31. Oktober 1923: Ernennung von Dr. Anne-Marie Morisse zur Oberstudienrätin

• Anna Vogt, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

„Auguste-Victoria-Schule: Die Wahl von Frl. Dr. Morisse zur Oberstudienrätin an der Auguste-Victoria-Schule wurde vom Minister bestätigt.“ Mit dieser Meldung in den Westfälischen Neuesten Nachrichten vom 31. Oktober 1923 wurde die Öffentlichkeit über die Beförderung der Lehrerin Anne-Marie Morisse (1877-1942) in Kenntnis gesetzt – einer politisch engagierten Frau, die in der Bielefelder Stadtgeschichte, unter anderem als eine der ersten weiblichen Stadtverordneten, ihre Spuren hinterließ. Zeit ihres Lebens setzte sie sich für Bildung, Frauenrechte und liberale Ideen ein, gab ihr Wissen weiter und hinterließ bei vielen ihrer Zeitgenossen einen bleibenden Eindruck. Folgerichtig hieß es in ihrer Todesanzeige 1942 anerkennend „Sie wird durch ihr vorbildliches Wirken unvergessen bleiben.“

Dr. Anne-Marie Morisse (1877-1942). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,4/Fotoalben, Nr. 174-34 (Ausschnitt)

Ausbildung zur Lehrerin und Studienzeit

Johanne-Marie Morisse, genannt Anne-Marie, wurde am 30. Mai 1877 in Elberfeld geboren. Das seit 1929 zu Wuppertal zählende, industriell geprägte Elberfeld war damals noch eine eigenständige Großstadt mit über 100.000 Einwohnern. Morisses Vater war als „Aktien-Gesellschafts-Prokurist“ tätig, die Mutter Auguste Johanne, geborene Suffert, kümmerte sich um die Familie mit den zwei Geschwistern Milli und Rudolf. Insgesamt wuchs Morisse in bürgerlichen Verhältnissen auf, geprägt durch einen fest verankerten evangelisch-lutherischen Glauben und eine ausgeprägte Bildungsorientierung.

Zunächst besuchte Morisse die städtische höhere Mädchenschule in Elberfeld-West und legte danach – nach dreijähriger Ausbildungszeit –  am Lehrerinnenseminar Elberfeld 1902 die Prüfung für den Unterricht an höheren und mittleren Mädchenschulen ab. Die Wahl des Berufs der Lehrerin war zu dieser Zeit typisch für Frauen. Nach ihrem Abschluss war Morisse als Hilfslehrerin in Vollvertretung an der höheren Mädchenschule Elberfeld tätig, doch vermochte diese berufliche Tätigkeit sie offenbar nicht zu erfüllen – sie strebte nach mehr. Wissensdurst und Neugier motivierten sie, sich für ein Studium an der 1818 in Bonn gegründeten Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu entscheiden. Als Studienfächer wählte sie ab 1904 die Fächer Deutsche Philologie, Geschichte und Philosophische Propädeutik. Außerdem – so vermerkte es Morisse in ihrem handgeschriebenen Lebenslauf in ihrer Personalakte ganz ausdrücklich – besuchte sie während ihrer Studienzeit auch volkswirtschaftliche Vorlesungen, ein früher Hinweis auf ihre breit gefächerten Interessen und ihren Wunsch, Sachverhalte über Fachgrenzen hinweg zu begreifen. Parallel zur Studienzeit legte Morisse nach privater Vorbereitung Ostern 1909 das Abitur am Kaiser-Wilhelm-Realgymnasium in Koblenz ab. Die sogenannte „Maturitätsprüfung“ war notwendig, um an der Universität zu Prüfungen zugelassen zu werden. Im Jahr 1911 meldete sich Morisse sodann zur Staatsexamensprüfung für das Lehramt an höheren Schulen an. Zur Bearbeitung erhielt sie das Thema: „Friedrich Theodor Vischers Wandlungen in der Ästhetik.“ Die mündliche Prüfung fand am 29. Juli 1911 statt. In Ihrem Prüfungszeugnis heißt es:
„Fräulein Anne-Marie Morisse hat die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen bestanden, und zwar ist ihr nach dem gesamten Ergebnis der schriftlichen und mündlichen Prüfung das Zeugnis mit Auszeichnung bestanden zuerkannt worden.“

Doch mit dem Staatsexamen alleine wollte sich Morisse nicht zufriedengeben, weshalb sie zusätzlich noch promovierte: Ihre Dissertation verfasste sie über das Werk des Schriftstellers Ernst Adam von Wildenbruch (1845-1909). Der Titel der Arbeit lautete „Die epische Kunst und Kunst-Technik Ernst von Wildebruchs als Ausdruck der artistischen und menschlichen Sonderpersönlichkeit des Dichters“. Wie schon ihr Staatsexamen schloss Morisse ihre Dissertation mit Auszeichnung, „Summa cum laude“, ab.

Handgeschriebener Lebenslauf von Anne-Marie Morisse vom 20.12.1912 aus ihrer Personalakte, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, Nr. B 0357

Aufgrund ihrer ausgeprägten Forschungsinteressen zog es Anne-Marie Morisse nicht umgehend in den Berufsalltag. Nach bestandener Prüfung blieb sie zunächst an der Universität, um sich Studien in anderen wissenschaftliche Fachgebieten, insbesondere der Psychologie, zu widmen. So belegte sie im Wintersemester 1911/12 Kurse zu experimentell-psychologischen Studien am Institut von Professor Dr. Külpe. Der Philosoph und Psychologe Oswald Külpe (1862-1915) lehrte seit 1909 an der Universität Bonn und begründete die sogenannte Denkpsychologie (heute Kognitionspsychologie). Es kann nur vermutet werden, dass gerade die Auseinandersetzung mit Themen wie Logik und der kognitiven Problemlösung für die promovierte Pädagogin im Kontext von Lernen und Wissensvermittlung von besonderem Interesse waren. Auch in ihren literaturwissenschaftlichen Analysen setzte sie ihre Erkenntnisse häufig in Bezug zu psychologischen Überlegungen. Zudem macht die Auseinandersetzung mit noch jungen wissenschaftlichen Strömungen deutlich, dass Morisse nicht nur den Diskurs in etablierten, klassischen Forschungsfeldern verfolgte, sondern über eine besondere Offenheit und Aufgeschlossenheit für neue Ideen und Theorien verfügte.

Erste berufliche Stationen in Bielefeld

Ansicht der Auguste-Viktoria-Schule in der Viktoriastraße Nr. 7 aus dem Jahr 1907, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 24-202-2

Im April 1912 trat sie nach Abschluss der Studienzeit ihre erste Stelle als Oberlehrerin am Bielefelder Ceciliengymnasium an, einer privaten höheren Töchterschule mit protestantischer Prägung. Die mittlerweile verwitwete Mutter zog mit nach Bielefeld und lebte im gleichen Haushalt in der Hermannstraße Nr. 36. Noch im gleichen Jahr, im Dezember 1912, wurde Morisse als Nachfolgerin einer aus Krankheitsgründen ausgeschiedenen Oberlehrerin an die Kaiserin- Auguste-Viktoria-Schule berufen, dem heutigen Gymnasium am Waldhof (von 1947-1996 „Bavink-Gymnasium“). Bei der Auguste-Viktoria-Schule handelte es sich um ein städtisches Lyzeum mit Oberlyzeum für Mädchen, das im Zuge der Errichtung einer Studienanstalt Bedarf an akademischen Lehrkräften hatte. Beworben hatte sich Morisse bei dem im Juli 1911 zum Schulleiter beförderten Dr. Max Kämmerer, der wie Morisse aus Elberfeld stammte. Die neue Stelle an der Auguste-Viktoria-Schule trat sie am 1. April 1913 an und war in der Folge über 15 Jahre bis zu ihrem Wechsel 1928 nach Herford als Oberlehrerin in Bielefeld tätig.

Ihr berufliches Wirken an der Auguste-Viktoria-Schule war direkt zu Beginn geprägt von einer Ausnahmesituation. Die krisenhafte Zeit des Ersten Weltkriegs hatte den Schulalltag fest im Griff. Unterricht fand nur provisorisch und mit der Unterstützung kurzfristig eingestellter Hilfskräfte statt, da sich zahlreiche männliche Lehrer im Kriegsdienst befanden. Neben der theoretischen Wissensvermittlung standen für Schülerinnen und Lehrkräfte vor allem praktische Hilfstätigkeiten für Soldaten und Verwundete auf dem Programm. In der Festschrift zum Schuljubiläum aus dem Jahr 1933 wird das Schulgeschehen zur Zeit des Ersten Weltkriegs plastisch beschrieben: „Lehrerinnen und Schülerinnen haben sich für das Vaterland eingesetzt, einerlei ob es galt, den durchfahrenden Truppenteilen Stärkung zu bringen oder die Verwundeten durch Liebesgaben zu erfreuen oder in den Handarbeitsstunden und daheim fleißig Strümpfe und Handschuhe zu stricken oder Geld zu sammeln. (…) Um gegen den immer drückender werden Mangel an Lebensmittel anzukämpfen, wurden fleißig Beeren und Früchte gesammelt. Später half man, Laub von den Bäumen zur Viehfütterung zu pflücken.“

Anne-Marie Morisse – von den Schülerinnen liebevoll als „Klassenmutter“ bezeichnet – sorgte sich in dieser Zeit engagiert um ein konstruktives Bewältigen der schwierigen Situation. Die ehemalige Schülerin Klara Zenke geborene Högemann, formulierte in der genannten Festschrift ihre persönlichen Erinnerungen an die Zeit zwischen 1914 und 1917. „Fräulein Dr. Morisse“ beschreibt sie als ihre „verehrte Klassenlehrerin“, die es verstand, die aktuellen Entwicklungen in Gesprächen für die Schüler einzuordnen und dadurch „zum Verständnis der Zusammenhänge“ beigetragen habe. Die Schilderungen zeigen überdies, dass trotz der herausfordernden Zeit zentrale schulische Aufgaben, wie Examensvorbereitungen, weiterhin durchgeführt wurden und sogar ein Abiturfest „dank guter ländlicher Beziehungen“ gefeiert werden konnte. Aber nicht nur in beruflicher Hinsicht war die Zeit herausfordernd. Im März 1918 verlor Morisse ihre Mutter; ihr Grab befindet sich auf dem Sennefriedhof.

Anbau der Auguste-Viktoria-Schule, 1928, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 24-202-4

Einsatz für die Volks- und Frauenbildung

Parallel zu ihrer schulischen Tätigkeit war es Morisse wichtig, ihr Wissen zu literaturwissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und sozialen Themen auch außerhalb des Klassenzimmers zu vermitteln. Zu diesem Zweck hielt sie zahlreiche wissenschaftliche Vorträge in Bielefeld und im Umland. Volksbildung und die niedrigschwellige Weitergabe von Wissen unabhängig von Standeszugehörigkeiten waren ihr ein besonderes Anliegen. So hielt sie im Februar 1916 für den „Verein für Frauenbildung-Fernstudium“ anlässlich des sich jährenden Todestages von Ernst von Wildenbruch einen Vortrag zu der zentralen Persönlichkeit ihres Dissertationsthemas („Ein Gedenkwort für Ernst von Wildenbruch“). Im Bielefelder Generalanzeiger wurde ihr Vortrag in einem Artikel vom 5. Februar 1916 aufgrund seiner inhaltlichen Dichte und der präzisen Darstellungen gelobt. So hieß es unter anderem:

„Der Vortrag brachte in fließend formvollendeter Rede ein reiches Material wissenschaftlicher Tatsachen, schütte eine Fülle von Gedanken über die Zuhörer aus. Er beleuchtete vom psychologischen Gesichtspunkt aus das Künstlertum Ernst v. Wildenbruchs und wies den engen Zusammenhang der Kunst dieses Dichters mit dem Gegenwartsleben unserer Nation nach. (…) Der anhaltend starke Beifall bewies, daß Frl. Dr. Morisse ihre Zuhörerschaft, an deren schnelle Auffassung der Vortrag einige Ansprüche gestellt hatte, nicht überschätzt hatte.

Artikel über das Drama „Wölfe“ von Romain Rolland in den Bielefelder Blättern für Theater und Kunst, 1. Novemberheft 1919, LgB ZJ 4 6

Auch in dem vom Stadttheater herausgegebenen Heft „Bielefelder Blätter für Theater und Kunst“ veröffentlichte Morisse Texte. Beispielsweise erschien im Novemberheft 1919 eine Analyse über das Stück „Wölfe“ des französischen Literaturnobelpreisträgers Romain Rolland (1866-1944), in dem Morisse die Handlung und Hauptmotive des Stücks, darunter die Staatsidee und die „Idee der Allgemeinheit“, bespricht.

Seit 1917 war Morisse außerdem im Städtischen Ausschuss für Volksbildung aktiv. Eine überparteiliche Gruppe hatte im August 1917 beim Magistrat die Bildung einer „Städtischen Lehrstelle für Rechts- und Staatsbürgerliche Bildung“ angeregt. Am 16. Oktober 1917 trat der Ausschuss unter der Leitung von Oberbürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst (1865-1944) erstmals zusammen. Neben Frau Dr. Morisse als einziger Frau gehörten dem Ausschuss unter anderem Carl Severing (1875-1950), Stadtbaurat Friedrich Schultz (1876-1945) und Amtsgerichtsrat Dr. Alfred Bozi (1857-1938) an. Sogenannte Aufklärungsvorträge sollten dazu beitragen, dass sich die Bevölkerung zu gesellschaftlichen und politischen Themen ein eigenes Urteil bilden könne.

Ankündigung des Volkshochschulkurses von Dr. Anne-Marie Morisse über „Soziale Strömungen in der Politik“, Westfälische Neueste Nachrichten, 11.09.1918, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6

Morisse unterstützte die Arbeit des Ausschusses nicht nur konzeptionell, sie bot auch selbst zahlreiche Bildungsveranstaltungen an. 1918 leitete sie einen zehnstündigen Volkshochschulkurs in der Aula der damaligen Handelsfachschule an der Herforder Straße zu dem Thema „Soziale Strömungen in der modernen Literatur“. Außerdem hielt sie im Zuge ihrer Ausschusstätigkeit Vorträge insbesondere zu „ihrem Thema“, der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Ihre Ausführungen unter dem Titel „Die Frau im öffentlichen Leben“ sorgten für stets gefüllte Reihen im Stadttheater, wobei sich besonders jüngere Frauen für das Thema interessierten. In ihren Analysen sprach Morisse die Doppelbelastung von Frauen und das „gewaltige Problem, Beruf und Mutterschaft“ zu vereinen an. Dabei betonte sie die besondere Verantwortung von Frauen bei der „Jugendfürsorge“ und stellte an das Ende ihrer Ausführungen – so berichtete des Bielefelder General-Anzeiger am 7. März 1918 – den Ausblick auf einen neuen Frauentyp mit politischen Ambitionen:

Blick in den Zuschauerraum des Stadttheaters, in dem zahlreiche Aufklärungsvorträge im Zuge der Volksbildung gehalten wurden, Foto: Gustav Haeyn Wilms, 1909, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-4-113

„So wird ein neuer Frauentyp entstehen, bei dem vielleicht am wenigsten gern der staatsbürgerliche und politische Zug gesehen wird. In einem Staate aber, wo die letzten Entscheidungen im Spiel der Kräfte auf politischem Gebiet erfolgen, muß die Frau Einfluß auf ihre Angelegenheiten erlangen und das kann sie nur, wenn sie politische Rechte erhält.“

Noch vor der Einführung des Frauenwahlrechts sprach sich Morisse damit klar für Chancengleichheit und politische Teilhabe von Frauen aus. Frauen sollten nicht von einer männlich dominierten Politik fremdbestimmt sein, sondern ihre Dinge selbst in die Hand nehmen können. Dieser Maxime folgend, engagierte sie sich auch selbst politisch.

Politisches Engagement und Eintritt in die DDP

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 stellte sich in Deutschland ein politischer Umbruch ein, auch gesellschaftliche Verhältnisse veränderten sich. Am 30. November trat das Reichswahlgesetz in Kraft, das das aktive und passive Frauenwahlrecht in Deutschland einführte. Folgerichtig warben auch die politischen Parteien von nun an engagiert um die Stimmen der Frauen.

Ankündigung des Vortrags „Die Frau im öffentlichen Leben“ von Dr. Anne-Marie Morisse am 3. Januar 1918 in der Westfälischen Zeitung, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50

Von den Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen wurde vor dem Hintergrund des geänderten Wahlrechts erwartet, im Sinne der „Volksaufklärung“ die wahlberechtigten Frauen über ihr neues Recht zu informieren. Mit ihrer umfassenden Bildung und ihrem politischen Selbstverständnis als unabhängiger Frau mit einem besonderen Sendungsbewusstsein, kam Anne-Marie Morisse diesem Auftrag besonders engagiert nach. Es war ihr wichtig, ihre Ideen politisch einzubringen und andere Frauen zu ermuntern, sich für ihre Belange einzusetzen. Daher unterstützte sie auch die Arbeit des Bielefelder „Vereins für Frauenstimmrecht“, der bereits Mitte 1918 Räumlichkeiten in der Obernstraße Nr. 49 eingerichtet hatte, um eine Anlaufstelle für Frauen zu bieten. Täglich ab sechs Uhr abends war eine „ständige Auskunftsstelle“ geöffnet, die Fragen zum Wahlrecht parteipolitisch neutral beantwortete. Auch Anne-Marie Morisse hielt hier Vorträge und informierte wahlberechtigte Bürgerinnen über ihre neuen Rechte.

Ihr persönliches politisches Engagement führte 1919 zur Aufstellung als Kandidatin bei der Wahl zur Bielefelder Stadtverordnetenversammlung. Morisse war zuvor der 1918 gegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP) beigetreten, einer linksliberalen Partei, die in der Weimarer Republik neben der Deutschen Volkspartei (DVP) den politischen Liberalismus repräsentierte. Für die DDP hielt Morisse ab Dezember 1918 eine Vortragsreihe „zur allgemeinen politischen Aufklärung der Frau“, um möglichst viele Frauen politisch zu aktivieren. Zahlreiche Lehrkräfte, jüdische Bürgerinnen und Bürger gehörten zur damaligen Zeit der DDP an, ebenso der Bielefelder Amts- und Landgerichtsrat Carl Jockusch (1875-1950), der spätere Parteivorsitzende der DDP in Bielefeld. Auf der Kandidatenliste der DDP für den Wahlbezirk 17 wurde Morisse auf Platz 3 von insgesamt 13 Kandidaten genannt. Nach der Wahl konnte die Partei am 2. März 1919 achtzehn Prozent der Stimmanteile auf sich vereinen, was zehn Sitze im Stadtparlament bedeutete und Morisse einen Platz im Rat sicherte.

Kandidatenliste der DDP für den 17. Wahlbezirk mit Nennung der Oberlehrerin Dr. Anne-Marie Morisse in der Westfälischen Zeitung, 10.1.1919, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50

Es kann nur vermutet werden, dass dieses außergewöhnliche politische Engagement in den Kreisen ihres Kollegiums nicht nur auf Zustimmung stoß. Seitens des langjährigen Lehrers an der Auguste-Viktoria-Schule, Dr. Bernhard Bavink, dessen Namen die Schule von 1946 bis 1996 trug, ist zumindest ein offener Brief überliefert, der am 18. Dezember 1918 in der Westfälischen Zeitung erschien, und in dem er sich in deutlichen Worten gegen die DDP wandte: In der Partei würden alle „christentumsfeindlichen Strömungen liebevolle Pflege finden“, außerdem sei sie vor allem eine „Interessenvertretung des Händlertums“. Gleichwohl geht aus der Personalakte von Morisse hervor, dass Teile des Kollegiums sie in ihrer politischen Arbeit auch unterstützten: So konnte Morisse einen mehrwöchigen Urlaub im Zuge ihrer Kandidatur für die preußischen Landtagswahlen am 21. Februar 1921 nur wahrnehmen, weil Teile des Kollegiums die Vertretung auf freiwilliger Basis sicherstellten.

Wahl-Anzeige der DDP vom 11.1.1919 in der Westfälischen Zeitung, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50

Inhaltlich setzte sich Morisse in ihrer politischen Arbeit für die republikanische Staatsform ein, sprach sich für soziale Gerechtigkeit und freiheitliche Ideen aus und war eine Verfechterin der Trennung von Staat und Kirche. Außerdem betonte sie in ihrer Rolle als Pädagogin und Lehrerin stets die besondere Verantwortung von Frauen bei der Erziehung der Jugend. Dabei adressierte sie Themen, die bis heute aktuell sind, wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Herausforderungen bei der Pflege von Familienangehörigen und die Einseitigkeit von Entscheidungen in Bereichen, die vor allem von Männern dominiert sind.

Der politische Erfolg der DDP nahm im Laufe der 1920er Jahren stetig ab: Obwohl die Partei in Bielefeld vergleichsweise gute Ergebnisse erzielte, reduzierte sich die Anzahl der Mandate bei der Stadtverordnetenversammlung 1924 auf vier Sitze, bei der Wahl 1929 waren es lediglich 2 Sitze. Dennoch blieb Morisse weiterhin Mitglied der DDP, wenngleich ohne weiteres Mandat und eine aktive politische Position.

Berufung zur Leiterin des Staatlichen Oberlyzeums in Herford

Mit der Berufung zur Studiendirektorin und Leiterin des Staatlichen Oberlyzeums in Herford (heute: Königin-Mathilde-Gymnasium) im September 1928 endete für Morisse die Zeit als Oberlehrerin an der Bielefelder Auguste-Viktoria-Schule. Unter der Überschrift „Ehrenvolle Berufung“ berichtete die Westfälische Zeitung am 5. September 1928, dass Fräulein Dr. Morisse vom Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung zur Studiendirektorin an das Staatliche Oberlyzeum nach Herford abgeordnet wurde. Lobende Erwähnung fanden unter anderem ihre „großen Verdienste“ um die Volksbildung, außerdem wurde ihr politischer Einsatz für kulturelle und soziale Themen hervorgehoben. Der Artikel endete mit dem Hinweis „Mit Bedauern sieht man Fräulein Dr. Morisse, die ihren Lehrberuf mit idealer Hingabe erfüllte, aus ihrem Bielefelder Wirkungskreise scheiden.“

In Herford war Morisse die erste weibliche Schulleiterin am Oberlyzeum und sah sich konzeptionell und pädagogisch mit neuen Herausforderungen konfrontiert, da kurz zuvor eine Oberstufe an der Schule eingerichtet worden war. Zudem stand für die Schule 1929 der Umzug in das noch heute genutzte Schulgebäude an der Vlothoer Straße Nr. 1 an, in dem sich auch die Dienstwohnung befand. Im Zuge ihrer Tätigkeit als Schulleiterin konnte sie die Schule als anerkanntes Vollgymnasium für Mädchen etablieren und führte zahlreiche junge Frauen zum Abitur. Ehemalige Schülerinnen erinnern sich rückblickend positiv an Morisse und beschreiben sie als prägende Persönlichkeit. Betont wurde ihre Gabe, auch schwierige Sachverhalte „ohne unsachgemäße Vereinfachung“ klar zu vermitteln.

Entlassung zu Beginn des Nationalsozialismus

Schreiben des Provinzialschulcollegiums in Münster mit der Bitte um möglichst baldigen Amtsantritt von Dr. Anne-Marie Morisse am Oberlyzeum Herford, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, Nr. B 0357

Die Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler am 19. Januar 1933 veränderte die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf allen Ebenen. Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das am 7. April 1933 in Kraft trat, war es den nationalsozialistischen Machthabern möglich, unliebsame Beamte aus ihren Positionen zu entfernen. Als politisch engagierter Frau mit einem demokratischen Grundverständnis geriet auch Anne-Marie Morisse schnell in den Blick der Nationalsozialisten. Eine erste Vernehmung Morisses zu ihrer staatsbürgerlichen Einstellung erfolgte bereits am 18. August 1933. Seitens des beim Oberpräsidenten der Provinz Westfalen diesbezüglich anberaumten Untersuchungsausschusses wurden ihr die Parteimitgliedschaft bei der DDP sowie lobende Worte für den sozialdemokratischen Politiker Carl Severing vorgeworfen. Anne-Marie Morisse versuchte, die Anschuldigungen zu entkräften und legte im Nachgang der Befragung eine schriftliche Beschwerde ein, da die Art der Befragung kränkend und beleidigend gewesen sei. Bei einer erneuten Vernehmung versuchte Morisse ihre Stellung als Schulleiterin zu halten, indem sie darauf verwies, schon seit Jahren nicht mehr politisch aktiv zu sein – doch ihre Erklärungen vermochten den Ausschuss nicht zu überzeugen. Zudem lagen diesem aus dem Kreis des Nationalsozialistischen Lehrerbundes vermeintlich diskreditierende Aussagen vor, welche die Integrität der Schulleiterin in Abrede stellten. Die acht Seiten umfassende Stellungnahme des Untersuchungsausschusses kam in der Folge zu dem Ergebnis, dass Anne-Marie Morisse aus ihrem leitenden Amt zu entheben und zur Studienrätin herabzustufen sei. Der parteipolitisch motivierten Infragestellung der eigenen beruflichen Stellung konnte Morisse selbst zu dem Zeitpunkt nur noch wenig entgegensetzen: Ihr Antrag auf Aufnahme in den Nationalsozialistischen Lehrerbund wurde abgelehnt und ihre Versicherung, sie habe sich hinter den nationalsozialistischen Staat und seine pädagogischen Forderungen gestellt, fand kein Gehör. 

Streberegistereintrag Nr. 127/1942 von Dr. Anne-Marie Morisse, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/ Standesamt, Nr. 300-1942

Am 31. August 1933 wurde Anne-Marie Morisse schließlich beurlaubt und von ihren Amtspflichten entbunden. Es folgte die Rückversetzung auf die Position einer Studienrätin, wobei sie durch den Oberpräsidenten am 22. Dezember 1933 nach Castrop-Rauxel versetzt wurde. Tatsächlich kam es nicht zu der Versetzung, da Morisse – schwer angeschlagen und gesundheitlich gezeichnet – dienstunfähig wurde. Schlaflosigkeit, Depression und Erschöpfung waren die Folge des Ringens um ihre berufliche Position. Im Dezember 1933 ließ sie sich schließlich in den Ruhestand versetzen. Ihre Herforder Dienstwohnung räumte sie im Februar 1934 und zog im März wieder zurück nach Bielefeld in die Culemannstraße Nr. 1. Hier lebte sie gemeinsam mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Milly und dem langjährigen Dienstmädchen Karoline Weghorst. Am 17. Januar 1942 um 4.20 Uhr verstarb Anne-Marie Morisse im Alter von 64 Jahren im Franziskus-Hospital an den Folgen eines Schlaganfalls. Ihr Grab befindet sich auf dem Bielefelder Sennefriedhof.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 165: Volksbildung, 1917-1926
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,2/Hauptamt, Nr. 360: Volksbildung, 1926-1943
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, Nr. A 499; Nr. B 357
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/ Standesamt, Nr. 300-1942 (Nr. 127/1942)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 1377 (Hausbuch Hermannstraße)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,5/Nachlass Bernhard Bavink, Nr. 65, 67
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 5: Bielefelder Generalanzeiger v. 7.12.1912 u. 29.1.1916 u.5.2.1916; Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 11.9.1918; Nr. 39: Volkswacht v. 27.7.1918 ; Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 3.1.1918 u. 18.12.1918 u. 10.1.1919 u. 11.1.1919 u. 5.9.1928
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,9/Plakate, Nr. 532, 533, 534

Literatur

  • Bockholt, Doris Johanna, „Haltet euch bereit für Wille und Tat!“ Die Pädagogin und Stadtverordnete Annemarie Morisse (1877-1942), in: Sunderbrink, Bärbel (Hg.), Frauen in der Bielefelder Geschichte, Bielefeld 2010, S. 111-119 (LgB J70 202)
  • Spanuth, Ilse, Prägungen. Biografie einer Mädchenklasse der Königin-Mathilde-Schule Herford 1937-1946, Bielefeld 2005 (LgB Sch 110 485)
  • Warning, Wilhelm, Festschrift zum Doppeljubiläum der Auguste Viktoria-Schule zu Bielefeld. 1828-1928 und 1858-1933, Bielefeld 1933 (LgB Sch 110 117)
  • Stadttheater Bielefeld (Hg.), Bielefelder Blätter für Theater und Kunst, Bielefeld 1919 (LgB ZJ4 6)

Erstveröffentlichung: 01.10.2023

Hinweis zur Zitation: Vogt, Anna, 31. Oktober 1923: Ernennung von Dr. Anne-Marie Morisse zur Oberstudienrätin, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2023/10/01/01102023/, Bielefeld 2023

Ein Kommentar zu „31. Oktober 1923: Ernennung von Dr. Anne-Marie Morisse zur Oberstudienrätin

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..