4. Juli 1923: Beschluss zur Gründung der Jugendherberge auf dem Meierhof Olderdissen

• Anna Vogt, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

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Außenansicht der städtischen Jugendherberge auf dem Meierhof Olderdissen, 1928; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 55-004-021

Stockbetten, Hagebuttentee und ein strenger Herbergsvater: Mit Jugendherbergen verbinden sich ganz eigene Assoziationen. Vor 100 Jahren, am 4. Juli 1923, beschlossen die Bielefelder Stadtverordneten die Einrichtung einer Jugendherberge auf dem Gut Olderdissen. Stetig wachsender Platzbedarf und höhere Ansprüche an die Ausstattung führten dazu, dass die Herberge in ihrer Geschichte selbst mehrfach wanderte: Von Olderdissen in die Sieker Schweiz zum heutigen Standort in der Innenstadt.

Beschluss zur Einrichtung der Jugendherberge auf dem Gut Olderdissen

Unter dem Tagesordnungspunkt 6 „Zustimmung zu der Einrichtung der früheren Jugendherberge Breitestrasse in dem Nebengebäude des Gutes Olderdissen“ stimmten die 40 Stadtverordneten ohne Diskussion und jegliche Einwände für die Einrichtung der neuen Wanderherberge, wie die Westfälischen Neusten Nachrichten einen Tag später, am 5. Juli 1923, berichtete. Die Hintergründe zur Verlegung der Jugendherberge trug Stadtrat Gottlob Binder (1885-1961) vor, der insbesondere auf den steigenden Platzbedarf hinwies: Bielefeld sei mit seiner Lage am Teutoburger Wald Ausgangspunkt vieler Ausflüge und da die Wanderlust der Jugend zugenommen habe, sei das bisherige Dachbodenlager in einer Scheune auf Olderdissen nicht mehr ausreichend. Daher solle in einem Nebengebäude des Meierhofs eine angemessene Jugendherberge mit Platz für 200 Wanderer eingerichtet werden.

Erste Initiativen zur Einrichtung eines Wanderheims 

Erste Überlegungen zur Einrichtung eines Wanderheims wurden im Zuge der Jugend- und Wandervogelbewegung bereits 1910 angestellt. Die Gruppe des Bielefelder Alt-Wandervogels verfügte über einen Spender, der den Bau einer Unterkunft unterstütze. Voraussetzung war die Bereitstellung eines Grundstücks auf dem Meierhof zu Olderdissen durch die Stadt. Unterstützt wurden die Pläne der Alt-Wandervogel-Gruppe unter anderem durch den späteren Direktor der Städtischen Museen, Dr. Eduard Schoneweg (1886-1969). Aufgrund eines Führungswechsels in der Wandervogel-Gruppe versandete diese frühe Initiative zur Einrichtung einer Wanderherberge jedoch.

Zehn Jahre später, 1921, richtete die Stadt Bielefeld in Zusammenarbeit mit dem als „Wandervater“ bekannten Heinrich Bultmann (1857-1934) zunächst eine behelfsmäßige Wanderherberge auf dem ehemaligen ‚Besselschen Grundstück‘ in der Breiten Straße ein. Der begeisterte Wanderer Bultmann betrieb am Schillerplatz 23 ein Geschäft für Wanderausrüstungen, ebenso leitete er Wander- und Singkreise und engagierte sich im Zweigausschuss Oberweser des Jugendherbergsverbands. Im Zuge der Bereitstellung einer Baracke durch die Stadt kümmerte er sich um die Betreuung der Unterkunft. Diese erste frühe Herberge für Wanderer verfügte über zwei Schlafräume mit 32 Militärbetten, in denen Gäste auf Strohsäcken die Nacht verbringen konnten, wobei eine Übernachtung mit 50 Pfennig zu Buche schlug.

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Nachruf auf „Wandervater Bultmann“ im Bielefelder General-Anzeiger vom 12. Oktober 1934; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 5

Da sich die Unterkunft in der Breiten Straße rasch als zu klein erwies, diente eine Scheune auf dem Meierhof Olderdissen zunächst als zusätzliche Ausweichunterkunft. Hier schliefen sowohl weibliche als auch männliche Wanderer auf einfachen Strohschütten, eine eigentlich vorgesehene Trennung der Geschlechter war aus Platzmangel nicht möglich. Trotz der spartanischen Ausstattung war die Herberge bei vielen „Tippelbrüdern“ aufgrund ihrer Lage im Stadtwald sehr beliebt. Als mit dem Ausbau der Neustädter Straße 1923 die Baracke an der Breiten Straße abgerissen werden musste, fiel der Entschluss, die bislang behelfsmäßig genutzte Herberge in Olderdissen zu einer neuen, besser ausgestatteten Jugendherberge auszubauen. Auch hier war Wandervater Bultmann als Förderer aktiv: In einem Nachruf anlässlich seines Todes 1934 wurden dessen Verdienste um „unsere schöne Jugendherberge Olderdissen“ besonders gewürdigt.

Umzug und Vergrößerung der Herberge 

Zunächst erfolgte 1923/24 eine Instandsetzung der bestehenden Scheune auf Gut Olderdissen. Nach den ersten Ausbauarbeiten fanden nun 150 Gäste in der Herberge Platz. Zur Unterstützung der Arbeiten veranstalteten Bielefelder Jugendgruppen in Zusammenarbeit mit der hiesigen Ortsgruppe des „Verbands deutscher Jugendherbergen“ vom 9. bis 18 Juli 1924 eine „Jugend-Herbergs-Woche-Bielefeld“. Ziel war es, die Bevölkerung über die Idee des Jugendwanderns und des Herbergswesens zu informieren. Gleichzeitig sollten für die Bielefelder Herberge Spenden gesammelt werden, um die Bauarbeiten weiter voranzutreiben. Zur Generierung von Spenden wurde unter anderem eine Postkarte der Jugendherberge Meierhof für 10 Pfennig verkauft. Das Geld wurde dringend gebraucht, schließlich sollte die Bielefelder Jugendherberge nach einem Zeitungsartikel der Volkswacht vom 28. Juni des Jahres zur „heimeligsten Herberge Deutschlands“ werden.  

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Aufruf zur Unterstützung der Bielefelder Jugendherberge, Westfälische Zeitung, 13.5.1924; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/ Zeitungen, Nr. 50

Begleitet wurde die Jugendherbergswoche von Vorträgen, Volkstanz- und Gesangsdarbietungen. Die Eröffnung fand am Mittwoch, den 9. Juli, im Stadttheater Bielefeld mit der Vorführung des Stummfilms „Ich fahr‘ in die Welt“ statt. Die Bereitstellung des Theaters durch die Stadt macht deutlich, welche Bedeutung der Jugendpflege und dem Herbergswesen auch in Verwaltung und Politik beigemessen wurde. In seinen Eröffnungsworten wies Kreisjugendpfleger Fritz Doht (1891-1960) auf die stärkende Wirkung der Naturerfahrung hin, die gerade für die Jugend nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wichtig sei. Durch eine neue Herberge könne zudem der Ruf der Stadt Bielefeld profitieren. Auch der Begründer des Deutschen Jugendherbergsverbands, Richard Schirrmann (1874-1961), war vor Ort und hielt einen Vortrag zu seinem Lebensthema „Wandern und Jugendherbergen“.

Die Initiativen der lokalen Jugendgruppen zur Einrichtung einer Jugendherberge fielen Anfang der 1920er Jahre in eine Zeit, in der im Zuge der Jugend-, Lebensreform und Wanderbewegung zahlreiche Gruppen das Jugendwandern unterstützten. Immer mehr Vereine, Schulen und Gemeinden traten dem „Verband deutscher Jugendherbergen“ bei, so auch die Bielefelder Schützengesellschaft, die dem Verband im Jahr 1920 3.000 Mark zur Errichtung von Jugendherbergen spendete. 1924 trat schließlich auch die Stadt Bielefeld dem Verband bei.

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Kostenvoranschlag des Jahres 1925 für den Umbau der Jugendherberge auf dem Gut Olderdissen; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,2/ Magistratsbauamt, Nr. 429

Am 5. März 1925 informierte das städtische Jugendamt Oberbürgermeister Rudolf Stapenhorst (1865-1944), dass der frühere Besitzer Meier zu Olderdissen vom Hofe verzogen sei und so auch die Tenne, die sich in der als Herberge genutzten Scheune befinde, fortan mitgenutzt werden könne. „Wir bitten, die Tenne nunmehr zur weiteren Ausgestaltung der Jugendherberge nutzen zu dürfen. Herr Garten-Direktor Meyerkamp hat gegen die Überlassung an die Jugendherberge keine Bedenken.“ Der Nutzung der Tenne als zusätzlichen Raum wurde zugestimmt und in einem ersten Kostenvoranschlag die notwendigen Arbeiten zusammengefasst. Im Außenbereich mussten der Vorhof gepflastert, Müllgruben angelegt, Dächer erneuert und Rohre verlegt werden. Im Innenbereich wurden u.a. Badezimmer eingerichtet und Wände gestrichen. Der Dielenfußboden im Tagesraum schlug mit 482 Mark zu Buche, die Installation eines Ofens mit 504,40 Mark. Insgesamt wurde mit Kosten von etwa 13.000 Mark gerechnet. 

Eröffnung der „bestens ausgestatteten Jugendherberge“ 1925

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Tagesraum der Jugendherberge mit Gitarre und Laute an der Wand, 1928; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 55-004-020

Die Arbeiten gingen gut voran: Bereits am 20. September 1925 konnte die „bestens ausgestattete Jugendherberge“ feierlich eröffnet werden. Zu diesem Anlass veranstaltete die Ortsgruppe Bielefeld des Jugendherbergsverbands am 19. und 20. September 1925 abermals einen „Werbetag“. Die neue Jugendherberge bewegte viele Bielefelder Bürgerinnen und Bürger: Neben zahlreichen Schulen beteiligten sich auch 86 lokale Vereine und Gruppen an dem Werbetag, zu dem mehrere tausend Teilnehmer erwartet wurden.

Zum Auftakt führte am Samstagabend ein Fackelzug aus den Außenbezirken zum Kesselbrink und zahlreiche Jugendliche zogen fröhlich singend durch die Stadt. Die Einweihung der festlich geschmückten Herberge fand schließlich am Sonntagabend um sechs Uhr im Beisein von Politikern und Jugendleitern vor zahlreichen Gästen statt.  Der 1879 geborene Stadtrat Karl Oster übergab im Namen der Stadt das Gebäude an den westfälischen Jugendherbergsverband. Dessen zweiter Vorsitzender, Wilhelm Münker (1874-1979), bezeichnete die Bielefelder Herberge als „vorbildlich“ und dankte allen, die zur Entstehung beigetragen hatten.

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Stockbetten in der neu eingerichteten Jugendherberge im Mädchenschlafraum, 1928; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/ Fotosammlung, Nr. 55-004-001

Im Zuge der Einweihung stellten die Zeitungen die Unterkunft ausführlich vor: Gelobt wurden die freundlichen Wandfarben und die mit Matratzen ausgestatteten Betten. Entstanden waren 100 Schlafplätze und 50 Notlager mit Strohsäcken. Auch Duschen – allerdings nur mit Kaltwasser – standen für Wanderer zur Verfügung. Nach Fertigstellung der Herberge zog 1926 das erste Herbergselternpaar, Herbergswart Hermann Ellerbrok (1901-1947) mit seiner Frau Anna (1903-1991) an der Dornbergerstraße 149a ein.

Mit der Zeit wurde deutlich, dass der Platz nicht ausreichte. Politische Schulungslager und Fahrten von Wandergruppen der Hitlerjugend hatten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 die Übernachtungszahlen ansteigen lassen. 1939 wurden für die Olderdisser Herberge 5.445 Übernachtungen gezählt, was die Kapazitäten der Einrichtung deutlich überstieg. 

Neubau der Jugendherberge ab 1937

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„Baut Jugendherbergen und Heime“, Titel der Broschüre „Jugend und Heimat“ des Reichsverbands für Deutsche Jugendherbergen, Heft 4, Jg. 18, April 1937; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,2 / Magistratsbauamt, Nr. 214

Aufgrund der Platzprobleme wurden ab Januar 1937 erste Vorbereitungen zum Bau einer neuen Jugendherberge in der sogenannten Sieker Schweiz auf einer Hangwiese an der Osningstraße getroffen. Die Stadt stellte ein 6000 Quadratmeter großes Grundstück auf dem Rütli-Höhenzug mitten im Grünen zur Verfügung. Zur Zeit des Nationalsozialismus stand der Neubau der Jugendherberge ganz im Zeichen der politischen Propaganda. Aktiv wurde dazu aufgerufen, den Bau von Jugendherbergen und Hitler-Jugend-Heimen zu fördern („Baut Herbergen!“). Denn, so hieß es in einer Broschüre des zwischenzeitlich parteipolitisch ausgerichteten „Reichsverbands für Deutsche Jugendherbergen“: „In den Jugendherbergen lernt die Jugend die Notwendigkeit, sich für den Lebenskampf stählen zu müssen (…), gewinnt Selbstvertrauen, Sicherheit im Auftreten durch den anderen Kameraden gegenüber und gesteigertes Lebensgefühl.“

In Zusammenarbeit mit dem Landesverband Westfalen des Jugendherbergswerks erarbeitete Stadtbaurat Friedrich Schultz (1876-1945) die Pläne. Die Baukosten trug die Stadt Bielefeld, wobei der Landesverband einen Zuschuss zahlte und die Ausstattungskosten übernahm. Eine erste Kostenschätzung vom 18. Mai 1937 ging von Baukosten in Höhe von 163.000 Reichsmark aus, wobei alleine 8.000 Reichsmark für eine eigene Kläranlage berechnet wurden.

Um sich vor dem Neubauprojekt umfassend über den Funktionsbau Jugendherberge zu informieren, fand am 8. April 1937 eine Dienstreise zur Besichtigung der Jugendherbergen in Detmold, Meschede, Bielstein und am Möhnesee statt. An der Besichtigung, die durch den Landesleiter des Reichsverbandes Deutscher Jugendherbergen Wilhelm Grimmelt geführt wurde, nahm neben Stadtoberbaurat Schultz auch Stadtrat Ludwig Heitkamp (1880-1945) und Jungbannführer Daniel Vollert teil.

In dem anschließend von Schultz verfassten Bericht stellte dieser fest: „Es wurde durch Vergleich der verschiedenen Anlagen und Beobachtungen des Betriebs festgestellt, dass für die Lage der Küchen, der Wohnung des Herbergsvaters, der Aborte, Bade- und Waschanlagen, der Tagesräume, Schlafräume usw. aus dem Betriebe ganz bestimmte Anforderungen erwachsen, deren Nichtbeachtung zu schweren betrieblichen Fehlern und daher zu unnötiger Kostenbelastung führen muss.“ Im Nachgang der Besichtigung sicherte Stadtoberbaurat Schultz dem Jugendherbergsverband zu, kurzfristig ein Bauprogramm aufzustellen. Für den Entwurf plante Schultz ein „heimatlich anmutendes Gebäude“, das sich in bodenständiger Bauweise an die großen Formen des Ravensberger Bauernhauses anlehnen sollte.

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Plan der neuen Jugendherberge an der Osningstraße des Stadtbaurats Schultz; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,2/Magistratsbauamt, Nr. 214

Im August 1937 wurden die Baupläne an den Jugendherbergsverband gesandt. Prägendes Element der Entwürfe war die große Terrasse mit Freitreppe, die den Blick vom Hang ins Tal betonte. Um in Mangelzeiten den Eisenbedarf möglichst gering zu halten, änderte Schultz die Pläne mehrfach und nutzte vor allem Stein und Holz an Stelle von Eisenträgern: So wurde die Kellerdecke als massives Steingewölbe ausgeführt, die Decken im Obergeschoss in Holz. Das Eichenholz stammte aus den stadteigenen Waldungen und lag 1937 bereits geschlagen vor.

Der im August 1938 mit dem Jugendherbergsverband geschlossene Vertrag legte fest, dass von den berechneten Kosten i.H.v. 200.000 Reichsmark 150.000 RM die Stadt und 50.000 RM der Landesverband übernahm. Auf Plänen wurde die Jugendherberge zu diesem Zeitpunkt bereits als „HJ-Heim“ bezeichnet. In einer Ausstellung über Jugendherbergen 1938 in der Berliner Reichskanzlei wurde auch die Bielefelder Herberge vorgestellt. Hierfür sandte Stadtoberbaurat Schultz am 8. Oktober 1938 eine Mappe mit 3 Grundrissen, 2 Ansichten und einem Lageplan im Original zur Verwendung „bei der für den Führer veranstalteten Ausstellung“ in die Hauptstadt.

Im September 1940 erkundigte sich der Jugendherbergsverband bei Oberbaurat Schultz über den Baufortschritt.  Wiederholt gingen bereits Bewerbungen für die Herbergs-Wart-Stelle ein. Stadtoberbaurat Schultz antwortete wenige Tage später: „Die Jugendherberge wird wahrscheinlich in etwa 3 Monaten betriebsfertig sein. Falls dann noch Krieg sein sollte, wird sie vermutlich einstweilen als Hilfskrankenhaus von uns in Anspruch genommen werden, weil unter dieser Bedingung die Fertigstellung erlaubt wurde. Ich nehme indessen an, dass mindestens am 1. April sich die Sachlage so geklärt hat, (…) dass dann der Betrieb der Jugendherberge eröffnet werden kann.“ Bedingt durch die Kriegsgeschehnisse wurde die Herberge nach ihrer Fertigstellung Anfang der 1940er Jahre jedoch zunächst für andere Zwecke genutzt.

Herberge ohne Wanderer: Die neu gebaute Herberge nach ihrer Fertigstellung

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Modell der Jugendherberge an der Osningstraße; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 55-004-008

Zunächst diente das Gebäude als sogenanntes „Jugendertüchtigungslager“ bzw. „Wehrertüchtigungslager“ der Hitler-Jugend, die hier ab 1942 Schulungen und Lehrgänge durchführte. So fand im Oktober 1942 die erste Führerschulung des Bannes 158 statt: Mitzubringen waren neben Schlafsack und Sportzeug auch 50 g Fleisch, 25 g Fett und 250 g Brot. Zusätzlich wurde das Haus als Hilfskrankenhaus und von Januar 1943 bis Oktober 1944 auch zur Unterbringung russischer und polnischer Zwangsarbeiterinnen genutzt. 

Mit Ende des Zweiten Weltkrieges veranlassten die britischen Militärbehörden die Einrichtung einer Krankenstation. Aufgrund der Hanglage kam es bei der „Krankenstation Jugendherberge“ regelmäßig zu Wasserknappheit, weshalb Wasser mit dem Auto transportiert werden musste. Der hierfür benötigte Treibstoff war jedoch knapp, sodass man seitens des Krankenhauses darauf drängte, den vom Wasserwerk geplanten Hochbehälter schnellstmöglich umzusetzen, da auf der Geschlechtskrankenstation ansonsten „katastrophale Verhältnisse“ eintreten würden. Außerdem müssten die Treibstoffkosten von einer zentralen Stelle übernommen werden. Das Wasserwerk seinerseits lehnte die Übernahme der Treibstoffkosten mit der Begründung ab, man habe bereits beim Bau der Herberge darauf hingewiesen, dass die Wasserversorgung am Standort nur bedingt möglich sei. Zur Behebung der Problematik wurden auf Antrag bei der Straßenbaudirektion in Düsseldorf zusätzliche Treibstoffmengen genehmigt, was die Versorgung bei Engpässen sicherte.

Oktober 1950: „Jugendherberge wieder Schmuckkästchen“

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Außenansicht der Jugendherberge in der Sieker Schweiz auf einer Ansichtskarte; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,6/Ansichtskarten, Nr. 1780

Im Herbst 1950 stand das Gebäude nach Freigabe durch die Britische Armee und umfassende Renovierungs- und Desinfektionsarbeiten schließlich seinem eigentlichen Zweck zur Verfügung. In Vorfreude auf die Eröffnung titelte die Westfälische Zeitung am 12. Oktober 1950 „Jugendherberge wieder Schmuckkästchen“ und bezeichnete das Haus „ohne jede lokalpatriotische Übertreibung (…) als schönste Herberge weit und breit.“ Am 15. Oktober 1950 weihte Staatsminister a.D. Carl Severing (1875-1952), begleitet von den Eröffnungsgesängen des Bielefelder Kinderchors, die Jugendherberge feierlich ein. Unter den Gästen war neben Landrat Franz Specht (1891-1964) auch der der Nestor der Jugend- und Naturfreundebewegung Carl Schreck (1873-1956).

Der stellvertretende Oberbürgermeister Walter Bolbrinker (1896-1981) übergab den Schlüssel an den Geschäftsführer des Jugendherbergswerks und gedachte des zwischenzeitlich verstorbenen Stadtoberbaurates Schulz, der den Neubau maßgeblich geprägt hatte: „Zwingende Umstände haben viele Jahre die Jugendherberge ihrem eigentlichen Zweck vorenthalten. Nun aber möge sie endlich zur immerwährenden Heimstätte der Jugend werden, die Erholung und Freude, Sinn für Natur und Heimatpflege aus ihr schöpfen möge“, so Bolbrinker.

Severing erinnerte in seiner Festrede an die Vorkämpfer der deutschen Einheitsbestrebungen, Ludwig Jahn (1778-1852) und Ernst Moritz Arndt (1769-1860), und zitierte mit Blick auf die wechselvolle Geschichte der Herberge den Dichter Freiligrath mit den Worten „Nun haben wir sie doch befreit, befreit aus ihren Särgen!“. Mit Blick auf die Nutzung als Wehrertüchtigungslager der Hitler-Jugend gab Severing zu bedenken, dass ein Motiv des Jugendwanderns die Ertüchtigung der Jugend sei, „nicht aber eine Wehrertüchtigung, sondern Pflege der Liebe zur Heimat.“ Drei Worte müssten, so Severing, als künftige Losung über der Jugendherberge stehen „Friede, Freiheit und Frohsinn“.

Die Jugendherberge in der Nachkriegszeit 

1960 konnte die Herberge bereits ihren 10. Geburtstag feiern, zu dem alle Bielefelder bei einem Tag der offenen Tür eingeladen waren, sich von dem „meistbesuchten Haus der Stadt“ ein Bild zu machen. Seit April 1960 war der 1922 in Opladen geborene Hans Schwanke als Herbergsvater tätig, der in einem Artikel des Westfalen-Blatts vom 5. Juli 1960 ganz grundsätzliche Veränderungen im Freizeitverhalten bemerkte. So habe der Bustourismus zugenommen und der Koffer den Wanderrucksack vielfach ersetzt. Als neues Phänomen zeigte sich 1960 außerdem das „Trampen“: Junge Leute, die kilometerweit mit dem Auto mitgenommen wurden, kämen oftmals erst spät nach Mitternacht an, um ein Zimmer zu beziehen. Den Herbergsvater störten aber insbesondere „vornehmen Herrschaften“, die elegant gekleidet mit dem Auto vorfuhren, um eine günstige Unterkunft zu bekommen: „Diese Leute komplimentiere ich höflich, aber unmissverständlich wieder zur Tür hinaus, denn sie gehören in ein Hotel“ so Schwanke.

Im Zuge des Zustroms von Flüchtlingen aus der Sowjetischen Besatzungszone kam es im August 1961 zur vorübergehenden Beschlagnahmung der Jugendherberge durch die Stadt. Unterkünfte zur Unterbringung der Geflüchteten fehlten, weshalb sich die Verantwortlichen gezwungen sahen, die Jugendherberge als Notunterkunft zu nutzen. Zeitweise lebten 85 Geflüchtete in der Herberge. Die Beschlagnahmung erfolgte befristet bis zum 31. Dezember 1962, wobei Oberbürgermeister Dr. Nierhoff (1897-1988) hoffte, durch fortschreitenden Wohnungsbau die Unterbringung in Jugendherbergen und Turnhallen künftig zu umgehen. Tatsächlich meldeten die Zeitungen bereits im Dezember 1961 „Jugendherberge in Sieker ist frei“, nachdem die letzten Zuwanderer in anderen Einrichtungen untergebracht werden konnten.  

In den 1960er Jahren kam es außerdem zur Straßenumbenennung: Auf Initiative des Deutschen Alpenvereins, Sektion Bielefeld, die 1963 ihr 70. Jubiläum beging, wurde 1964 der Teilabschnitt der Osningstraße 165 in Oetzer Weg, nach dem in Tirol befindlichen Oetztal, umbenannt. Seitdem befand sich die Herberge am Oetzer Weg Nr. 25.

Verlegung der Jugendherberge in die Innenstadt

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Lageplan der Jugendherberge Bielefeld-Sieker in einem 1963 vom Jugendherbergsverband veröffentlichten Wanderführer; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,2/Schulverwaltungsamt, Nr. 1165

Bis 1999 wurde die Jugendherberge in der Sieker Schweiz von Einzelwanderern und Gruppen genutzt. Zwar war die Herberge mit der Stadtbahnlinie von der Endstation Sieker in 20 Minuten zu erreichen, dennoch lag sie für den Wunsch vieler Reisender, etwas in der Stadt zu erleben, zu weit außerhalb. Daher wurde die Herberge in die Innenstadt verlegt und befindet sich seit dem 1. Juni 2000 auf dem ehemaligen Gelände der Maschinenfabrik Dürkopp in der Hermann-Kleinwächter-Straße 1. Die Unterkunft nennt sich nicht mehr Jugendherberge, sondern „Jugend-Gästehaus“. Das Gebäude der ehemaligen Jugendherberge am Oetzer Weg wurde zu Wohnungen umgebaut. Mit der Nr. 160 ist es als Baudenkmal in die Denkmalliste der Stadt Bielefeld eingetragen. In der ehemals als Herberge genutzten Scheune auf dem Meierhof, Dornberger Straße Nr. 149, befinden sich heute Lagerräume sowie die Besuchertoiletten für die Gäste des Heimattierparks Olderdissen.  

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 101,1/Geschäftsstelle I (Hauptbüro), Nr. 217, Bd. 3, Nr. 218
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 102,2/Oberstadtdirektor, Nr. 121
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 104,3/Einwohnermeldeamt; Nr. 1505; Nr. 1283
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 107,2/Schulverwaltungsamt, Nr. 1165
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 108,2/Magistratsbauamt, Nr. 214, Nr. 429;
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 109,1/Sozialamt, Nr. 1009
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 130.9/Gemeinde Gadderbaum; Nr. 1267, Nr. 3553
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 140/Protokolle, Nr. 14
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 400,1/ Westermann-Sammlung, Nr. 58, Nr. 192,1
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten (Artikel vom 20.04.1921; 5.7.1923; 28.6.1924; 12.10.1934); Nr. 13: Freie Presse (Artikel v. 14.10.1950 und 16.10.1950); Nr. 32: Neue Westfälische (Artikel v. 21.7.1973); Nr. 39: Volkswacht (Artikel v. 24.6.1924), Nr. 50: Westfälische Zeitung (Artikel v. 13.5.1924; 25.7.1930; 12.10.1950; 23.08.1960)

Literatur

  • Liebold, Christel: „Für das Wandern aus dem Stadthäusermeer ins Freie…“ Entstehung und Entwicklung der Jugendherbergen, in: Franke, Gerhard, Klöne, Hans u.a. (Hrsg.): Der Minden-Ravensberger, Jg. 74 (2002), Bielefeld 2002, S. 88-92.
  • Jugendherbergswerk Westfalen-Lippe und Westfälischer Heimatbund (Hrsg.): Wanderführer Jugendherberge Sieker, verfasst von Ernst Maoro, Bielefeld 1963.

Vogt, Anna, 4. Juli 1923: Beschluss zur Gründung der Jugendherberge auf dem Meierhof Olderdissen, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2023/07/01/01072023/, Bielefeld 2023

3 Kommentare zu „4. Juli 1923: Beschluss zur Gründung der Jugendherberge auf dem Meierhof Olderdissen

  1. … die behelfsmäßige ‚Wanderherberge‘ für undefenierbare Zeit in der Breite Straße auf dem ‚Bessel‘schen Grundstück‘ (müsste m.E. nach die ehem. Nr. 22 sein) besonders aufmerksam werden ließ, recherchiere / schreibe ich doch über die Neustadt Bi. – und so selbstverständlich auch über die Br. Str. . Zu dieser Ortsangabe passen 2 Abbildungen:
    • eine Kottmann-Zeichnung m. umfängl. Behelfs-Bau und zeitlichem Archiv-Verweis, dass diese vor der Neustädter Str.-Erweiterung 1913 gezeichnet wurde, und
    • ein Foto der 4. , inzw. etwas stabileren Bielefelder Ausgabe-Stelle für an der Quäkerspeisung teilnehmenden Kindern wohl an gl. Stelle in der Breite Str. , die dort von 1920 – 1924 einsatzbereit war.
    Meine Frage: wie konnte hier zudem 1921 (!) noch die ‚Wanderherberge‘ sein?

    Für Antwort dankbar und mit besten Grüßen
    Helga Schulze-Kämper

    Gefällt 1 Person

    1. Vielen Dank für den Hinweis, auch zu den zwei möglichen Abbildungen.
      In den Westfälischen Neuesten Nachrichten vom 20. April 1921 wird die Einrichtung der Jugendherberge in der Breiten Straße genannt: „Hier im Ravensberger Land arbeitet der Zweigausschuß Oberweser des Verbandes Deutscher Jugendherbergen, in dem besonders der Wandervater Bultmann-Bielefeld seine selbstlose Arbeit entfaltet. Unter seiner Leitung ist jetzt auf dem früher Besselschen Grundstück an der Breiten Straße eine Wander-Jugendherberge eingerichtet worden. Die Stadt Bielefeld hat zu diesem Zwecke eine Baracke zur Verfügung gestellt (…).“ Der Zeitungsartikel ist auch unter dem Beitrag verlinkt.
      Ggf. handelte es sich bei dem Besselschen Grundstück, Hausnummer 22, um ein größeres Grundstück mit mehreren Baracken, sodass hier neben der Jugendherberge auch das Licht- und Luftbad für Kinder angesiedelt war. In einem Zeitungsartikel der Volkswacht vom 14.4.1920 wird auch die „an den Platz anstoßende Volksküche“ genannt.

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      1. Danke für prompte Beantwortung, Frau Vogt; im Übrigen teile ich Ihre mögl. Erklärung – auch im Hinblick auf den deutlich langestreckteren Behelfs-Bau auf der Kottmannschen Zeichnung.

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