• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
„Die ‚Volkswacht’ nennt sich das Organ des werkthätigen Volkes. Das soll besagen, daß in ihren Spalten lediglich und allein die Interessen desjenigen, an Zahl weitaus größeren Teiles der Gesamtbevölkerung vertreten werden sollen, welchen im Gegensatz zu der mit einer größeren oder geringeren Kapitalmacht ausgerüsteten Klasse der Lohnherren die Besitzlosen ausmachen. Die Interessen dieser ‚Enterbten der Gesellschaft’ wird die ‚Volkswacht’ auf der Grundlage der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands wahrnehmen, durchdrungen von der Ueberzeugung, daß nur diese Partei die berechtigten Forderungen des Proletariats nach Anteilnahme an den materiellen und an den geistigen Gütern der Erde befriedigen kann.” Mit einem kaum zu überhörenden Paukenschlag erschien am 1. Juli 1890 mit der „Volkswacht” eine Tageszeitung, die in einem programmatischen Text keine Zweifel darüber aufkommen ließ, dass sie Parteilichkeit und Agitation, den Klassenkampf schlechthin auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

Die Irritation in der bürgerlichen Öffentlichkeit Bielefelds muss groß gewesen sein, herrschte doch das unter Reichskanzler Otto von Bismarck 1878 eingebrachte und mehrmals verlängerte Sozialistengesetz noch vor, das die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie” im Reich verhindern sollte, 1890 aber wie ein zahnloser Tiger seine letzten Tage fristete. Hans-Ulrich Wehler brachte das Scheitern des Sozialistengesetzes auf dem Punkt: „Aus dem Fegefeuer der Diskriminierung ging die Sozialdemokratie gestärkt hervor.” 1890 begann „der ‚Durchbruch’ der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften zur Massenbewegung.” Und die allerorten vorgenommene Gründung der „Arbeiterpresse” war ein sichtbares Zeichen dieser Entwicklung. Schon eine Woche vor dem Druck der ersten Ausgabe machten Jugendliche ihren Ärger kund und warfen eine Fensterscheibe der Redaktion und Druckerei ein, die sich am Oberntorwall befanden. Die „Volkswacht” reagierte mit Spott und machte sich über die Steinewerfer lustig, die sie im „nationalliberalen” Milieu verortete und abfällig als „kartellbrüderlichen Auswuchs der Stadt” bezeichnete. Zugleich nutzte sie den Vorfall, der „Bielefelder Post” Janusköpfigkeit in ihrer Berichterstattung vorzuhalten. Die nationalliberale Tageszeitung hatte sich einige Wochen zuvor über Scharen jugendlicher Arbeiter auf den Bürgersteigen beklagt, die nicht zur Seite treten wollten, um Bürgern Platz zu machen; der Vandalismus auf dem Oberntorwall war ihr aber keine Zeile wert.

Dass eine sozialdemokratische Zeitung im Sommer 1890 in Bielefeld gegründet werden konnte, lag vor allem an Gustav Slomke (1861-1939) und vielen anderen Menschen, die Anteilsscheine zur Gründung der „Volkswacht” erworben hatten. Slomke fungierte bis August 1891 als Verleger. Nach der Aufhebung des Verbots der SPD beschloss im Sommer 1891 eine Parteiversammlung, die „Volkswacht” in Parteibesitz zu überführen; Slomke und die Anteilseigner sollten das Startkapital zurückerstattet bekommen. Anerkennend berichtete die Zeitung, dass „sehr viele Inhaber von Anteilsscheinen” dieselben der Partei schenkten und damit auf das Geld verzichteten. Die SPD gründete einen als offene Handelsgesellschaft betriebenen Verlag mit Druckerei und Buchhandlung, deren Gesellschafter Bielefelder Parteimitglieder waren.
Solidarität und eine große Verbundenheit der Arbeiterschaft mit „ihrer” Zeitung zeichnete die Gründungsjahre der „Volkswacht” aus: Sie traf von Beginn an auf ein großes Echo. Die erste Ausgabe in Höhe von 15.000 Exemplaren war schnell vergriffen. Weitere Zeitungen konnten nicht mehr gedruckt werden, weil die von den Schriftsetzern angefertigte Druckform nicht aufgehoben wurde. So rief die Redaktion bereits am 3. Juli 1890 die „Freunde und Parteigenossen” auf, „Exemplare der Nr. 1” wieder zurückzugeben, damit diese an auswärtige Interessenten versandt werden könnten. Unter dem Motto, dass ein „aufgeklärter Arbeiter nur die Arbeiterpresse” lese, wurde gleichzeitig für ein Abonnement der Tageszeitung geworben, „um deren regelmäßige Zusendung sich zu sichern”. Andere Bielefelder Tageszeitungen sollten sofort gekündigt werden, da „selbstverständlich” kein Mensch, „der des Lesens eines Blattes überdrüssig geworden ist”, gezwungen werden könne, dieses weiter zu halten. Und voller Zuversicht rief die Redaktion ihren Lesern zu: „Mögen sich also die Arbeiter Bielefelds und Umgegend durchaus nicht in ihrem Entschluß, fortan die ‚Volkswacht’ zu lesen und die liberale und konservative Presse zu verschmähen, beirren lassen.”

Mit der „Volkswacht” erschien erstmals in Bielefeld eine Tageszeitung, deren eindeutige Parteilichkeit die organisierte Arbeiterschaft in ihren Bann zog. In nicht selten epischer Länge über zwei, drei Ausgaben hinweg berichtete sie über Versammlungen der Berufsorganisationen, Gewerkschaften und der SPD, bezog Position „für die kleinen Leute”, wenn die Stadtverordneten über die Zukunft Bielefelds debattierten. Sie war schließlich auch ein Sprachrohr der streikenden Arbeiter – und das nicht nur in Bielefeld. Regelmäßig richtete die „Volkswacht” Appelle an ihre Leserschaft, streikende Arbeiter in Hamburg, im Ruhrgebiet oder in Berlin „tatkräftig” zu unterstützen. Ausführliche Artikel über die Hintergründe der Streiks sollten den „berechtigten Forderungen” der Arbeiter Nachdruck verleihen oder gegen Aussperrungen und den Einsatz von „Streikbrechern” Stellung beziehen. Aber auch die Positionen der Arbeitgeber wurden verkündet, allerdings nicht selten mit polemischen Kommentaren verbunden. Wie im Januar 1905, als die Arbeiter der Bauklempnerei und Laternenfabrik Lohmann streikten. In der „Arbeitgeber-Zeitung”, die von der „Volkswacht” als „Zentralorgan für Verhetzung und Aufreizung zum Klassenhaß” bezeichnet wurde, war eine Stellungnahme Lohmanns zu lesen, die auch die sozialdemokratische Zeitung übernahm. „So viele Worte, so viele Unwahrheiten!”, urteilte die „Volkswacht” über die Stellungnahme, die sie als „Geschreibsel” bezeichnete. Die Redakteure ließen vor dem Ersten Weltkrieg auch keine Zweifel darüber aufkommen, dass sie nicht nur politische Berichterstatter waren, sondern auch die Agitation beherrschten. So ließen sich im Januar 1905 Mitarbeiter der Volkswacht gemeinsam mit dem Geschäftsführer der Metallarbeitergewerkschaft und späteren Bürgermeister Josef Köllner von der Firma Lohmann inkognito als Streikbrecher anwerben, um anschließend ausführlich über dieses Husarenstück zu berichten: Die „Handwerksburschen” wurden freundlich empfangen, fürstlich bewirtet und erhielten zudem von dem Firmeninhaber Zigarren geschenkt. Als sich die vier „Streikbrecher” zu erkennen gaben und forderten, alle Arbeiter so gut zu behandeln, „gab es lange Gesichter”.
Diese Anekdote trug in Arbeiterkreisen gewiss zur Unterhaltung bei, die kompromisslose, parteiliche Haltung der Volkswacht, verbunden mit einer kämpferischen, oft polemischen Sprache brachte der „Volkswacht” aber oft Ärger ein, vor allem in einer Zeit, in der die Sozialdemokraten trotz Aufhebung des Sozialistengesetzes als „vaterlandslose Gesellen” galten. Carl Schreck (1873-1956) berichtete 1930 rückblickend: „Polizei und Staatsanwaltschaft boten alles auf, um durch schwere Strafen die materielle Existenz der ‚Volkswacht’ zu erschweren und vor allem den Redakteuren das Leben zur Qual zu machen.” Leidvolle Erfahrungen machte in dieser Beziehung Emil Groth, der für die Redaktion von der Gründung bis August 1894 verantwortlich zeichnete. In dieser Zeit saß er gut anderthalb Jahre im Gefängnis und musste zahlreiche Geldstrafen begleichen. Die Anzeigen waren stets gleichlautend: üble Nachrede, Diffamierung und Beleidigung. 1894 verließ er Bielefeld, um in Rostock eine Parteizeitung zu leiten. Seine Nachfolger, Bruno Schumann und Carl Hoffmann, bekamen in den Folgejahren ebenfalls die Härte der Justiz zu spüren.

Der Aufstieg der SPD zu einer Massenorganisation, deren Abgeordnete in den Stadtverordnetenversammlungen, Landtagen und im Deutschen Reichstag saßen, spiegelte sich auch in der Volkswacht wider. Auch die Redakteure und Verleger, die in den Gründungsjahren als Paria die Agitation allein mit der Feder und auf der Straße betrieben, saßen nun in den Parlamenten. Der bekannteste unter ihnen war Carl Severing, der 1907 überraschend in den Reichstag zog und in der Weimarer Republik Innenminister werden sollte. Bereits 1897 wurden in Bielefeld sechs sozialdemokratische Stadtverordnete gewählt, unter ihnen Carl Hoffmann und Albert Siggelkow von der „Volkswacht”. 1914 wurden Hoffmann und Karl Eilers, der von 1895 bis 1920 Gesellschafter der Volkswacht war, zu den ersten sozialdemokratischen Stadträten im Bielefelder Magistrat ernannt. Der Aufstieg war auch an der Arndtstraße sichtbar. 1912 entstand dort ein prächtiges Gebäude für die Redaktion, Druckerei und Buchhandlung der „Volkswacht”, das Macht und nicht zuletzt auch den Anspruch ausstrahlte, eine gesellschaftliche Institution zu repräsentieren, die man nicht ignorieren kann. Stolz und gleichsam kämpferisch schrieb die „Volkswacht”, dass ihr neues Gebäude „es mit jedem Regierungsgebäude aufnehmen” könne. Diesen Eindruck erziele das Gebäude aber „nicht durch eine Überladung an Zierraten, sondern durch die architektonische Massenwucht ihrer gewaltigen Fassade, deren schlichte Einfachheit den Besucher ahnen läßt, daß in diesen Räumen keine Feste gefeiert werden, daß hier Arbeit, fleißige Arbeit verrichtet wird. Und diese Arbeit konzentriert sich auf das eine Ziel: Befreiung der Arbeiter, Befreiung der Menschheit von den Ketten der Knechtschaft, von welcher Form sie sein, in welcher Verkleidung sie auftreten möge. Der Arbeit der Befreiung, die in der Aufklärung der geknechteten Menschheit besteht, soll der gewaltige Bau dienen.”
Der Burgfrieden im August 1914, als Sozialdemokraten den Kriegskrediten zustimmten, die Abspaltung der USPD und spätere Gründung der KPD und die Wahl des Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum ersten Präsidenten im demokratischen Deutschland waren vordergründig Anzeichen dafür, dass die SPD nicht nur in der Gesellschaft angekommen war, sondern auch weitgehend gesellschaftlich respektiert wurde. In den 1920er Jahren waren die Artikel in der „Volkswacht” moderater verfasst, ohne dabei die Grundlinie der Zeitung aus dem Blick zu verlieren. Nach wie vor berichtete sie ausführlich über Veranstaltungen der Arbeiterorganisationen, warb für genossenschaftliche Modelle wie den Konsumvereinen, beteiligte sich auch intensiv an den Wahlkämpfen und berichtete über Streiks. Konnte in den Gründungsjahren der Eindruck entstehen, dass die Redaktion fast sehnsüchtig auf neue Streikmeldungen wartete, um über diese dann euphorisch berichten zu können, wahrte die Volkswacht in dieser Zeit eine gewisse Distanz, ohne die Sympathie für die Streikenden aufzugeben.

Der Stil der Berichterstattung änderte sich mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten, der in Bielefeld mit der Wahl des NSDAP-Mitglieds Emil Irrgang im November 1930 zum Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung einen unrühmlichen Höhepunkt erlebte. Hier zeigte sich auch, dass Sozialdemokraten aus der Sicht der bürgerlichen Parteien noch immer die politischen „Schmuddelkinder” waren, mit denen man sich nicht abgeben wollte. Zu den alten Vorwürfen wie den der vaterlandlosen Gesellen kamen neue: Rechtsradikale und Deutschnationale beschimpften sie als „Novemberverbrecher”, womit sie den Sozialdemokraten die Schuld an der Niederlage des Ersten Weltkrieges gaben. Für alle bürgerlichen Parteien waren SPD und KPD gleichermaßen Marxisten, die nicht wählbar waren. Diese politischen Antipathien führten dazu, dass die Nationalsozialisten ihren Kandidaten durchsetzen konnten, obwohl die SPD die größte Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung stellte.
Die „Volkswacht” entwickelte sich fortan zu einem Kampfblatt „gegen die braune Flut” und wurde seit Dezember 1931 das regionale Presseorgan der Eisernen Front, bei der es sich um einen Zusammenschluss der Sozialdemokratie mit Gewerkschaften, dem „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold” sowie Arbeitersport- und Arbeitergesangvereinen im Kampf gegen den Nationalsozialismus handelte. Im Zuge der politischen Mobilisierung „spitzte sich die Polemik” zu und der „klassenkämpferische Jargon” weitete sich aus, beschreibt Gerd Meier, ein Experte der ostwestfälischen Zeitungsgeschichte, die Veränderungen der Tageszeitung. Nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 versuchte die „Volkswacht”, noch einmal die Massen gegen die drohende Diktatur zu mobilisieren. 8.000 Menschen nahmen Anfang Februar an einer Großkundgebung teil. Und voller Optimismus verkündete die Volkswacht: Es „werden noch mehr sein, viele werden sich hinzugesellen, wenn es gilt, sich selbst und die Rechte der Arbeiterschaft im entscheidenden Kampf zu verteidigen! In allen lodert die Kampfbegeisterung, aber alle wissen auch, daß Geschlossenheit, eiserne Ruhe jetzt oberstes Gebot sind.”

Es war ein letztes Aufbäumen der „Volkswacht”. Vom 23. bis 25. Februar 1933 wurde über die Zeitung „ein befristetes Verbot” verhängt, weil bereits am 31. Januar ein Plakat abgebildet war, das als „eine böswillige Verächtlichmachung eines leitenden Beamten des Staates” angesehen wurde. Das Plakat zielte auf die Notverordnung und enthielt den Text „Unser tägliches Brot nimmt uns Herr v. Papen”. Die politische Zensur versteckte sich noch hinter einem formalrechtlichen Akt. Am 27. Februar erschien die letzte Ausgabe der „Volkswacht”. „Bielefeld ist rot und bleibt rot!” war in großen Lettern zu lesen. Und: „Ihr könnt das Wort verbieten, ihr tötet nicht den Geist.” Es war ein letzter, trotziger, fast ohnmächtiger Aufschrei. Was dann folgte waren Verhaftungen, Flucht ins ausländische Exil oder innere Immigration. Das Gebäude und das Betriebsvermögen der „Volkswacht” wurden am 2. Mai 1933 beschlagnahmt, als am Tag nach dem „Tag der nationalen Arbeit” die freien Gewerkschaften zerschlagen wurden.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Volkswacht (1890-1933), Bielefelder Post (1890), Westfälische Zeitung (1890-1933)
Literatur
- Anja Kruke, Kommunikationsstrukturen in der Arbeiterbewegung im östlichen Westfalen, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Bielefeld 1999.
- Reinhard Lüpke, „Spiegel der Gesellschaft”. Entstehung und Entwicklung der Bielefelder Presse von 1811 bis heute, in: Andreas Beaugrand (Hg.), Stadtbuch Bielefeld. Tradition und Fortschritt in der ostwestfälischen Metropole, Bielefeld 1996, S. 660-663.
- Gerd Meier, Zwischen Milieu und Markt. Tageszeitungen in Ostwestfalen 1920-1970, Paderborn 1999.
- Bernd J. Wagner, 90 Jahre Volkswacht-Gebäude in Bielefeld (1912-2002), in: Der Seher. Hommage à Laokoon, hg. v. Initiativkreis Kunst im öffentlichen Raum, Bielefeld 2002, S. 10-49.
- Bernd J. Wagner, Der „rote Kamphof”, in: Viertel – Zeitung für Stadtkultur und mehr, Juli 2010, S. 7.
- Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution” bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995.
Erstveröffentlichung: 01.07.2010
Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 1. Juli 1890: In Bielefeld erscheint mit der „Volkswacht“ zum ersten Mal eine sozialdemokratische Zeitung, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2010/07/01/01072010/, Bielefeld 2010