20. September 1983: Aufdeckung des Braker Giftmüllskandals

• Søren Bielke, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

Vor 40 Jahren kam beim Ausheben einer Baugrube für einen Hausbau der Braker Giftmüllskandal ans Tageslicht. Die ausgebaggerte Baugrube roch extrem und das Grubenwasser schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Eine mit Giften belastete ehemalige Mülldeponie war nur mit Bauschutt und einer dünnen Erdschicht bedeckt worden. „Als Deponie nicht schlecht, nur die Häuser stören“, fasste ein Ingenieur 1984 in einem Gutachten den Zustand des Baugrunds zusammen. Wegen der Verseuchung musste die ganze Siedlung abgerissen werden. Die Giftmüll-Affäre wurde zu einem der größten deutschen Umweltskandale und veränderte die Abfall- und Umweltpolitik Bielefelds nachhaltig.

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Luftbild der ehemaligen Deponie in Brake von 2017/2018 mit Lageplan. Stadt Bielefeld, Amt für Geoinformation und Kataster, Lageplan und Legende von Stadtarchiv Bielefeld

Eine zum Himmel stinkende Affäre

Im August 1983 begannen die Ausschachtungsarbeiten für das Einfamilienhaus des Lehrerehepaars Venhaus in Brake am Klinkerweg 41. Als der Bagger im Laufe der Arbeiten unbeabsichtigt tiefer als von den Planern empfohlen grub, stieß er in 2,50 Meter Tiefe auf Bauschutt, Haus- und Industriemüll, bei 5,50 Meter auf eine übel riechende Brühe. Der Bauträger stoppte die Ausschachtung und informierte die Eheleute Venhaus am 6. September 1983 über seine Entdeckung. Den Familien, die bereits auf dem Gelände der alten Ziegelei Büscher ihre Häuser hatten errichten lassen, kamen böse Vorahnungen. Damit tauchten zum ersten Mal Hinweise auf Giftstoffe im Boden für die Grundstücksbesitzer auf, woraufhin das Ehepaar Venhaus Proben untersuchen ließ. Bei den Tests wurden die giftigen Schwermetalle Cadmium, Zink, Kupfer und Nickel gefunden und bereiteten dem Traum vom Eigenheim ein Ende. Mit dieser Information wandten sich Venhaus´ am 20. September per Leserbrief an die Medien, welche ab dem folgenden Tag und über die nächsten Jahre unzählbare Artikel und Schlagzeilen zu der Giftmüllaffäre veröffentlichten.

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Interview mit Oberbürgermeister Klaus Schwickert. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 312

Auf der etwa 30.000 qm großen Fläche standen bereits 27 neue Ein- und Zweifamilienhäuser, 25 weitere sollten noch gebaut werden. Allen war bekannt, dass das Gelände früher als Deponie genutzt worden war, die Verseuchung des Areals jedoch nicht. Die Bewohner*innen der Deponie gründeten gemeinsam eine Interessengemeinschaft und bestimmten vier Sprecher: Richter Ralf Schulze (damals CDU-Mitglied), Oberstaatsanwalt Uwe Schmidt, vorher in Berlin mit Umweltstrafsachen beschäftigt, Hauptschulrektor Klaus Plöger (damals SPD-Mitglied) und Alexander Scheck, Mathematik- und Geographielehrer und an Geologie interessiert. Diese machten dringend nötigen Druck auf die Verwaltung und Politik, denn hier stellte man sich unwissend. „Ich kann dazu nichts sagen“, war Oberbürgermeister Klaus Schwickerts (SPD) wiederholte Antwort auf immer hartnäckigere Fragen in einem an Loriot erinnernden Interview mit dem Westfalen-Blatt vom 19. November 1983. Der Oberstadtdirektor Klaus Meyer versichert auf einer Versammlung doppeldeutig: „Wir werden die ganze Angelegenheit rückhaltlos aufklären. Darauf können Sie Gift nehmen.“

Der IG-Sprecher Ralf Schulze zog bereits 1982 in sein neues Haus am Klinkerweg: „Mein Vater hatte in Heepen auch neben einer Tonkuhle gebaut, da habe ich mir nichts bei gedacht.“ Schulze war da noch CDU-Mitglied und saß in der Bezirksvertretung Heepen. In dieser hatte er 1976 selbst die Hand gehoben und geholfen, die Änderung des Bebauungsplanes „Ziegelei III / Bra 12“ zu beschließen. Eine schwerwiegende Entscheidung. In einem Interview mit der NW vom 27. August 2008 sprach er von der schwierigen Zeit: „Das war damals eine ungeheure Belastung für uns. Wir hatten Angst, dass unsere Häuser wertlos waren und die Banken uns die Kredite kündigten.“ Schulte trat 1985 aus der CDU aus und war Mitbegründer der BfB (Bürgergemeinschaft für Bielefeld e.V.), deren Fraktionsvorsitzender er lange war.

Richter Schulze und Oberstaatsanwalt Schmidt wussten als Juristen, wie sie Einfluss nehmen konnten. Sie verklagten die Stadt und kamen so an die Gutachten über das Bauland. Aus dem Rathaus wurde Ihnen mitgeteilt, dass es nicht Sache der Verwaltung sei, die Historie der alten Ziegelei zu erforschen. Auch dem Bauträger wurde die Schuld zugeschoben, da er von der Vergangenheit gewusst habe. Nachdem bei den ersten, von den Siedler*innen selbst in Auftrag gegebenen Analysen, schlechte Bodenwerte festgestellt wurden, bezeichnete die Stadt diese als „nicht gefährlich“ und sogar „normal“. Aus den Tageszeitungen erfuhr Bielefeld Stück für Stück, dass im Rathaus und in der Stadtverwaltung mehr bekannt war, als ursprünglich zugegeben.

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Die Ziegelei Büscher an der Stedefreunder Straße in den 1950er Jahren. Sunderbrink, Bärbel / Wagner, Bernd J., Das war das 20. Jahrhundert in Bielefeld, Gudensberg-Gleichen 2001

Aus Tonkuhlen mach Goldgrube

Ab 1958 ließ der Entsorger Gerhard Steinkühler alles in die ausgebaggerte Tongrube der ehemaligen Ziegelei Büscher hineinkippen, wie etwa 15.000 Kubikmeter giftige Galvanikschlämme, gebilligt vom damaligen Direktor des Amtes Heepen, Erich Krahmüller. Angeblich sollten die Schlämme in einer zentralen Entgiftungsanlage cyanidfrei gemacht werden. In dieser Entgiftungsanlage wurden jährlich 60.000 Liter Gift dekontaminiert, neutralisiert und nach Brake gefahren.

1965 kaufte der Bauer Dieter Bohnenkamp für einen niedrigen Preis die Gruben. Manche der Gruben pachtete die Stadt Bielefeld, Gerhard Steinkühler zahlte dafür Kippgebühren. Zuständig auf der Seite der Stadt in der Angelegenheit waren Hermann Dinkelacker, Leiter des Kulturbauamtes des Kreises, und Dietrich Joosten vom Tiefbauamt der Stadt Bielefeld. In einem Prozess im Frühjahr 1968 gewann ein Stedefreunder Anwohner gegen die Stadt Bielefeld, da sein Hausbrunnen von der Deponie verseucht worden war und erhielt eine kostenlose Trinkwasserversorgung.

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Die Giftmülldeponie Brake in Aktion. Im Nordosten türmen sich schimmernde Berge von Galvanik-Schlamm, in den ehemaligen Tongruben schillert und schäumt eine stinken Brühe, in der ein den Sechziger Jahren ein Kind ertrank. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 312

Steinkühler kaufte dank seines florierenden Geschäfts 1968 die Fläche für 40.000 Mark von Bohnenkamp. Eine lukrative Entscheidung, da im März 1969 (Brake war noch eine selbstständige Gemeinde) aus der Kraterlandschaft Bauland werden sollte. Der Bielefelder Rat hatte nach der Eingemeindung Brakes im Zuge der Gebietsreform von 1973 auch keine Einwände, trotz der Hinweise eines Gutachters auf üblen Geruch und „breiige Beschaffenheit“ des Bodens. Hochhäuser mit bis zu sechs Geschossen sollten entstehen, wodurch Steinkühler den Grund 1973 für 830.000 Mark an eine Osnabrücker Wohnbaufirma verkaufen konnte. Da diese jedoch in Konkurs ging, wurden keine Wolkenkratzer gebaut und der Bebauungsplan musste mangels Kaufinteresses geändert werden, so dass Ein- und Zweifamilienhäuser gebaut werden konnten. Der Wunsch nach Bodengutachten sorgte für weitere Verzögerungen, denn diese fielen nicht einwandfrei aus. Ein Osnabrücker Erdbaulabor lieferte dem Planungsamt unter der Leitung von Baudezernent Jürgen Hotzan insgesamt drei Expertisen. 1974 warnte die erste Expertise vor Geländeabsenkungen von bis zu 30 cm und betonagressivem Grundwasser, die zweite von 1976 mahnte immerhin noch Gründungsmaßnahmen an, hatte ansonsten aber trotz des selben Gutachters keine Einwände mehr gegen die Bebauung. Beide wurden im Planungsamt der Stadt Bielefeld, bei der unteren Wasserbehörde und deren Amtsleiter Hermann Dinkelacker eingereicht. Trotz der Gutachten und der Bemängelung der Erschließungsmaßnahmen durch das für die Aufsicht der Arbeiten verantwortliche Erdlabor, schlugen weder die Verwaltung noch die Kommunalpolitik Alarm, welche in der Bezirksvertretung Heepen, im Planungsausschuss und im Rat der Änderung zustimmten. Der geänderte Bebauungsplan „Ziegelei III/Bra12“ wurde trotz vorsichtiger Einwände der CDU-Vertreterin Gisela Kloss, die neben der Kuhle wohnte, 1977 rechtskräftig.

Um aus der Kraterlandschaft Baugebiet zu machen, wurden die Gruben mit Bauschutt angefüllt und das Areal zentimeterdünn mit Mutterboden bedeckt. Trotz Schwierigkeiten dabei bestätigte die untere Wasserbehörde zweimal, dass „ordnungsgemäß verfüllt“ worden sei. Dadurch konnte der Grundstückskauf schnell vonstattengehen; im August 1977 kaufte die Weserland Massivhaus GmbH Hameln die Fläche und verkaufte sowohl Fertighäuser als auch Flächen an Bauwillige. Auch bei dem Abspringen von sechs Bauherren im Jahr 1980 wegen übelriechendem Schlamms unter der Grasnarbe passierte nichts und niemand schritt ein.

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Ein Wagen zur Methangasmessung ermittelt extrem hohe Werte in den Kellern der Wohnhäuser. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,48/StadtBlatt-Fotoarchiv, Nr. 80

Das Glück auf Unland gebaut

Nachdem seitens der Stadt Bielefeld zunächst unbürokratische und schnelle Hilfe angekündigt wurde, wies der Liegenschaftsausschuss im September 1983 alle Entschädigungen zurück, da Boden und Wasser „nicht durchweg als gefährlich“ einzustufen seien, möglicherweise sollte für andere Geschädigte kein Präzedenzfall geschaffen werden und von der verfehlten Abfallpolitik abgelenkt werden.

Beinahe an jedem Tag wurden neue Details bekannt. Bei Bodenproben stellte man eine Methangaskonzentration von 92 Volumenprozent fest (ein Experte: „So reines Methangas findet sich selten.“), der Cadmiumwert war 25 Mal so hoch wie der Normalwert. Das Grubenwasser enthielt krebserregende Wasserstoffe, man fand Chrom und Cyanid, hohe Sulfat- und Ammoniumkonzentrationen griffen die Fundamente an. Alexander Scheck von der IG Brake sagte gegenüber der Presse: „Denken Sie sich irgendeines dieser schrecklichen Umweltgifte, wir haben hier alles was man sich nur vorstellen kann“.

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Schwermetallfunde im Gartenboden der Siedlung. Fettgedruckte Symbole bedeuten nicht mehr tolerierbare Werte, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 312

Der Wert der bebauten Grundstücke fiel, was die Banken alarmierte, so dass die Sicherheiten für Hypotheken verloren gingen. Die Arbeiten auf den Baustellen ruhten, die Kosten stiegen jedoch weiter. Auch die Angst um die Gesundheit machte den Familien zu schaffen, da Ärzt*innen empfahlen, die Kinder nicht mehr vor der Haustür spielen zu lassen, vor dem Verzehr von Wurzelgemüse aus dem eigenen Garten wurde gewarnt. In späteren Untersuchungen stellte man fest, dass jede*r vierte Anwohner*in einen Leberschaden hatte. Ein Professor vom Institut für Hygiene und Arbeitsmedizin der Technischen Hochschule Aachen gab an, dass er in seiner Berufslaufbahn noch nie eine derartige Häufung von Leberschäden gesehen hatte. Ein Gutachten der TU Braunschweig, Mitte 1984 veröffentlicht, kam zu dem Schluss, dass die Oberfläche der verfüllten Grube in Brake bewohnbar wäre, wenn eine Überfüllung des Giftmülls „mit lehmigem Sand von mindestens zwei Meter Mächtigkeit an allen Stellen hergestellt wird“, manche der bereits gebauten Häuser müssten also bis zum Garagendach eingebuddelt werden. Ein Ingenieur fasste zusammen: „Als Deponie nicht schlecht, nur die Häuser stören.“

Ein Gutachten der Bezirksregierung Detmold kam zu dem Schluss, dass für die Veränderung des Bebauungsplanes „schwerwiegende Form- und Verfahrensfehler“ gemacht worden waren, da die Verwaltung schon 1977 ausreichend Anhaltspunkte hatte, „aus denen man auf die Möglichkeit der Gesundheitsbeeinträchtigung durch die vorhandenen Ablagerungen schließen konnte“, und erklärt diesen daher für nichtig. Begründet wurde die Entscheidung unter anderem damit, dass sieben Ämter über die Industrieschlämme Bescheid wussten und kein einziger Einwand bei der Änderung des Bebauungsplans erhoben worden war. Oberbürgermeister Schwickert meldete sich kurz vor den Kommunalwahlen mit der Aussage zu Wort, dass die Betroffenen schnell und unbürokratisch entschädigt würden und die Deponie saniert werden müsse. Ein Sonderbeauftragter für die Deponie wurde bestellt. Auch der Druck der überregionalen Medien (u.a. Süddeutsche, Spiegel, Zeit) half sicherlich bei der Meinungsänderung. Sogar in der „Khalij Times“ (Dubai) erschien 1986 ein zweispaltiger Artikel über das „Leben über einer Giftgrube“.

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Protest-Plakat der UWG in Brake mit Karikatur von Oberbürgermeister Klaus Schwickert: Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,48/StadtBlatt-Fotoarchiv, Nr. 80

Bei den Kommunalwahlen am 30. September 1984 wurde die FDP politisch bedeutungslos und konnte weder CDU noch SPD zur Mehrheit verhelfen. Die Vorgängerin der Grünen, die „Bunte Liste“ konnte ihren Stimmenanteil von 5,6 % auf 13,5 % steigern und war bei der Wahl die einzige Partei mit einem Stimmenzuwachs. In Brake trat zum ersten Mal eine unabhängige Wählergemeinschaft an, die direkt 20 % der Stimmen gewann. Ein Jahr nach der Wahl wurde eine Komplettentschädigung für alle gebauten Gebäude auf dem Gelände zu gängigen Marktpreisen beschlossen. Bei einer internen Untersuchung des Personalamtes wurde auf Seiten der beteiligten Beamt*innen keine disziplinarrechtliche Schuld festgestellt. Dennoch forderte die SPD personelle Konsequenzen. Diese traf SPD-Mitglied und Planungsamtsleiter Hotzan, der nach Kritik aus der eigenen Partei als Beigeordneter vom Rat der Stadt abgewählt wurde. Letztlich war dies jedoch die einzige personelle Konsequenz, größer waren die strukturellen Veränderungen: Ende 1984 schaffte Oberstadtdirektor Klaus Meyer (SPD) mit dem Wasserschutzamt eine eigenständige Behörde zur Gewässerkontrolle, welches umweltrelevante Abteilungen zusammenfasste, die vorher auf mehrere Ämter verteilt waren und dadurch intransparent arbeiteten und sich teilweise überschnitten. Im November 1985 wurde der parteilose Dr. Uwe Lahl auf Vorschlag der Bunten Liste erster Umweltdezernent der Stadt und vereinigte im Umweltdezernat die Friedhofsgärtnerei, die Stadtreinigung, das Hygienisch-Bakteriologische Institut, das Garten-, Forst- und Friedhofsamt, das chemische Untersuchungsamt und das kurz zuvor geschaffene Wasserschutzamt. Damit wollte man auch der Bunten Liste entgegenkommen, mit denen die Sozialdemokraten nach der Kommunalwahl im Rat kooperierten.

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Schwermetalle, Blausäure und Polychlorierte Biphenyle (PCB) unter der Grasnarbe. Hier spielten die Kinder, die Erwachsenen machten hier ihr Osterfeuer. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,48/StadtBlatt-Fotoarchiv, Nr. 80

„Schmutziger Lorbeer“ – Absiedlung und Abkapselung der Deponie

Nach dem zähen Ringen begann der Bielefelder Rat im April 1985, die Braker*innen „abzusiedeln“. Noch am 1. September 1985 wurden neue Gifte, nämlich Polychlorierte Biphenyle (PCD), gefunden. Hierbei handelt es sich um einen krebserregenden, die Erbanlagen schädigenden Stoff, welcher erhitzt Dioxine freisetzt. Am Fundort hatten die Braker*innen vom Deponie-Gelände nicht allzu lange Zeit zuvor ihr Osterfeuer angezündet. Die 32 Häuser wurden für 15 Millionen Mark von der Stadt Bielefeld gekauft, die sie später abreißen ließ. Einige erhielten unbelastete Grundstücke z.B. in Dornberg. Die Letzten zogen im Herbst 1987 aus. Nach dem Auszug fragten ahnungslose Passant*innen zunächst noch nach dem Preis der „schmucken Bungalows“.

Nicht nur die etwa 30 auf der Deponie angesiedelten Familien litten unter der Situation. Von einer Entschädigung ausgenommen waren die Bewohner*innen der Häuser, die ein paar Meter außerhalb des für nichtig erklärten Bebauungsplanes wohnten. „Warum sollten die Gifte an der Grenze des Bebauungsplanes haltmachen?“ fragte Bernd Heinzel im Spiegel vom 10. Februar 1985, da das mit Kohlenwasserstoffen und Schwermetallen belastete Grundwasser der Deponie in Richtung seines Grundstücks floss.

Außerhalb der Bielefelder Grenzen schafften es Politik und Verwaltung, den Vertrauensschwund der Giftmüll-Affäre als Erfolg darstellen zu können. Da die Stadt Bielefeld „als eine der ersten Gemeinden in der Bundesrepublik ein umfassendes Umweltkonzept erarbeitet und umgesetzt hat“, erhielt sie im April 1988 neben Prince Charles einen Umweltpreis von der Frauenzeitschrift „vital“. Bei der Verleihungsfeier fragt ein erkennbar geläuterter Oberbürgermeister Klaus Schwickert reumütig anlässlich der geplanten Einkapselung der Deponie, ob man „denn Grund hat, stolz zu sein, wenn man den Brunnen zunagelt, in den das Kind gefallen ist.“

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Auktionator Detlef Jentsch versteigert am 10: Juni 1989 Installationen, Einrichtungsgegenstände, Einbauküchen und Badezimmer. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,48/StadtBlatt-Fotoarchiv, Nr. 80

Am 10. Juni 1989, einem sonnigen Samstag herrschte Volksfeststimmung am Wendeplatz des Klinkerweges. Mehr als 2.000 Menschen kamen aus dem gesamten Regierungsbezirk und dem Kreis Osnabrück, um an der Versteigerung des Inventars der Abbruch-Häuser. Installationen, Badezimmer, festmontierte Einrichtungsgegenstände und Einbauküchen (insgesamt 255 Positionen aus den 23 Deponiehäusern) verkaufte Auktionator Detlef Jentsch vom 10. bis 13. Juni 1989 „für `n Appel und `n Ei und ohne jede Haftung“ und erinnerte sich noch lange an eine der ungewöhnlichsten Versteigerungen seiner Laufbahn. Im Februar 1990 gab es eine weitere Versteigerung von Inventar aus vier Häusern, die in der Nähe standen und die für die Einkapselung abgerissen wurden.

Bei den Experten begann die Suche nach der besten Lösung, um die Gefahr zu bannen. Die Alternativen für die Deponie waren „Auskoffern“ oder „Einkapseln“. Das „Auskoffern“, also das Abtragen der mindestens 121.000 Kubikmeter Abfall (Ladung von über 8.000 großen Sattelzügen) wurde aufgrund der kaum einzuschätzenden finanziellen Folgen von der Politik nicht favorisiert. Bei einer Einkapselung sollten um die Giftgruben Spundwände gebaut werden und Planen das Regenwasser zurückhalten. Hierüber würde eine dicke Schicht Erdreich gelegt.

Um die geplante Einkapselung zu bezahlen, begann 1986 ein Prozess vor dem Bielefelder Landgericht, der von der Tagespresse als „Operation Strohfrau“ tituliert wurde. Eine ehemalige Eigentümerin eines Hauses auf der Deponie und gleichzeitig Mitarbeiterin beim Ordnungsamt verklagte die Stadt nach dem Verkauf ihres Hauses an die BWG (Bielefelder Wohnungsbaugesellschaft). Nachdem eine Amtspflichtverletzung im Fall der Giftmülldeponie lange geleugnet worden war, sollte diese nun aktenkundig werden, damit die Stadt Bielefeld vom Kommunalen Schadensausgleich (eine Haftpflichtversicherung für Städte) für die Kosten entschädigt würde. Wunschgemäß verlor die Stadt Bielefeld vor dem Oberlandesgericht Hamm und am 26. Januar 1989 vor dem Bundesgerichtshof. Dies war auch dringend notwendig, da für die Maßnahmen rund 27 Millionen Mark für die bebauten und unbebauten Flächen und 22,5 Millionen Mark für die eigentliche Einkapselung bezahlt werden mussten.

Im Dezember 1989 begann die Einkapselung der Deponie. Drei Fertighäuser wurden von einem Käufer abgebaut und im Osnabrücker Land wiedererrichtet, 25 Häuser wurden abgerissen. Im März 1991 wurde die ehemalige Deponie bepflanzt und eingezäunt. In einem Artikel im Westfalen-Blatt vom 27. August 2008 rechnete das Städtische Umweltamt vor, dass es noch bis zu 115 Jahre dauern könne, bis die Schadstoffe auf dem Gelände ungefährlich seien. Bis heute wird das Grundwasser in der Deponie untersucht und jährlich Methan aus dem Untergrund abgefackelt. Es gab immer wieder Diskussionen darüber, das Gelände allen Bürger*innen zu öffnen. Bislang scheiterten die Pläne jedoch an den hohen Kosten für Rodungs-, Umbau- und Unterhaltungsarbeiten.

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Abrissarbeiten in Brake im Januar 1990. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,48/StadtBlatt-Fotoarchiv, Nr. 80

Wandel in der Umweltpolitik

Wegen der fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Giftmüll-Altlastenproblem waren von 1983 bis 1988 an den Überprüfungen neun staatliche und fünf private Untersuchungsstellen beteiligt, über 210 Boden- und Abwasserproben, über 200 Bodenluftproben aus bis zu 131 Einzelparameter und über 480 Wasserproben untersucht. Dadurch, dass die Giftmülldeponie von Wohngebieten umschlossen war, handelte es sich um einen sehr schwierigen Fall. Der „Spiegel“ schrieb 1985 von „rund 50.000 bundesdeutschen ´Altlasten´, jener halb vergessenen Müll- und Schlamm-Kippen, auf denen während der fünfziger und sechziger Jahre die giftigen Ausscheidungen der Industriegesellschaft verbuddelt wurden.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wenige Ereignisse Bielefeld so verändert wie der Giftmüllfund. Die Politik und Verwaltung verloren Glaubwürdigkeit, im Rathaus wurde das alte Dreiparteiensystem erschüttert. Das aus dem Giftmüllskandal resultierende fehlende Vertrauen in die etablierten Parteien und die Stadtverwaltung führte zu einer moderneren Umweltpolitik in Bielefeld. Ein Umweltdezernat wurde als Zugeständnis der SPD an die Bunte Liste eingerichtet, ein Altlastenkataster erstellt, die Gerichtsurteile wirkten auf die Umweltpolitik der ganzen Republik; auch das deutsche Planungsrecht wurde nachhaltig umgeschrieben, damit solche Umweltskandale sich nicht mehr so einfach wiederholten.



Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,4/Büro des Rates, Nr. 204: Rat der Stadt, 20. Oktober 1983
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,18/Bauamt, Nr. 49: Bebauungsplan Brake
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,47/Bielefelder Stadtblatt, Nr. 600: Müll IV, Giftmüll Brake (2), Materialien
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,47/Bielefelder Stadtblatt, Nr. 620: Müll IV, Giftmüll Brake (1), Presse + Briefe etc.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,47/Bielefelder Stadtblatt, Nr. 621: Müll IV, Giftmüll Brake (1), Presse + Briefe etc.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,48/StadtBlatt-Fotoarchiv, Nr. 80
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 312, 313, 314: Abfallbeseitigung, Entsorgung; Umweltschutz
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 32: Neue Westfälische (Artikel v. 21.9.1983, 2.4.1984, 17.,19, 20. und 21.9.1988, 29.1.1997 27.8.2008, 8.2.2019, 6.8.2015, 9.2.2019, 24./25.5.2014), Nr. 54: Westfalen-Blatt (Artikel v. 21.-23.9.1983, 3.9.84, 27.8.2008)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,10/Zeitgeschichtliche Sammlung, Nr. 5780: die braker mit gift

Literatur

Internetquellen

Erstveröffentlichung: 01.09.2023

Hinweis zur Zitation: Bielke, Søren, 20. September 1983: Aufdeckung des Braker Giftmüllskandals, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2023/09/01/01092023/, Bielefeld 2023

4 Kommentare zu „20. September 1983: Aufdeckung des Braker Giftmüllskandals

  1. Vielen Dank für den sehr gut, ausführlichen Artikel über den Giftmüllskandal. Pro Grün kämpfte damals gegen den Abriss des Ensembles Ravensberger Spinnerei. Baudezernent Jürgen Hotzan war bis zu letzte fanatisch für das Straßennetz, das stattdessen entstehen sollte. – Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Artikel aus dem Historischen Museum

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  2. Sehr geehrter Herr Bielke, Sie schreiben, dass der damalige Planunsgamtsleiter Hotzan auf Druck der SPD zurücktreten musste. Hotzan war damals Beigeordneter der Stadt Bielefeld und für Planen, Bauen und Verkehr zuständig. Er ist nicht zurückgetreten, sondern vom Rat der Stadt abgewählt worden. Zur Abwahl des Liegenschaftsdezerneten Möllenbrock ( FDP ) fehlten der SPD die nötigen Stimmen im Stadtrat. Mit freundlichen Grüßen Volker Hausmann (seinerzeit Stadtkämmerer ) Dr. Volker Hausmann Klemensstraße14 D-33649 Bielefeld Tel:+49-521 – 40 42 580 Fax:+49-521 – 45 93 056

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