31. März 1820: Erstes Konzert des Musikvereins Bielefeld

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

 

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Konzertanzeige für den 31. März 1820; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 46: Öffentliche Anzeigen der Grafschaft Ravensberg v. 23. März 1820, S. 95

„Es ist vollbracht“ intonierte der Chor des Musikvereins gegen Ende seiner ersten öffentlichen Darbietung der Komposition „Die sieben Worte des Erlösers am Kreuze“ von Franz Joseph Haydn (1732-1809). Diese – natürlich Jesus zuzuordnende – Zeile aus dem 6. von sieben Sätzen des Werks von 1787 mag auch den Anfang des Bielefelder Musikvereins beschreiben, der nach unruhigen Jahren des lokalen Chorlebens am 31. März 1820 erstmals unter diesem Namen öffentlich auftrat.

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Um 1820 zählte Bielefeld etwa 6.500 Einwohner; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 68

Vereinsgründungen waren in der Restaurationszeit ab 1815 Ausdruck eines zunehmenden bürgerlichen Selbstbewusstseins in den Städten Deutschlands. Es entfaltete sich ein kulturbürgerliches Leben, dessen Reichweite aufgrund mangelnder Quellen nicht vollständig zu rekonstruieren ist. Es ist jedoch anzunehmen, dass bevorzugt Kaufleute, Beamte, Lehrer und Offiziere mit ihren Frauen zum Publikum gehörten, das Tanz (Tanzlehrer sind bereits seit 1809 regelmäßig nachweisbar; die „Fuldaer“ und „Prager Musici“ spielten spätestens seit 1819 bei Haase in Heepen), Schauspiel von Wanderbühnen, Lektüre aus der 1817 eingerichteten Helmich´schen Buchhandlung und Leihbibliothek und schließlich auch Musik genießen wollte. Aber nicht nur das: Man wollte auch selbst Akteur künstlerischer Darbietungen sein und suchte hierfür neue Formen der Vergemeinschaftung – den Verein.

Wo politische Artikulation und Teilhabe über Parteien noch nicht möglich, geschweige denn überhaupt angedacht war, formierten sich Gesellschaften, Clubs und Vereine unterschiedlichster Ausrichtungen v. a. in Geselligkeit, Kultur und Sport.

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Konzertanzeige für das „Musik liebende[n] Publikum“ für den 26. November 1819; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 46: Öffentliche Anzeigen der Grafschaft Ravensberg v. 18. November 1819, S. 367

Ein Gesellschaftsclub existierte mit der „Ressource“ bereits seit 1795. Dem exklusiven Club gehörten Unternehmer und Honoratioren aus der traditionellen „Oberschicht“ an, selbstverständlich für damalige Zeiten aber keine Frauen. In den beiden Jahrzehnten nach dem Ende der „Franzosenzeit“ entstanden 1817 ein Gesangverein „Harmonie“, 1820 der Musikverein, 1831 der Männergesangverein „Liedertafel“ und die Schützengesellschaft. All diese und die Dutzenden anderen bis 1900 gegründeten Vereine verschiedenster Prägung waren zugleich Orte der Freizeitbeschäftigung, der Geselligkeit und des Austausches, der gelegentlich auch über gesellschaftliche Schranken hinwegführen konnte.

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Der „Reckmann´sche Saal“ im Haus eines Weinhändlers an der Obernstraße war regelmäßig Schauplatz von Aufführungen; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1554-9

1835 schrieb der Gymnasiallehrer Heinrich Wilhelm Schubart über den „Culturzustand“ Bielefelds: „Von den schönen Künsten wird die Musik am meisten gepflegt.“ Schubart, dessen „Topographisch-historisch-statistische Beschreibung der Stadt Bielefeld“ die erste Stadtgeschichte Bielefelds und zugleich ein Ersatz für die versäumte Anlegung einer Chronik war, die seit 1817 eigentlich kommunale Pflicht war, beschreibt oberflächlich die Ungunst der Verhältnisse. Offensichtlich war die städtische Gesellschaft noch nicht reif für eine stabile Vereinsgründung auf dem Feld der Musik. 1817 war eine erste Gründung eines Gesangvereins „Harmonie“ gelungen, der jedoch Ende 1818 wieder aufgelöst wurde. Schubart schrieb: „Seit 1814 [wohl 1817] besteht hier ein Singverein, dessen Directoren jedoch zum größten Nachtheile des Emporblühens desselben, immer nur kurze Zeit hier verweilten, wodurch der Verein oft auf ganze Jahre aufgelöst wurde. Der Grund davon lag zum Theil in der Persönlichkeit der Directoren, zum Theil aber auch an dem Vereine und der unsicheren Stellung der Directoren.“ Vieles war anfangs abhängig von Persönlichkeiten, die nicht nur die Initiative ergriffen, sondern auch für eine Verstetigung sorgten. Damit war vor allem der Vereinsdirektor gemeint, der für die musikalische Ausrichtung und Qualität sorgte, dabei aber offensichtlich auf ein auskömmliches Honorar angewiesen war und die Stadt umgehend verließ, wenn ein lukrativeres Engagement lockte. Diese Unterbrechungen konnten erst 1820 beendet werden.

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Noch am 5. März 1920 trat das Ensemble als „Musikalischer Verein“ auf;
Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 46: Öffentliche Anzeigen der Grafschaft Ravensberg v. 2. März 1820, S. 75

Schubart (und andere später auch) indes erkannte eine Kontinuität zwischen dem ersten Gesangverein „Harmonie“ und dem 1820 gegründeten Musikverein, die so nicht gegeben sein dürfte. Der Musikverein scheint eher aus einem Projektchor hervorgegangen zu sein, der ein Konzert geben wollte. Möglicherweise bestand dabei bereits das Ziel, eine solide Basis an Musikinteressierten zu finden, die Konzerte nicht nur genießen, sondern selbst und dann auch noch in Vereinsform gestalten wollte. Am 18. November kündigten die „Öffentlichen Anzeigen der Grafschaft Ravensberg“ dem „Musik liebenden Publikum“ eine Aufführung im Reckmann´schen Saal in der Obernstraße an: Am 26. November 1819 fand ein Konzert unter der Leitung des niederländisch-deutschen Musikdirektors, Komponisten und Geigers Heinrich Aloys Praeger (1783-1854) statt. Gegeben wurde Schillers „Lied von der Glocke“ in einer Vertonung des in Münster aufgewachsenen Komponisten Andreas Jakob Romberg (1767-1821).

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Im Saal des 1825 errichteten Gebäude des Gesellschaftsclubs „Ressource” trat der Musikverein später ebenfalls auf, Foto um 1880; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1691-2

Das Konzert scheint Akteure und Publikum überzeugt zu haben, denn exakt einen Monat später, am 26. Dezember 1819, bot „Der musikalische Verein“ ein „Vocal- und Instrumental-Concert“ erneut beim Weinhändler Reckmann, dessen wuchtiges Haus sich an der Ecke Obernstraße/Niedernstraße am Alten Markt gegenüber dem damaligen Rathaus und dem Crüwellhaus erhob. In diesen wenigen Wochen hatte sich der Übergang vom Projektchor zum Verein vollzogen. Unterlagen darüber fehlen allerdings. Die monatlichen Reporte („Zeitungsberichte“) des Bürgermeisters an die Aufsichtsbehörden vermerkten in der Rubrik „Sittlicher Zustand“, die Nachrichten über Bildung und Kultur enthalten sollte, in dieser Phase nahezu jedes Mal nur den dürren Hinweis: „ohne Bemerkung“.

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Konzertzettel von 1830; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 270,9/Musikverein, Nr. 1

Nachdem der „Musikalische Verein“ noch am 5. März 1820 mit einem „Vocal- und Instrumental-Conzert“ unter Prägers Leitung wiederum bei Reckmann aufgetreten war, folgte am Karfreitag, dem 31. März 1820, die vereinsseitig festgelegte Geburtsstunde des „Musik-Vereins“: Unter dem Dirigat Prägers wurde „Die sieben Worte des Erlösers am Kreuze“ von Haydn gegeben. Wenn man es genau nimmt, so muss die endgültige Umbenennung zwischen dem 2. und 23. März 1820 beschlossen worden sein, da an diesen Tagen Konzerte in den „Öffentlichen Anzeigen“ mit abweichenden Vereinsnamen angekündigt wurden. Zu Qualität und Resonanz ist bislang nichts in Erfahrung zu bringen, da die Öffentlichen Anzeigen“ eine Zeitungsberichterstattung heutigen Zuschnitts nicht lieferten. Die Ausgabe v. 6. April 1820 druckte, ganz typisch, Bekanntmachungen über zweckmäßiges Dachdecken, Zwangsversteigerungen („Subhastationen“) oder Verkaufshinweise für italienische Strohhüte und russische Bettfedern ab – und die Beilage informierte über geeignete Methoden, um das „Moos von den Bäumen wegzuschaffen“. Immerhin bot August Helmich (1786–1853) in seiner Buchhandlung ab dem 4. Mai 1820 ein 1798 in Berlin erschienenes „Gesangbuch zur Geselligen Unterhaltung froher Menschen“ und ein allgemeingültiges „Gesellschafts-Gesangbuch“ an, das wohl 1799 in Bayreuth publiziert worden war.

In den Folgejahren fanden Proben und Konzerte im 1825 entstandenen Gebäude der „Ressource“ (Ecke Renteistraße/Altstädter Kirchstraße) oder bei Reckmann statt. Unterstützt wurde das Orchester immer wieder von Militärmusikern der örtlichen Garnison, die seit 1710 bestand. Aufgeführt wurden Oratorien, Opern und Gedichtvertonungen u. a. von Mozart, Haydn oder Mendelssohn. Bielefeld, das seinerzeit etwa 6.500 Einwohner zählte, hatte einen weiteren Schritt zu einer bürgerlichen Kulturentwicklung gemacht.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,2/Ältere Akten, Nr.142: Zeitungsberichte, 1818-1824
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 270,9/Musikverein, Nr. 1: Veranstaltungsprogramme, 1830-1874
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 46: Öffentliche Anzeigen der Grafschaft Ravensberg v. 14. Januar 1819, S. 16, 18. November 1819, S. 367, 23. Dezember 1819, S. 409, 2. März 1820, S. 75, 23. März 1820, S. 95
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1554-9: Häuser Obernstraße 2 (Reckmann) u. 4, 1880; Nr. 11-1691-2: Gebäude der Ressource, Renteistraße 23
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 68: Stadtansicht Bielefeld, kolorierter Stich, gezeichnet von Carl Schlickum (1808-1869), Stich von Henry Winkles (ca. 1801-1860), 1840

 

Literatur

  • Beckenbauer, Klaus, Tonspuren. 1820-1995 – 175 Jahre Musikverein der Stadt Bielefeld, Herford 1995
  • Gabel, Ursula, Das Chorleben in Bielefeld als Beispiel der Musikpflege in einer mittleren Stadt, (Hausarbeit Universität Köln), 1944, ca.
  • Musikverein der Stadt Bielefeld 1820-1970, Bielefeld 1970
  • Oberschelp, Jürgen, Das öffentliche Musikleben der Stadt Bielefeld im 19. Jahrhundert (Kölner Beiträge zur Musikforschung, Bd. 66), Regensburg 1972
  • Petri, Hermann, 100 Jahre Bielefelder Musikverein 1820-1920, Bielefeld 1920
  • Salmen, Walter, Geschichte der Musik in Westfalen, Bd. 2, Kassel u. a. 1967
  • Sunderbrink, Bärbel, Gestalter des musikalischen Lebens. Der Musikverein in Bielefeld, in: Andreas Beaugrand (Hg.), Stadtbuch Bielefeld, Bielefeld 1996, S. 240-243
  • Schubart, Heinrich Wilhelm, Topographisch-historisch-statistische Beschreibung der Stadt Bielefeld, Bielefeld 1835 (online)
  • Vierhaus, Rudolf (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 8, München 2007, S. 50

 

Erstveröffentlichung: 01.03.2020

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 31. März 1820: Erstes Konzert des Musikvereins Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2020/03/01/01032020, Bielefeld 2020

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