31. Oktober 1930: Einweihung der Rudolf-Oetker-Halle

• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

 

„Die Einweihung der Oetkerhalle zeigte ein in Bielefeld noch nicht gesehenes gesellschaftliches Bild: Der allgemeine Eindruck war, daß hier durch die Hochherzigkeit der Familie Oetker ein Werk geschaffen ist, wie es wenige Städte Deutschlands aufweisen können.“ Der Bielefelder Fabrikant Wilhelm Huber (1869-1941) war noch am Abend des 31. Oktobers 1930 zutiefst beeindruckt, als er seine Gedanken seinem Tagebuch anvertraute. Für ihn war es eine „besondere Freude“, dass die „Akustik einwandfrei zu sein scheint.“ Der Sohn des ersten Oberbürgermeisters von Bielefeld, Ludwig Huber (1826-1905), war ein sehr musikalischer Mensch, der seit vielen Jahren Mitglied des Bielefelder Musikvereins war. Die Einweihung der Konzerthalle war für Huber auch ein Tag des Abschieds: „Für mich war es ein schmerzliches Bewußtsein“, ist in seinem Tagebuch zu lesen, „daß ich in der Halle, die wir seit Jahrzehnten erhofft haben, nicht mehr singen werde. Ich habe mich entschlossen, jetzt den Schnitt zu machen und nicht mehr im Chor mitzusingen.“

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Die Rudolf-Oetker-Halle an der Westseite des Bürgerparks (1935). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 73-5

Der Musikverein hatte sich bestimmt seit Jahrzehnten eine Musikhalle gewünscht, die groß genug und frei von den Widrigkeiten war, die zum Beispiel ein Konzert in der ehemaligen Tonhalle auf dem Johannisberg mit sich bringen konnte. Wenn es hagelte, wurden die Konzerte dort von einem störenden Trommelfeuer begleitet, bei Regen tropfte es schon mal von der Decke. Der große Saal der Gesellschaft Eintracht am Klosterplatz war zwar für solistische Konzerte geeignete, für den Chor des Musikvereins aber viel zu klein. Die Planungen zum Bau der Rudolf-Oetker-Halle dauerten nur wenige Jahre, in denen aber so manche Hürden überwunden werden mussten.

Am 14. Februar 1925 schrieb Oberbürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst (1864-1944) einen Vermerk über ein Gespräch mit dem Fabrikanten und „Teilhaber der Firma Dr. Aug. Oetker“ Dr. Richard Kaselowsky (1888-1944), der ihm mitgeteilt hatte, dass die Firma beabsichtige, „auf einem von der Stadt zur Verfügung zu stellenden Bauplatze eine Stadthalle zu bauen und der Stadt zu übereignen.“ In diesem Gespräch schlug der Oberbürgermeister ein Gelände zwischen dem Nebelswall, der Koblenzer Straße und der Obernstraße vor, auf dem 1968 die Kunsthalle eingeweiht werden sollte. 1925 waren dort das Städtische Museum sowie zwei private Eigentümer zu finden, deren Grundstücke angekauft werden sollten. Kaselowsky stimmte dem Vorschlag zu. Der Standort war gut gewählt: Während sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Norden und Osten Bielefelds Industrie angesiedelt hatte, war im Westen der Altstadt am Fuße des Johannisbergs ein Villenviertel entstanden, das zu der projektierten Halle natürlich besser passte, als industrielle Emmissionen jeglicher Art.

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Dr. Rudolf Stapenhorst (1864-1944) war von 1910 bis 1930 Oberbürgermeister von Bielefeld. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-19-67

Als Stapenhorst wenige Tage später in einem Schreiben von Planungen für eine „Stadthalle“ sprach, widersprach Kaselowsky vehement: Die Firma wolle keine Stadthalle, sondern eine „Musikhalle“ bauen, die zwar für „andere kulturelle Veranstaltungen“ wie Vorträge und Kongresse genutzt werden könnte, in der aber auf keinen Fall „Versammlungen politischen Charakters“ stattfinden dürften. Kaselowsky hatte bereits im Februar 1925 klare Vorstellungen von der Musikhalle: „Es soll ein großer Konzertsaal gebaut werden, der 1.500 – 1.600 Personen fasst und ein Kammermusiksaal für 3-400 Personen. Das Podium soll etwa 300 Choristen und 100 Mann Orchester fassen.“ Es ist wahrscheinlich, dass der Fabrikant im Vorfeld seiner Schenkungsabsicht mit Bielefelds Musikdirektor Prof. Wilhelm Lamping (1861-1929) oder dem Vorstand des Musikvereins gesprochen hatte, der Konzertsaal und das großzügig gestaltete Podium entsprachen jedenfalls den Wünschen des angesehenen Chores. Auch die weiteren Ausführungen deuten auf „professionelle“ Beratung hin: „An Nebenräumen wäre außer einem Künstlerzimmer vielleicht noch ein Stimmzimmer und ein Raum für die Aufbewahrung des Notenmaterials vorzusehen, und außerdem soll das Gebäude eine kleine Wohnung für den Hausmeister erhalten.“

Die Musikhalle, so Kaselowsky, sollte „zum Andenken an meinen Mitinhaber Dr. Rudolf Oetker“ unter dessen Namen firmieren. Dr. Rudolf Oetker (1889-1916), der einzige Sohn des Firmengründers Dr. August Oetker (1862-1918) und seiner Frau Karoline geb. Jacobi (1867-1945), hatte in Hannover und Bonn Chemie studiert und 1914 promoviert. Aus der Ehe mit seiner Frau Ida geborene Meyer entstammten die Tochter Ursula und der Sohn Rudolf August, der nach dem Tod seines Vaters geboren wurde. Rudolf Oetker, der 1914 zu den Ulanen eingezogen wurde, fiel 1916 im Alter von nur 26 Jahren bei Verdun. Ida Oetker heiratete 1919 in zweiter Ehe den Freund ihres verstorbenen Mannes, Dr. Richard Kaselowsky.

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Dr. Rudolf und Ida Oetker (um 1914). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-15-4

Kaselowsky schätzte die „Bausumme auf 600-700.000 Mark“ und kündigte an, diese in Teilbeträgen bereitzustellen, sodass „im Laufe des Jahres 1926 mit dem Bau begonnen werden“ könnte. Im Gespräch zwischen dem Fabrikanten und dem Oberbürgermeister hatte Stapenhorst auch auf die bestehende Wohnungsnot hingewiesen und um Hilfe gebeten. Deshalb bot Kaselowsky der Stadt an, einen nicht genannten Betrag, den er „im Laufe des Jahres flüssig machen“ könne, als „Hypothekengeld“ zum Bau von Kleinwohnungen, aber auch „für größere, durch Privatunternehmen herzustellende Wohnungen“ zur Verfügung zu stellen. Innerhalb weniger Tage lag damit ein Angebot vor, dass der Stadt nach den Notjahren der Weimarer Republik half, kulturelle und soziale Fragen zu lösen.

Stapenhorsts Reaktion mag auf den ersten Blick verwundern, ja, fast schon respektlos wirken. Er teilte Kaselowsky mit, dass er mit „Frau Kommerzienrat Dr. Oetker“ über die Kosten der Musikhalle gesprochen habe; gemeint war natürlich die Witwe des Firmengründers, Karoline Oetker. Sie seien übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass die Baukosten „doch wesentlich höher als Ihre Schätzung“ seien. Er bat den Fabrikanten, „die Kostenhöhe in Ihrem Schenkungsangebot gar nicht zu berühren. Bei einem Unternehmen mit so idealem Zweck und Wert darf es auf einige hunderttausend Mark mehr oder weniger nicht ankommen.“ Bei seiner „zurückhaltenden Schätzung“ habe Kaselowsky wohl „den Anschein unterdrücken wollen, als ob Ihrer Firma Mittel zur Verfügung ständen, die in der Öffentlichkeit eine gewisse Verwunderung auslösen würden“. Wohl wissend, dass Kaselowsky 1921 von seiner Schwiegermutter zum Teilhaber der Firma Oetker ernannt wurde, für Produktion, Finanzwesen und Rohstoffeinkauf verantwortlich zeichnete und damit zum wichtigsten Mann im operativen Geschäft aufgestiegen war, legte Stapenhorst Wert darauf, die Bedeutung des Familienunternehmens für Bielefeld in der Schenkungsabsicht zu betonen. Mit großem Pathos teilte er dem Fabrikanten mit: „Zu der Form des Angebots darf ich mir vielleicht noch eine, meinem persönlichen Empfinden entspringende Bemerkung gestatten. Es handelt sich um ein Dokument edlen Bürgersinnes und pietätvollen Familiensinnes, welches Jahrhunderte in der Geschichte unserer Stadt überdauern wird. Da scheint es mir angezeigt zu sein, diesem Dokument dadurch eine persönliche Note zu geben, dass alle Teilhaber Ihrer Firma unterzeichnen, zum mindesten neben Ihnen auch die Mutter des Mannes, dessen Namen durch die Stiftung geehrt und erhalten bleiben soll.“ Der Oberbürgermeister wollte auf jeden Fall die Unterschrift von Karoline Oetker und möglichst auch die von ihrem Schwager Louis, der ebenfalls 1921 Teilhaber geworden war und die Abteilungen Werbung und Verkauf leitete, unter dem Schenkungsvertrag sehen.

Wie ist Stapenhorsts Verhalten zu erklären? Vieles spricht dafür, dass das Alter des Oberbürgermeisters eine gewisse Rolle spielte. Dr. August Oetker, seine Frau Karoline und Stapenhorst gehörten einer Generation an: Die Oetkers wurden 1862 und 1867, Stapenhorst 1864 geboren. Als Fabrikantenehepaar und erster Repräsentant der Stadt gehörten sie zu den herausragenden Vertretern des städtischen Bürgertums, man kannte sich und schätzte sich wohl auch. Der deutlich jüngere Kaselowsky (Jahrgang 1888) wurde von Stapenhorst zweifelsohne respektiert, war aber 1925 erst vier Jahre in seinem Amt tätig. Der Oberbürgermeister wollte mit der Geste wohl seine Wertschätzung gegenüber der Gründerfamilie zum Ausdruck bringen.

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Dr. Richard Kaselowsky (1888-1944) war seit 1921 Mitinhaber der Firma Dr. Oetker. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-11-125

Kaselowsky reagierte prompt. In der Kostenfrage wollte er sich nicht „auf einen höheren Betrag“ festlegen lassen, räumte aber ein, dass er einen Mehrbetrag aufbringen werde, wenn sich „bei der Ausführung des Baues kleine Überschreitungen des Voranschlages ergeben“ sollten. In der Unterschriftenfrage reagierte er merkwürdig distanziert: „Ich werde Ihrem Wunsch gemäß das Schenkungsangebot von allen Inhabern meiner Firma unterzeichnen lassen“. Das offizielle Schenkungsangebot folgte mit den Unterschriften von Kaselowsky, Karoline und Louis Oetker am 5. März 1925. Die projektierte Musikhalle, die auf dem Museumsgrundstück errichtet werden sollte, entsprach mit Sicherheit dem Wunsch aller „Mitinhaber“, das Schenkungsangebot enthielt aber einen Passus, der darauf hinweist, dass es sich bei der Schenkung wahrscheinlich um eine Gewinnabführung aus dem operativen Geschäft handelte, für das Kaselowsky verantwortlich war. So heißt es dort: „Voraussetzung für die Durchführung unserer Schenkungsabsicht ist eine weitere Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse und eine weiter günstige Entwicklung unseres Unternehmens.“ Einen Tag später ging er auf diesen Satz ein und versuchte, möglichen Befürchtungen seitens der Stadt entgegenzuwirken: Die „Einschränkung“ der Schenkungsabsicht, dass „die weitere Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse für die Ausführung Bedingung“ sei, halte er „allerdings mehr für eine Formsache, da ich die feste Zuversicht habe, dass, wenn nicht ganz etwas Besonderes eintritt, wir in der Lage sein werden, die Sache so zu Ende zu führen, wie sie projektiert ist. Immerhin können wir auf diese Rückendeckung nicht verzichten, was Sie sicherlich auch verstehen werden.“

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Die Mitinhaber der Firma Dr. Oetker (Lina Oetker, Louis Oetker und Dr. Richard Kaselowsky) unterzeichnen am 5. März 1925 die Schenkungsabsicht. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand, 108,2/Magistratsbauamt, Nr. 204

Nachdem der Magistrat per Beschluss das Schenkungsangebot „dankend“ annahm, war es nun an der Stadt, den Bauplatz für die Musikhalle freizugeben. Dazu waren Verhandlungen mit Grundbesitzern notwendig, die sich anfangs vielversprechend zeigten, aber schon bald ins Stocken gerieten. Am 6. April 1925vermerkte Stapenhorst in einer Akte, er habe „Frau Lina Oetker und Herrn Louis Oetker mündlich mitgeteilt“, „dass sich die Annahme der Schenkung verzögert, weil die Platzfrage […] noch nicht zur Entscheidung reif“ sei. Im Oktober 1925 teilte Kaselowsky mit, dass er „beabsichtige, nunmehr in die Vorarbeiten für den Bau der ‚Rudolf Oetker-Halle‘ einzutreten.“ Die Bauplatzfrage war aber noch immer nicht geklärt. Um den Prozess zu beschleunigen, hatte Kaselowsky Kontakt mit dem renommierten Architekten Ernst Vetterlein (1873-1950) aufgenommen, der Professor für Städtebau und Siedlungswesen und 1925 Rektor der Technischen Hochschule Hannover war. Sein Entwurf wurde dem Bauausschuss unter Leitung des Bielefelder Architekten Bernhard Kramer (1869-1953) sowie Prof. Lamping, Theaterdirektor Max Cahnbley (1876-1959) und einem Vorstandsmitglied des Arbeitersängerbundes vorgelegt, die kleinere Veränderungsvorschläge machten und erklärten, dass Vetterleins Plan „eine gute Grundlage“ für die weitere Bearbeitung sei. Stapenhorst teilte dem Fabrikanten schließlich im Dezember mit, dass „die Planprüfer“ es dennoch „sehr begrüßen“ würden, „wenn Sie zur Erlangung endgültiger Baupläne einen engeren Wettbewerb zwischen Architekten eines beschränkten Gebietes, einschließlich Herrn Prof. Vetterlein, ausschreiben würden.“ Kaselowsky hatte dies auch nie in Frage gestellt und selbst in der Schenkungsabsicht einen Wettbewerb mit Preisgericht vorgesehen.

Während die geplante Musikhalle bei den Beteiligten langsam Gestalt annahm, zogen sich die Grundstückverhandlungen bis 1926 hin. Konnte Stapenhorst am 16. Februar 1926 noch mitteilen, dass die Verhandlungen mit einem Grundstückseigner „befriedigend gelaufen“ seien, so erhielt er einen Tag später von einem anderen eine Absage, der von dem städtischen Angebot nun „keinen Gebrauch“ mehr machen wollte. Einen Monat später legte Stapenhorst der Firma Oetker einen „neuen Plan und einen neuen Vertragsentwurf“ vor, in dem der ursprüngliche Standort gestrichen war und erstmals ein „Baugelände an der Westseite des Bürgerparks“ genannt wurde. Zudem enthält der Vertrag einige Aussagen, über deren Vorgeschichte die Akten keine Auskunft geben. So heißt es im 5. Artikel, dass die Musikhalle „von der Firma Oetker verwaltet und unterhalten“ wird. Davon war vorher nicht die Rede. Der 6. Artikel des Vertragsentwurfs sah vor, dass die Stadt „jederzeit die Verwaltung, Nutzung und Unterhaltung der Halle übernehmen“ könne. Wenn die Stadt auf einer Übernahme bestehe, sollte eine Abfindung von „höchstens 800.000 Mark“ gezahlt werden. Die Abfindung reduzierte sich auf „höchstens 600.000 Mark“, wenn die Firma diese Aufgaben der Stadt übertragen sollte. In beiden Fällen sollte der Betrag der Stadt gestundet, aber verzinst werden.

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Louis Oetker (1866-1933) war seit 1921 Mitinhaber der Firma Dr. Oetker. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-15-29

Für Aufregung sorgte der anvisierte Standort im Bielefelder Westen. Am 8. April 1926 wandte sich Louis Oetker erstmals an den Oberbürgermeister. In Absprache mit seiner „Schwägerin und Herrn Dr. Kaselowsky“ sowie nach Gesprächen mit „Freunden und Bekannten“ sprach er sich gegen den neuen Standort aus. So sei die Entfernung zur Stadt zu groß, zudem fehle ein Anschluss an die Straßenbahn. Wenn die 1914 geplante, aber wegen des Ersten Weltkriegs aufgegebene Ausweitung des Schienennetzes realisiert werde, reichte die Straßenbahn dennoch kaum aus, nach den Konzerten rund 1.000 Personen abzuholen. Da die Halle „von allen Wirtschaften der Stadt“ weit entfernt liege, müsse ein „Wirtschaftsbetrieb eingerichtet werden“, der aber wohl kaum rentabel sei und die Baukosten nur unnötig erhöhen würde. Mit einer Gastwirtschaft sinke aber „die ‚Gedächtnishalle‘ zu einem ‚Saalbau‘ für Spaziergänger herab“ und verliere „die Würde ihrer Bestimmung“. Nicht zuletzt bedeute die „Verlegung des Baues in ein unerschlossenes Gelände […] eine Wertsteigerung der umliegenden Bauplätze“, wovon die Stadt aber nicht profitiere, weil sie dort den Bürgerpark unterhalte. Kosten kämen aber dennoch für „die Gestaltung der Straßen und Parkflächen“ auf sie zu. Für das Projekt kam für Louis Oetker daher „nur das Museums-Grundstück in Frage“.

Stapenhorst seinerseits wies auf die beengte Lage am Nebelswall hin, die kurzfristig nicht zu lösen sei, und lud alle Beteiligten zur Besichtigung des möglichen Standortes ein, an der Kaselowsky aber nicht teilnahm. Auch scheinen die „Bedenken der Familie Oetker“ nicht ausgeräumt worden zu sein. So rückte Kaselowsky wenig später von dem Plan eines Musikhallenbaus ab und schlug vor, auf dem Museumsgelände „einen kleineren Musiksaal“ mit 600 bis 800 Plätzen „für Kammermusik und Vorträge zu bauen.“ Aus der Sicht vieler Musikliebhaber war Bielefeld aber damit nicht geholfen So sprach sich der Vorsitzende des Musikvereins, Alfred Niemann, in einem vertraulichen Schreiben „mit aller Entschiedenheit“ gegen diesen Vorschlag aus, „da der Musik nur mit einem großen Saal gedient sei; für die kleinen Veranstaltungen reiche der Eintrachtsaal aus.“ Auch Prof. Lamping war entsetzt. Bevor der Oberbürgermeister offiziell informiert wurde, war ihm bereits mitgeteilt worden, dass es zum Bau eines Kammermusiksaales kommen könne. In einem persönlichen Schreiben an Kaselowsky wies er darauf hin, dass das „ganze musikalische Leben Bielefelds […] auf der Arbeit des Musikvereins und des städtischen Orchesters“ basiere. Würden dem Chor des Musikvereins derzeit „die Flügel gebunden“, weil er angesichts eines fehlenden Saales sein Potenzial kaum entfalten könne, so sei die Lage des Orchesters prekär. Die bestehende Abhängigkeit vom Stadttheater hätte in den letzten Jahren mehrmals dazu geführt, dass angesichts der Theaterkrise das Orchester beinahe mit „in den Abgrund gerissen“ worden sei. Gerade das Orchester brauche einen Auftrittsort, um sich unabhängig vom Theater entwickeln zu können. Nach Lamping lag aber auch in Teilen des Bürgertums eine Mentalität vor, die in den Jahren vor 1904 aus Sparsamkeit die Gründung des Theaters verhindern wollte. Darauf hinweisend, dass allein die Nachricht, Bielefeld könne eine Musikhalle erhalten, die Bachgesellschaft angeregt habe, die renommierten Bachfeste in Bielefeld zu veranstalten, glaubte er, dass die Abkehr vom Musikhallenbau der Stadt, aber auch der Firma Oetker schaden könne: „Wenn die Ausführung jetzt an dem Kantönligeist der Bielefelder scheitert und die Firma Oetker von ihrem Entschluß zurücktritt, wird die Außenwelt sicher schwerlich Verständnis aufbringen.“

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Prof. Wilhelm Lamping (1861-1929) leitete seit 1886 den Bielefelder Musikverein und wurde 1900 zum städtischen Musikdirektor ernannt. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-12-2

Sollte das Projekt, das im Februar 1925 durch die Schenkungsabsicht ins Leben gerufen wurde, an der Standortfrage scheitern? Stapenhorst und Kaselowsky verhandelten erneut. Das Ergebnis, das im Juni 1926 bekannt gegeben wurde, ermöglichte zwar den Bau der Musikhalle, wich aber entschieden von den ersten Überlegungen ab. Von einer Schenkung war nun keine Rede mehr. Vielmehr gewährte die Firma der Stadt ein Darlehn über 1,5 Millionen Mark „zur Förderung des Wohnungsbaues und zum Bau einer Musikhalle“. Die Konditionen waren für die Stadt günstig, die Zinsen waren niedrig, der Betrag musste erst ab 1935 getilgt werden. In der Standortfrage überließ der Darlehnsvertrag die Entscheidung der Stadt, die „nach ihrer Wahl auf dem Stadtgartengrundstück am Oberntor oder auf den städtischen Grundstücken westlich des Bürgerparks eine Musikhalle“ errichten konnte. Die weiteren Details waren geblieben: Die Halle sollte zum Gedächtnis von Dr. Rudolf Oetker „und seinen im Weltkriege gefallenen Bielefelder Kameraden“ Rudolf-Oetker-Halle heißen und „vorzugsweise der Pflege der Musik dienen.“ Für „örtliche politische Versammlungen, insbesondere Wahlversammlungen“ durfte sie nicht zur Verfügung gestellt werden. Und nicht zuletzt sollten im Preisrichterkollegium des Architektenwettbewerbs sowie im Verwaltungsausschuss jeweils zwei Firmenvertreter Stimmrecht haben.

Damit war der Weg frei für den Architektenwettbewerb. 113 Entwürfe wurden eingereicht, von denen sich gleich mehrere auf das Werk Ludwig van Beethovens bezogen oder schlicht „Beethoven“ hießen: „Eroica“, Missa Solemnis“ oder „Die Neunte“. Manche nahmen Bezug auf den Namensgeber und seinen Tod im Ersten Weltkrieg: „Dem Jugendfreund die Gedenkhalle“, „Zum Gedächtnis“, „Pro memoria“, „Verdun“, klassisch „Atrium mortis“, pathetisch „Heldenehrung“, gar „Walhalla“ oder nüchtern „Denkmal“. Der Standort wurde ebenfalls paraphrasiert: „Bielefeld“, „Zum Park geöffnet“, „Parkgelände“, „Freie Sicht“ oder der Zukunft zugewandt „Wir werden Großstadt“.

Das Preisgericht wurde mit Vertretern der Stadt und der Firma Dr. Oetker sowie mit unabhängigen Architekten besetzt. Stadtoberbaurat Friedrich Schultz (1876-1945) und der Bielefelder Architekt und Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung Bernhard Kramer, der den Oberbürgermeister vertrat, nahmen von städtischer Seite teil. Karoline Oetker und Ida Kaselowsky vertraten die Firmeninteressen. Ihnen zur Seite saßen drei renommierte Architekten und Hochschullehrer: Prof. German Bestelmeyer (1874-1942), der seit 1924 Präsident der Bayerischen Akademie der Bildenden Künste war, Prof. Heinrich Tessenow (1876-1950), der bis 1926 an der Akademie der Künste in Dresden lehrte und anschließend an der Technischen Hochschule Berlin, sowie Prof. Eugen Michel (1873-1946) von der Technischen Hochschule Hannover. In dem anonym ausgerichteten Verfahren sprach sich das Preisgericht am 11. Juni 1927 für den Entwurf „Die Neunte“ aus, den die Düsseldorfer Architekten Hans Tietmann (1883-1935) und Karl Haake (1889-1975) eingereicht hatten. Der Entwurf, so das Preisgericht, bildete „eine geeignete Grundlage für die spätere Ausführung“. Eine Liste von Änderungswünschen trug der Bauausschuss zusammen und bereits am 12. Juli 1927 konnte mit den Architekten ein Vertrag geschlossen werden. Dieser sah unter anderem vor, dass die „zur Verfügung stehende Kostensumme von 1,5 Millionen Mark für den Bau und seine innere Ausstattung mit Gestühl, Orgel etc. einschließlich des Architekten-Honorars […] nicht überschritten wird.“ Mit dem Preisrichter Prof. Michel wurde ein Experte gefunden, der die Akustik der Musikhalle entwarf. Nachdem die Düsseldorfer Architekten ihren überarbeiteten Entwurf im Mai 1928 vorgelegt hatten, nahm die Bielefelder Firma Walkenhorst im Oktober 1928 die Maurerarbeiten auf; die Herstellung der Eisenkonstruktion wurde an die Bielefelder Firma Röwekamp vergeben.

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Die Musikhalle wird gebaut (1930). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 73-124

Die Fertigstellung der Musikhalle war maßgeblich Karoline Oetker zu verdanken, die sich mehrmals bereit erklärte, die über das Budget hinausgehenden Mehrkosten zu übernehmen. Als in den Wochen vor der Eröffnung der Rudolf-Oetker-Halle in der Öffentlichkeit angesichts der Weltwirtschaftskrise Sorgen laut wurden, dass die Stadt die Kosten kaum tragen könne, ohne die Eintrittspreise für Konzerte drastisch anzuheben, verzichtete die Firma zunächst für drei Jahre auf die im Darlehnsvertrag schon sehr niedrig gehaltenen Zinsen. Wie wichtig das Projekt gerade für Karoline Oetker war, die mit der Musikhalle an ihren einzigen Sohn erinnern wollte, zeigte sich einige Jahre später. Im Mai 1934 übernahm sie sämtliche aus dem Darlehn resultierende Verbindlichkeiten und schenkte die Rudolf-Oetker-Halle der Stadt. Bielefeld dankte es ihr mit der Verleihung der Ehrenbürgerrechte am 27. August 1934. Bis heute ist sie die einzige Ehrenbürgerin Bielefelds.

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Karoline Oetker (1867-1945), Bielefelds Ehrenbürgerin. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-15-5

Bielefeld verfügt seit 90 Jahren über eine herausragende Musikhalle, deren Akustik weltweit gelobt wird. Seit 90 Jahren finden hier klassische Konzerte und Vorträge statt. Nationalsozialisten ermächtigten sich ihrer in den 1930er und 40er-Jahren, im Januar 1946 wurde auch hier die Befreiung von der Diktatur gefeiert. Der Ausnahmeviolinist Yehudi Menuhin gastierte hier genauso wie der Klarinettist Giora Feidman. Pop-, Rock- und Jazz-Konzerte können seit den 1960er Jahren in der Rudolf-Oetker-Halle gehört werden, lösen aber auch von Zeit zu Zeit Diskussionen aus. Zum jährlichen Programm gehören seit einigen Jahren die Weihnachtsmatinee des Bunker Ulmenwall, die „Nacht der Chöre“ oder das „Film+MusikFest“ der Murnau Gesellschaft. Seit 90 Jahren ist die Rudolf-Oetker-Halle eine wichtige Säule der städtischen Kultur.

 

Literatur

  • Böcker-Lönnendonker, Hiltrud: Karoline Oetker. Die Ehrenbürgerin, Bielefeld 2011
  • Böcker-Lönnendonker, Hiltrud: Dr. Rudolf Albert Alfred Oetker 17. November 1889 – 8. März 1916. Lebensspuren, Bielefeld 2016
  • Finger, Jürgen/Keller, Sven/Wirsching, Andreas: Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933-1945, München 2013
  • Jungbluth, Rüdiger: Die Oetkers. Geschäfte und Geheimnisse der bekanntesten Wirtschaftsdynastie Deutschlands, Bergisch Gladbach 2006
  • Vogelsang, Reinhard: Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberrevolution bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005
  • Wagner, Bernd J.: Opferfreudigkeit und Kunstsinn. Die Theaterfrage im Spiegel ihrer Finanzierbarkeit, in: Ravensberger Blätter, Heft 1 (2004), Bielefeld 2004, S. 14-28
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Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 105,5/Liegenschaftsamt, Nr. 65: Verwaltungsausschuss der Rudolf-Oetker-Halle (1926-1956)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 105,5/Liegenschaftsamt, Nr. 66: Darlehnsvertrag (1926)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 105,5/Liegenschaftsamt, Nr. 73: Rudolf-Oetker-Halle (1926-1968)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,6/Städtische Bühnen und Orchester, Nr. 4283: Presseartikel (1929-1935)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,2/Magistratsbauamt, Nr. 50: Wettbewerbe (1927-1950)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,2/Magistratsbauamt, Nr. 204: Rudolf-Oetker-Halle (1925-1933)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 140/Protokolle, Nr. 43: Magistrat (1925)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 140/Protokolle, Nr. 67: Theater- und Musikausschuss (1901-1933)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,149/Familienarchiv Huber, Nr. 26: Tagebuch von Wilhelm Huber (1929-1933)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung

Erstveröffentlichung: 01.10.2020

Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 31. Oktober 1930: Einweihung der Rudolf-Oetker-Halle, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2020/10/01/01102020, Bielefeld 2020

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