem 15. Jahrhundert vor Pogromen flohen und sich dort niederließen. Emil Gross wohnte im Amsterdamer Stadtteil Ijsselbuurt und engagierte sich sofort unter dem Pseudonym Jan van Dyck gegen Nazi-Deutschland. Mit Helmuth F. Kern (1905-1988) gründete er 1933 mit der „Freien Presse“ eine Exilzeitung für deutsche Sozialdemokraten, die sich in ihrem Untertitel als „Wochenblatt für geistige und politische Freiheit“ auswies. Die Zeitung wurde nicht nur in Amsterdam gelesen, sondern gelangte über ein konspiratives Verteilersystem, an dem auch Emil Gross‘ Freundin Maria Schmidt beteiligt war, bis ins Ruhrgebiet und nach Ostwestfalen. Im Januar 1934 musste jedoch die Zeitung aus politischen und ökonomischen Gründen eingestellt werde. Zum einen erwirtschaftete sie Verluste, weil die erwarteten legalen Verkäufe hinter den Erwartungen zurückblieben. Zum anderen fühlte sich die niederländische Regierung in ihrer Neutralität verletzt: Eine politische Agitation gegen Nazi-Deutschland von holländischem Boden wollte sie nicht dulden.

Emil Gross engagierte sich weiterhin im sozialdemokratischen Netzwerk Amsterdams. So organisierte er vor dem Hintergrund der Kriegspläne Hitlers mit dem niederländischen Gewerkschafter Edo Fimmen (1882-1942) einen „Erkundungsdienst über den Aufbau der deutschen Industrie“, mit dem er 1937 wieder in den Fokus der Gestapo geriet. Seine politische Tätigkeit war wirtschaftlich abgesichert: Von 1936 bis 1939/40 war er Geschäftsführer des niederländischen Handelsunternehmens „Alhando“ in Haarlem. Während sein Freund Edo Fimmen bereits 1939 nach England emigrierte, gelang Emil Gross die Flucht nicht. Nach dem Überfall deutscher Truppen auf die neutralen Niederlande im Mai 1940 und der schnellen Kapitulation kam es aber weder zu der erwarteten Verhaftungswelle politischer Gegner noch zur Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung. Barbara Beuys hat „die Stimmung“ Amsterdams im Sommer 1940 eindrucksvoll beschrieben. Nach anfänglicher Angst entwickelte sich ein fast schon sorgenfreier Alltag, verbunden mit dem Gefühl, in Sicherheit zu leben. Das Gefühl trog. Seit Oktober 1940 wurde jüdisches Leben in Amsterdam durch Verordnungen eingeschränkt, wenige Monate später auch politische Emigranten aufgespürt, verhaftet und nach Deutschland überführt. Emil Gross wurde am 2. April 1941 verhaftet und fünf Monate später vom Oberlandesgericht Hamm „wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Seine Haft verbüßte er im Strafgefangenenlager Oberems bei Gütersloh, während der er u.a. beim Betriebsamt in Bielefeld Koks schaufeln und in der Eisengießerei Tweer in der Senne arbeiten musste. Nach Verbüßung seiner Haftzeit stellte Tweer ihn „aufgrund seiner kaufmännischen Fähigkeiten“ als Betriebsassistenten ein.

Nach der Kapitulation und Befreiung vom Nationalsozialismus stand Emil Gross wieder in der ersten Reihe bei der Wiedergründung der SPD in Bielefeld. Im Vergleich zu den führenden Köpfen der 1933 verbotenen Partei, Carl Severing (1875-1952) und Carl Schreck, die das 70. Lebensjahr längst überschritten hatten, gehörte Gross mit seinen 41 Jahren zu den jüngeren Genossen, die die Partei bis in die späten 1950er Jahre maßgeblich prägen sollten. Nur vier Monate nach der Kapitulation konnten in der britischen Besatzungszone wieder Parteien gegründet werden: Am 16. September 1945 fand die erste Bezirkskonferenz ostwestfälischer Sozialdemokraten in Herford statt, den Antrag auf Wiedergründung eines „SPD-Kreisvereins Bielefeld-Stadt“ stellte Emil Gross am 5. Oktober 1945. Noch bevor die Partei im Januar 1946 offiziell zugelassen wurde, feierte die SPD ihre Gründung am 26. Oktober 1945 in der Rudolf-Oetker-Halle. Während Severing eine programmatische Rede zum Neuanfang der Partei hielt, referierte Gross über organisatorische Fragen, die der Partei ein neues Fundament geben sollten. Danach kam auf die zu gründenden Unterbezirke die Hauptarbeit vor Ort zu, wogegen die Bezirksleitungen eher überregionale Aufgaben wahrnehmen sollten.

Sein rednerisches und organisatorisches Talent spiegelte sich in den folgenden Jahren in vielen Ämtern und Mandaten wider. In der ostwestfälischen SPD war er zunächst Unterbezirksvorsitzender in Bielefeld und nach Severings Tod von 1954 bis 1967 Bezirksvorsitzender. Seit der ersten Kommunalwahl am 13. Oktober 1946 war er bis zu seinem Tod Mitglied des Bielefelder Stadtrats. Als Mitglied des Landesvorstandes der SPD zählte er zu den „Gründungsvätern“ des nordrhein-westfälischen Landtags, dem er von 1947 bis zu seinem Tod angehörte. Dort war über seine gesamte Wahlzeit Mitglied des Hauptausschusses, den er von 1956-1958 leitete, sowie seit 1950 Mitglied des Wiedergutmachungsausschusses, dessen Vorsitzender er seit 1962 war. Als stellvertretender Fraktionsvorsitzender hatte er „großen Anteil in der Rolle des Einfädlers bei den vorausgehenden Geheimverhandlungen“ zur ersten Koalitionsregierung von SPD, FDP und Zentrum, dem Kabinett Steinhoff (1956-58). 1956 wählte ihn seine Landtagsfraktion zum Vorsitzenden.

Mit dem Ende der SPD-geführten Koalition 1958 und dem mit dem Godesberger Programm (1959) eingeleiteten Umbruch veränderte sich auch die Rolle von Emil Gross in seiner Partei. 1961 nannte ihn „Der Spiegel“ einen „Polterer“, den die „SPD-Jungmänner“ ablehnten und nicht mehr zum Fraktionsvorsitzenden wählen wollten. 1962 wurde er zum ersten Mal nicht mehr in den Bundesvorstand seiner Partei gewählt, dem er seit 1946 angehört hatte. Das habe „ihn sehr getroffen“, stellte Elfriede Eilers (1921-2016) rückblickend fest, die von 1957 bis 1980 dem Bundestag und von 1966 bis 1977 dem Bundesvorstand der SPD angehörte. Auch im Bielefelder Bezirk rumorte es, vor allem jüngere Parteimitglieder kritisierten Emil Gross, der aus ihrer Sicht „die autoritäre Linie Carl Severings fortsetzte“. Zu einer Abwahl kam es aber nicht. Dafür genoss Gross nicht nur als Politiker, sondern auch als Verleger einen viel zu guten Ruf.
Es gehörte zu den Verdiensten der Siegermächte in den westlichen Besatzungszonen, bereits wenige Monate nach dem Krieg im Rahmen der Reeducation politische Handlungsräume zu ermöglichen. Dazu gehörte die Erlaubnis, politische Parteien auf Antrag gründen zu können, aber auch die Vergabe von Zeitungslizenzen. Im östlichen Westfalen konnte seit Juni 1945 die Neue Westfälische Zeitung aus Oelde gelesen werden, die im ehemaligen Volkswachtgebäude in Bielefeld bzw., wie es Carl Severing in seinen Memoiren schrieb, „im Gebäude und mit den Maschinen […] des geraubten SPD-Blattes“ gedruckt wurde. In der britischen Besatzungszone begann im August 1945 ein Bewerbungsverfahren zur Erteilung der Lizenzen. Gesucht wurden „Bewerbergruppen“, die „zumindest einen qualifizierten Journalisten mit deutlich politischem Hintergrund benennen“ mussten. Am 2. April 1946 erhielten die Sozialdemokraten Emil Gross, Hans Carlmeyer, Paul Eilers und Jacob Triem die Lizenz Nr. 36 für die Freie Presse; am 15. März hatten bereits die CDU-Mitglieder Alfred Hausknecht und Dr. Dieter Lauenstein die Lizenz Nr. 13 für die Westfalen-Zeitung, das spätere Westfalen-Blatt erhalten. Carl Severing, der zu den Antragstellern der Freien Presse gehörte, wurde von den Briten von der Lizenzerteilung ausgeschlossen, weil sie ihn „für politisch nicht zuverlässig“ hielten, was Severing zwar ärgerte, aber von ihm „als kleiner Wermutstropfen“ abgehakt wurde. Schließlich übernahm er die Schriftleitung und behielt sie bis 1948. Als die Freie Presse das erste Mal am 3. April 1946 erschien, wurde Emil Gross als Lizenzträger und Verlagsleiter ausgewiesen. Damit begann die berufliche Kariere des Verlegers Emil Gross, der sich aber selbst als politischer Verleger begriff.

Mit der Freie Presse war kein Parteiorgan im herkömmlichen Sinn gegründet worden, sondern vielmehr eine Tageszeitung, die für die Ziele der Sozialdemokratie eintrat. Darauf hatte Severing bereits in der ersten Ausgabe hingewiesen. Emil Gross ging noch einen Schritt weiter. In der Sozialistischen Rundschau, für die Emil Gross seit der ersten Ausgabe im April 1946 verantwortlich war, betonte er, dass „Pressepolitik im wahrsten Sinne des Wortes Parteipolitik“ sei, und folgerte: „Keine andere Partei im Bezirk zählt so viele Mitglieder wie die SPD, es müsste deswegen möglich sein, unser Ziel zu erreichen, wenn jedes Parteimitglied in diesem Sinne tätig sein wird. Leser der Freien Presse sind morgen sozialdemokratische Wähler und können übermorgen SPD-Mitglieder sein!“ Das Konzept, mit einer sozialdemokratischen Tageszeitung sehr viele Menschen zu erreichen, schien anfangs aufzugehen. Im August 1948 zählte die Tageszeitung bereits 156.000 Abonnenten, deren Zahl täglich wuchs. „Unser Ziel aber sind 200.000 Abonnenten“, forderte Gross in der Sozialistischen Rundschau. „Erst wenn wir dieses Ziel erreicht haben, werden wir sagen können, dass wir nicht nur die größte Zeitung im Bezirk sind, sondern darüber hinaus den Einfluss erobert haben, welcher uns bei den künftigen Wahlen die Mehrheit sichert!“ Das Ziel des Verlegers wurde nicht erreicht, da nach dem Ende der Lizenzpflicht 1949 die Westfälische Zeitung wiedergegründet wurde. Zwar war die Freie Presse vor der Westfälischen Zeitung und dem Westfalen-Blatt weiterhin die meistgelesene Zeitung in Ostwestfalen, ihre Auflage ging aber in den 1950er Jahren kontinuierlich zurück.

Sofort nach dem Krieg kümmerte sich Emil Gross zusammen mit Carl Severing und Artur Ladebeck um die Rückgabe des von Nationalsozialisten 1933 beschlagnahmten SPD-Vermögens, vor allem des Volkswachtgebäudes und der dort aufgestellten Druckmaschinen. Bereits am 8. Februar 1946 wurde Emil Gross von der britischen Militärverwaltung zum Treuhänder des nach dem Verbot der Volkswacht an der Arndtstraße gegründeten „Zeitungsverlags für Westfalen“ bestellt. Dort wurde zwischen 1946 und 1950 auch die Westfalen-Zeitung bzw. das Westfalen-Blatt gedruckt, was aufgrund der politischen Ausrichtung der Zeitungen nicht immer reibungsfrei verlief. Als im August 1950 der SPD ihr Parteivermögen zurückerstattet wurde, jubelte Emil Gross: „Ein Unrecht wurde wieder gut gemacht“, das „Pressehaus […] gehört wieder der Sozialdemokratischen Partei“. Um publizistische Erzeugnisse der Partei, von der Freien Presse über den „Demokratischen Aufbau“ bis zu Büchern und Broschüren, aber auch „Druckerzeugnisse aller Art“ für den „Handel“ effizienter herstellen zu können, wurde unter der Leitung von Gross die Firma Presse Druck GmbH gegründet und 1953 das neue Druckhaus mit modernsten Rotationsmaschinen an der Karl-Eilers-Straße eröffnet. Obwohl die Auflagenhöhe der Freien Presse stark rückläufig war, wurde 1962 in Sennestadt ein weiterer Druckbetrieb errichtet.

Aus der Vogelperspektive betrachtet, erlebte die sozialdemokratische Presse in den 1950er und 1960er Jahren einen stetigen Niedergang. Davon war auch die Freie Presse betroffen, deren Auflagenhöhe seit den fünfziger Jahren sank und in der Mitte der sechziger Jahre gerade noch 81-85.000 Exemplare betrug. Welchen Anteil der Verleger Emil Gross, der seit 1951 auch Präsident und später Vizepräsident des Gesamtverbandes Deutscher Zeitungsverleger war, daran gehabt hat, kann hier nicht geklärt werden. Es wäre für ihn wahrscheinlich unvorstellbar gewesen, die Freie Presse aufzugeben. Dennoch sollte der Titel „Freie Presse“ schon bald Geschichte sein. Die Verhandlungen um eine Fusion mit der Westfälischen Zeitung können eigentlich nur als „geheime Kommandosache“ bezeichnet werden und sollen nur wenige Woche gedauert haben. Vier Monate nach dem Tod von Emil Gross wurde in einem kleinen Kreis über die Fusion verhandelt, das Ergebnis lag für die meisten vollkommen überraschend mit der Erstausgabe der Neuen Westfälischen am 3. Juli 1967 vor. Wie brisant diese Fusion anfangs für die sozialdemokratische Klientel war, zeigt ein Leserbrief von Landrätin Else Zimmermann (1907-1995): „Ohne Übergang lag plötzliche eine andere Zeitung auf dem Tisch. Unfassbar zunächst, so als habe uns ein guter Freund verlassen und dränge sich ein Fremder ungefragt an seine Stelle.“ Elfriede Eilers berichtete, dass mancher im SPD-Bezirksvorstand geweint habe.

Emil Gross erlebte die Fusion nicht. Er war am 19. Februar 1967 gestorben. Nach Ministerpräsident Heinz Kühn (1912-1992), der zur Trauerfeier nach Bielefeld gekommen war, gehörte Emil Gross zu den Menschen, die die Demokratie als Vorbilder brauche. Er habe, wie es ein Historiker einmal nannte, die „zweitrangigen Tugenden eines Politikers“ besessen: Redlichkeit, Zuverlässigkeit, Tüchtigkeit, Gescheitheit, Fähigkeit zur Freundschaft. Und Kühn stellte die rhetorische Frage: „Wäre es nicht besser bestellt, wenn diese zweitrangigen Tugenden in jedem Leben den ersten Rang einnähmen?“ Es war ein Leben für die Politik, das Emil Gross führte, das von ihm sehr viel Zeit und Engagement forderte. Es gab auch einen privaten Emil Gross, über den das Biographische Handbuch der deutschen Emigration mit seinen umfangreichen Hinweisen nicht berichtet: Er war seit 1947 mit seiner Jugendfreundin Maria Schmidt verheiratet, die 1936 von der Gestapo verhaftet, vom Volksgerichtshof zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde und von 1940 bis 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert war. Nach Elfriede Eilers hat sie zeit ihres Lebens unter den Haftbedingungen gelitten.
Quellen
- Demokratischer Aufbau. Sozialdemokratische Monatsschrift für Nordrhein-Westfalen, Bielefeld 1954-1965 (Landesgeschichtliche Bibliothek, SPD-Bestand)
- Sozialistische Rundschau, Bielefeld 1946-1952 (Landesgeschichtliche Bibliothek)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104.2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 100: Geburtsbuch des Standesamtes Bielefeld (1904), Bd. 2
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,7/Gutenbergschule, Nr. 39: Schülerverzeichnis (1917)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 250,2/SPD-OWL, Nr. 544: Protest (1933-1945)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Freie Presse (1946-1967), Neue Westfälische (1967), Westfälische Zeitung (1967), Westfalen-Blatt (1967)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Volkswacht
Literatur
- Barbara Beuys, Leben mit dem Feind. Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945, München 2012
- Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, bearb. v. Werner Röder/Herbert A. Strauss, München 1980
- Emil Gross. Eine kleine Bildauslese zu seinem 60. Geburtstag, zusammengestellt von Freunden, Bielefeld 1964
- Hans-Jörg Kühne, Die SPD in Ostwestfalen-Lippe nach 1945: Der Sieg der Traditionalisten, Regensburg 1995
- Michael Pörtner, Emil Gross und die „Freie Presse“. Die Biographie eines sozialdemokratischen Politikers und Zeitungsverlegers 1904 bis 1967, Magisterarbeit, Universität Bielefeld 1992
- Carl Severing, Mein Lebensweg, Bd. 2: Im Auf und Ab der Republik, Köln 1950
- Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005
- Bernd J. Wagner, 90 Jahre Volkswacht-Gebäude in Bielefeld, in: Initiativkreis Kunst im öffentlichen Raum (Hg.), Der Seher. Hommage à Laokoon, Bielefeld 2002, S. 10-48
Erstveröffentlichung: 1.2.2017
Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 19. Februar 1967: Der Politiker und Verleger Emil Gross stirbt in Bielefeld, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2017/02/01/01022017, Bielefeld 2017