• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •
Die folgende Darstellung basiert lose auf realen Begebenheiten und Gegebenheiten.
Bielefeld, Rathaus am Schillerplatz, 29. August 1907, 12 Uhr, kurz nach der Einweihung des Denkmals für Wilhelm I.:

Der Kaiser hatte mit seinen Söhnen die Reihe dienernder und knicksender Ehrengäste abgeschritten, ausgewählten Honoratioren zugenickt und, so ist´s noch verbürgt, unentwegt gescherzt, ehe er den großen Saal des 1904 eingeweihten Rathauses betrat. Etwas nervös wies Oberbürgermeister Gerhard Bunnemann (1840-1925) auf das opulent aufgemachte neue Goldene Buch der Stadt: „Dieses Werk, Euer Majestät, bildet mit Pokal und Weinkanne den Grundstock unseres Ratsschatzes. Unsere soeben eingestellte Kunstgewerbelehrerin Fräulein Kleinhempel hat es eigens für Euren gnädigen Besuch angefertigt.“
Wilhelm II. nahm nacheinander den erhabenen Einband und die bunten Vorsatzbögen zur Kenntnis und berlinerte übertrieben jovial drauflos: „Prächtig, prächtig, mein lieba Oberbürjermeesta, da hamse aba een talentiertes Frauenzimma aus unsera holden Weiblichkeit jewonnen. Dit Stadtwappen ordentlich jeschmückt auf´m Deckel und een janzes Bataillon Fische akkurat ausjerichtet vorn und hinten. Wusste jar nich, dit Bielefeld am Meer liegt. Aba, wie sag ick imma: Unsre Zukunft liegt auf´m Wassa. Und hier! Tjibsdojarnich! ´B-I-E-L-E-F-E-L-D´ – Parade und Scharade uf eenen Blick – knorke, wie raffiniert!“

Bunnemann stutzte, nickte dennoch, ganz Untertan, schnell zustimmend, trat für eine Prüfung der rätselhaften Bemerkung jedoch eine Spur zu nahe an den Monarchen heran und sagte leicht verwirrt: „Ja, ja, Euer Majestät, ´Bielefeld´, so heißt das hier seit Kaisers Zeiten, ääääh, seit langem.“ Willem Zwo verstand jetzt gar nichts, beendete abrupt die gezeigte Konzilianz, wollte (aber konnte nicht) abwehrend den linken Arm erheben, ergriff dann flugs die Feder und setzte schwungvoll „seinen Kaiser Wilhelm“ auf das Pergament, um die entstandene Peinlichkeit zu beenden.
Eine Nachfrage zu den schwer zu erklärenden Dutzenden bunten Fischlein auf den Vorsatzbögen hatte Bunnemann noch erahnt bis befürchtet, aber – er guckte sich die Augen wund – wo stand dort „BIELEFELD“? Augenscheinlich halluzinierte Majestät unter dem Eindruck der Reise- und Programmanstrengungen und bekannten Schönheit Bielefelds. Wie sollte das mit dem Friedenskaiser nur eines Tages enden?
Ende der losen, auf realen Begebenheiten und Gegebenheiten basierenden Darstellung.
Herkunft, Ausbildung und künstlerische Erfolge
Johanna Gertrud („Gustel“) Kleinhempel, das talentierte „Frauenzimma“ der im Detail nicht belegbaren Eingangsdichtung, war am 1. Weihnachtstag 1875 in Schönefeld bei Leipzig geboren. Der Vater Friedrich Hermann, ein Zollbeamter, starb, als Gertrud acht Jahre alt war. Die Mutter Amalie Auguste Kleinhempel geb. Schildbach zog mit den acht Kindern nach Dresden, wo Gertrud 14-jährig in die Zeichenschule des örtlichen Frauengewerbevereins ging, um eine Ausbildung im Kunststicken und zur Zeichenlehrerin zu absolvieren. Nach erfolgreicher Prüfung 1894 wechselte sie an die zehn Jahr zuvor gegründete private Zeichenschule des Münchener Künstlerinnenvereins, ausgestattet mit einem Stipendium einer Mitinhaberin der „Leipziger Illustrierten Zeitung“, was eine gewisse Bekanntheit und auch Anerkennung ihres gezeigten Talents beweist. Noch in München arbeitete Kleinhempel 1898 ein Jahr für die Zeitschrift „Jugend“, kehrte dann aber nach Dresden zurück.

Dort trat sie eine Stelle an den gerade gegründeten „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst“ (später „Deutsche Werkstätten Hellerau“) von Karl Schmidt (1873-1948) an, der künstlerisch reizvolle und gleichzeitig erschwingliche Möbel für den Mittelstand produzieren wollte. Künstlerinnen und Künstler sollten dafür Designentwürfe liefern, am Gewinn beteiligt werden und gleichzeitig die Urheberrechte behalten. Dieses Konzept ging auf und die Werkstätten avancierten innerhalb eines Jahrzehnts zum führenden Möbelhersteller im Deutschen Reich. Firmenchef Schmidt adelte später Kleinhempel als „die tüchtigste Frau, die ich im Leben kennengelernt habe“. Schmidts Betrieb war ebenso wie die „Werkstätten für Deutschen Hausrat“ aus Dresden, für die Kleinhempel ebenfalls tätig war, auf zahlreichen Ausstellungen präsent. Das brachte für Unternehmer wie für Urheber gleichermaßen Vorteile: mehr Bekanntheit, neue Absatzmärke, höhere Gewinne und steigende Beteiligungen.
Kleinhempel stellte gemeinsam mit ihrem Bruder Erich Kleinhempel 1899/1900 und 1901 in Dresden aus, 1902 in Turin mit zwei eingehend gelobten Entwürfen von ambitioniert ausgefallenen und zugleich günstig zu produzierenden Zimmermobiliar („mit den allerschlichtesten Mitteln einen Hauch von Kunst zu erhaschen“), 1904 gar bei der Weltausstellung in St. Louis. Von besonderer Bedeutung war die Teilnahme an der III. Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden, wo die Arbeiten der Künstlergruppe, der Gertrud Kleinhempel angehörte, erneut positiv besprochen wurden: „mit wahren Vergnügen ist danach getrachtet worden, die angeborne Schönheit und spezifische Eigentümlichkeit des Materials ins rechte Licht zu rücken“. Neben Möbeln entwarf Kleinhempel inzwischen auch Teppiche, Lampen, Spielzeug, Schmuck und Silberarbeiten bis hin zu Einzelstücken für das Dresdner Ratssilber 1906.
Die von Gertrud Kleinhempel und anderen vollzogene Stilinnovation weg vom Jugendstil zu klareren Formen fand ebenso gesellschaftliche Akzeptanz wie den Beifall der Kunstszene und führte die Reformer in die Institutionen, die eine Weitergabe eigenen künstlerischen Ausdrucks sowie eine zuverlässige Alimentierung versprachen. Ausstellungs- und Publikationstätigkeiten taten ein Übriges, um die Aufmerksamkeit Bielefelds auf die Künstlerin zu lenken, die mit ihren Brüdern eine private, allerdings kaum auskömmliche Kunstschule betrieb.
An der Handwerker- und Kunstgewerbeschule Bielefeld
In Bielefeld hatte der aus der Stadt stammende preußische Handelsminister Theodor Adolf von Möller (1840-1925) erfolgreich die Einrichtung einer Handwerker- und Kunstgewerbeschule vorangetrieben. Diese allein in Preußen existente Schulform sollte zukünftigen Handwerkern und Gewerbetreibenden unter fachlicher Anleitung künstlerische Fertigkeiten vermitteln, um die Herstellung qualitätvoller und markttauglicher Produkte zu schulen. Gründungsdirektor Wilhelm Thiele (1873-1945?) war zuvor Regierungsbaumeister in Dresden gewesen, kannte Kleinhempel aus dieser Zeit. Er bot ihr eine Stellung an der neuen Schule an. Kleinhempel unterzeichnete im Dezember 1906 den Anstellungsvertrag, der einige Klauseln enthielt: Zunächst war die Anstellung nur vorläufig, da die Schule selbst eine zweijährige Probephase durchlaufen musste. Darüber hinaus sollte erst nach drei Jahren über eine Festanstellung entschieden werden. Außerdem galt das „Lehrerinnen“-Zölibat, wonach eine Eheschließung zum Ausscheiden aus dem Schuldienst führte. Am 6. April 1907 zog Kleinhempel von Dresden nach Bielefeld, Hammerschmidtstraße 9, und wohnte dort für rund zwei Monate bei ihrem Chef Thiele. Im selben Jahr noch zog sie in den Bürgerweg (heute Stapenhorststraße) 59.

Trotz der arbeitsvertraglichen Einschränkungen und damals noch üblichen schlechteren Bezahlung gegenüber männlichen Kollegen, waren Kleinhempels Befugnisse ungewöhnlich weitreichend. Im Gegensatz zu anderen Schulen erhielt sie sowohl die technische wie auch die künstlerische Leitung der Textilklasse, der in der Leinenstadt Bielefeld eine große Bedeutung zukam. Üblicherweise wurden diese Leitungsfunktionen geteilt und die künstlerische Verantwortung Männern übertragen. Außerdem übernahm Kleinhempel am Tag der Schuleröffnung, dem 1. April 1907, sogleich den Allgemeinunterricht, d. h. auch den für die anderen drei, von Männern geleiteten Sparten („Klassen“): Dekorationsmalerei/Graphik, Bildhauerei und Baugewerbe. Diese aus dem Stand zugebilligten Verantwortlichkeiten können nur aus der Bekanntheit und Anerkennung Kleinhempels erklärt werden, die sie in den Vorjahren national und international erworben hatte.
Die sich entwickelnde Kunstszene Bielefelds empfing Kleinhempel mit offenen Armen, zumal ein städtisches Kunstmuseum und -angebot fehlte. Otto Fischer (1879-1927), der 1901 eine Buch- und Kunsthandlung eröffnet hatte und im „Kunstsalon Fischer“ bald schnell wechselnde Ausstellungen zeigte, lud sie sogleich zu einer Werkschau ein, darüber hinaus zur Gestaltung des von ihm ab 1907 herausgegebenen „Bielefelder Kunstblatts“.

Dass Kleinhempel auch Aufträge der Stadt erhielt, dürfte kaum überraschen, aber die Gestaltung des „Goldenen Buches“ noch im Jahr der Aufnahme ihrer Lehrtätigkeit zeugte von großem Vertrauen – und vielleicht auch einer gewissen Not, denn wer konnte in Bielefeld überhaupt ein solch wichtiges Objekt in befriedigender und angemessener Form entwerfen? 1910 designte sie einen Kristallglaspokal mit silbernem Gehäuse, der dem traditionsreichen Garnisons-Infanterieregiment 55 anlässlich der Offizierscasino-Einweihung überreicht wurde, und den Ehrenbürgerbrief für den ausscheidenden Oberbürgermeister Bunnemann. 1915 entwarf sie die Karten, die zur Nagelung des Eisernen Wehrmanns am Alten Markt berechtigten. 1910 war sie mit kleineren Beiträgen an Thieles Gold-prämiertem Direktorenzimmer der Brüsseler Welt-Ausstellung beteiligt.
Bewiesene künstlerische Kreativität und pädagogische Fertigkeiten nützten indes nichts, wenn es um harte Anstellungs- und Besoldungsfragen ging. Während Kleinhempels männliche Kollegen Hans Perathoner (1872-1946) und Ludwig Godewols (1870-1926) sowie Thiele 1909 unbefristete Verträge erhielten, ging sie selbst zunächst leer aus. Das Finanzministerium lehnte eine Festanstellung ab, und das in einer Situation, als Kleinhempel ihre Mutter und ihren verunglückten Bruder Fritz aufgenommen hatte. Auf Antrag Thieles, der künstlerisches Können und Unterrichtserfolge, Fleiß und Gewissenhaftigkeit lobte, bewilligte der Magistrat endlich eine Oberlehrerinnen-Besoldung.

Kleinhempel trat 1908 dem im Vorjahr gegründeten Deutschen Werkbund bei, einer „Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen“, die eine „Veredelung der gewerblichen Arbeit“ intendierte, also das, was im Kleinen bereits seit 1907 in Bielefeld gelehrt wurde. Bei der Werkbund-Ausstellung 1914 in Köln war Kleinhempel mehrfach vertreten. Für das „Bielefeld“-Zimmer entwarf sie Stickereien und Leinenmuster sowie eine farbig gefasste Gestellnähmaschine, für das „Haus der Frau“ das Vorstandszimmer des Kölner Frauenclubs.
Eine der ersten Professorinnen in Preußen
Die amtliche Krönung ihrer Laufbahn als Lehrerin und Künstlerin entsprang der in ihr vereinigten Kombination aus kreativ-gewissenhafter Lehrtätigkeit und außergewöhnlichem Kunstschaffen. Am 21. Juli 1921 verlieh Otto Fischbeck (1865-1939), Minister für Handel und Gewerbe, in Berlin, Gertrud Kleinhempel schriftlich den Professoren-Titel. Weil Titel nicht mehr verliehen würden, hatte der Mindener Regierungspräsident Dr. Paul Hagemeister (1868-1941) es Ende 1920 noch abgelehnt, einen entsprechenden Antrag des Bielefelder Oberbürgermeisters Dr. Rudolf Stapenhorst (1864-1944) weiterzureichen. Dieser hatte Kleinhempels Tüchtigkeit gelobt und sie als „den fähigsten Kopf unter den Lehrkräften unserer Schule“ gerühmt. Die Verleihung 1921 war eine der ersten an eine Frau in Preußen und die erste an eine schaffende Künstlerin überhaupt. Professorin war sie nicht geworden – die Westfälische Zeitung titelte am 27. Juli 1927 über „Fräulein“ Kleinhempel: „Ein weiblicher Professor in Bielefeld“.

Bald darauf veröffentlichte sie in verschiedenen Zeitungen als Professor (in der Volkswacht allerdings nur als „Prof. Kl.“) einen Beitrag über „Berufswahl im Kunstgewerbe“: „Viel eher kann ein Handwerksmeister, ohne eine Kunstgewerbeschule besucht zu haben, einen in jeder Beziehung einwandfreien Gegenstand herstellen, wenn er ein wirklich guter Handwerker ist und nicht verbildet von schlechten fälschlich kunstgewerblichen Einflüssen, als ein Kunstgewerbeschüler, der nichts vom Handwerk und Material kennengelernt hat.“ Kleinhempel ging es um die Vereinigung von Zweckmäßigkeit und Ästhetik gegen die „Unberufenen, welche treuherzig darauflos stümpern, bösartig darauflos zeichnen“, ohne ihr Material wertzuschätzen und richtig einzusetzen. Kleinhempel empfahl deshalb eine handwerkliche Lehre und erst danach den Besuch einer Kunstgewerbeschule mit einer eingehenden Schulung der Zeichenkunst, um designerisches Talent freizulegen und zu festigen: „Es handelt sich vor allem darum, schöpferisch zu sein in seiner Arbeit.“ Kleinhempel legte stets Wert auf zeichnerisches Vermögen und Schulung, die in der Natur und unabhängig von einer materiell-künstlerischen Umsetzung stattfand.

Die Vielseitigkeit und Kreativität Kleinhempels hatte in Bielefeld anfangs noch größere Dimensionen angenommen, auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit in den 1920er-Jahren abnahm. Sie arbeitete unentwegt, jedoch weniger für Private. Als die Schule und damit auch sie selbst das 25. Jubiläum feierten, widmete Werkschuldirektor Prof. Richard Woernle (1882-1958) seiner Mitarbeiterin einen langen Artikel: „Und so gibt es eigentlich nichts auf dem Gebiet der gestaltenden Arbeit, was man nicht vertrauensvoll in Gertrud Kleinhempels Künstlerhände legen könnte.“ Mittlerweile hatte sie sich zusehends auf Textilkunst zurückgezogen. So stellte sie für die 1905 eingeweihte Synagoge an der Turnerstraße einen Toravorhang her, für die Neustädter Kirchengemeinde einen vier Meter langen Bildteppich, der an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erinnern sollte. Der Teppich wurde in der NS-Zeit als „entartete Kunst“ herabgewürdigt und entfernt, der Vorhang mit der Synagoge beim Pogrom vom 9. November 1938 zerstört.

Von 1915 bis 1933 teilte Kleinhempel Wohnung und Werk sowie Leben und Lehre mit ihrer Kollegin Elisabeth/Else Hersel (1884-1963): von 1915 an in der Grünstraße 33, ab 1920 in der Brüderstraße (heute Elsa-Brändström-Straße) 17. 1933 verzog Kleinhempel nach Am Schildhof 21. Von 1935 bis 1938 wohnte sie in Vilsendorf, Lohheide 35. Die Hintergründe der Trennung von Else Hersel 1933 bleiben undeutlich, doch können sich politische Zerwürfnisse ergeben oder zumindest angebahnt haben. Hersel trat in den folgenden Jahren verschiedenen Parteigliederungen und 1937 der NSDAP bei, nachdem der 1933 verfügte Aufnahmestopp weitgehend aufgehoben worden war.
Am 13. April 1938 wurde Gertrud Kleinhempel in Bielefeld verabschiedet. Beide Bielefelder Zeitungen veröffentlichten umfangreiche Artikel über ihr Leben und Werk – die Westfälische Zeitung schrieb am selben Tag: „Frau Professor Kleinhempel hat sich nie über den Handwerker gestellt, sondern stets neben ihn.“ Kleinhempels Nachfolgerin wurde Else Hersel, die wegen ihrer Parteizugehörigkeit als politisch zuverlässig gelten durfte und die Textilklasse übernahm. Kleinhempel dagegen blieb politisch distanziert, trat niemals der NSDAP bei. Und wenn sie 1939 in einem Abschiedsbrief an NSDAP-Oberbürgermeister Fritz Budde (1895-1956) abschließend mit „Deutschem Gruß“ zeichnete, dann war das doch eher unverdächtig und vor allem kein „Heil Hitler!“: „Ich gehe mit geteilten Gefühlen von Bielefeld weg, ich war meine ganze Arbeitszeit sehr gern dort, habe nur Angenehmes […] genossen“ mit Behörden, Kollegium und im Arbeitsfeld.
Kleinhempel zog es in die Gemeinde Althagen auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, wo sich nach einem Urlaub in der Künstlerkolonie Ahrenshoop der Ankauf eines Fischerhauses aus dem 18. Jahrhundert ergab. „Das Dorf ist nicht ein Seebad im üblichen Sinne, sondern richtig Dorf“, schilderte sie dem Oberbürgermeister ihre Begeisterung, endlich einen Lebenstraum ländlichen Wohnens verwirklichen zu können. Diesen Traum lebte sie zehn Jahre.
Am 29. Februar 1948 erlag Gertrud Kleinhempel einem Krebsleiden. Das Fischerhaus und dessen besondere Geschichte geriet nach ihrem Tod lange Zeit in Vergessenheit, ehe sich eine Initiative für den Erhalt stark machte, nachdem ein Investor das Gebäude zugunsten eines Ferienhausneubaus abbrechen lassen wollte. Ein Denkmalschutz oder eine -würdigkeit wurde nicht festgestellt, jedoch schienen die Dinge, nachdem der Investor das Gebäude angesichts der Negativpublicity verkauft hatte, auf einem guten Weg. In der Nacht zum 28. Januar 2022 wurde das Kleinhempel-Haus ein Raub der Flammen: Brandstiftung, die bislang nicht aufgeklärt ist.
Das Goldene Buch der Stadt Bielefeld: rasant und rätselhaft
„Ach du lieber Himmel, da scheinen die Vorsatzblätter ins Meereswasser gefallen zu sein!“, entfuhr es Schuldirektor Thiele am 23. August 1907 in Berlin. Seine Frau Marie hatte ihn soeben telegraphisch angewiesen, per Eilpost zwei Pergamentbögen nach Spiekeroog zu senden. Diese waren im Büro des Baurates Ernst Ritscher (1863-1924) übersehen worden, wurden dann aber rasch Richtung Nordsee geschickt. Dort weilte Gertrud Kleinhempel im Urlaub, hatte also besseres zu tun, als den Kaiser zu bewundern, obwohl die Gesamtgestaltung des Goldenen Buches ihr übertragen worden war und vielleicht sogar eine persönliche Vorstellung gewunken hätte. Die Firma August Schlüter hatte die Schmiedearbeiten für die Messingelemente durchgeführt und Korallen, Perlen, schwarze Schmucksteine (Onyx oder eventuell auch Glas), die Kleinhempel überhaupt gern verwendete, und Elfenbein nach ihren Vorgaben auf dem Schweinsleder-Einband platziert, Buchbindermeister Hermann Bronner (1875-1970) fehlten aber noch die Vorsatzblätter, um Buchdeckel und Einzelblätter zusammenzuführen. Am 25. August traf das noch unfertige Werk nachmittags in Kleinhempels Urlaubsdomizil ein. Umgehend kündigte sie für den nächsten Vormittag die Rücksendung nach Bielefeld an. Erholung war demnach für die kommenden 20 Stunden gestrichen, kreative und harte Arbeit stand bei mutmaßlich minderoptimalen Lichtverhältnissen an.

Heraus kam eine für Bielefeld kaum naheliegende, aber für Spiekeroog umso plausiblere Gestaltung. Offensichtlich ließ sich die Kunstlehrerin von den Inseleindrücken inspirieren, denn wie anders können die 368 in blau-orange gehaltenen Diskusfische oder Skalare (?) erklärt werden, die Ein- und Ausgang des Goldenen Buches kolonnenartig bebildern. Kleinere Illustrations-Asymmetrien sind wohl der entstandenen Eile geschuldet: der stilisierte Queller (?), eine Wattpflanze, der eingangs den Fischen gegenübersteht, fehlt hinten; vorne bevölkern 192 Fische das Pergament, ausgangs nur 176. Inwieweit diese Motivauswahl besprochen oder vereinbart war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. War sie es nicht, hatten die Bielefelder kaum noch eine Reaktionsmöglichkeit – und Kleinhempel möglicherweise ihren Spaß.
Und wo erkannte der Kaiser angeblich „BIELEFELD“ auf den Vorsatzbögen? Für die unterhalb der Zierfische angebrachten beiden in blau gehaltenen Elemente ist nicht „eine Art chinesisches Rollsiegel“ (Hildegard Wiewelhove in Renda, 1998) verwendet worden, sondern fügte Kleinhempel handschriftlich zwei Bänder mit eckigen Versalien zwischen einer Ober- und einer Unterlinie ein. Diese Linien bilden gleichzeitig die oberen und unteren Abschlüsse bestimmter Einzelbuchstaben (B, E, D) oder laufen durch, wenn Lettern (F, I, L) diese nicht waagerecht füllen. Während im vorderen Vorsatzbogen zwischen den „BIELEFELD“-Schriftzügen ein Leerschrittsymbol eingefügt ist, kommt das hintere ohne aus – beide Bögen nennen jeweils in beiden Schriftbändern vier Mal hintereinander „Bielefeld“. Der Entfall des Trennzeichens auf dem hinteren Bogen korrespondiert mit dem Entfall der zwölften Spalte Fische. Es ist nicht zu rekonstruieren, welcher Verzicht welchen auslöste. Im vorderen unteren Schriftband unterläuft der Künstlerin übrigens ein minimaler Fehler, als beim 3. „Bielefeld“ der mittlere waagerechte „E“-Strich fehlt.

Die BIELEFELD-Schriftzüge sind bislang wenn noch nicht erkannt, mindestens nicht beschrieben worden. Auch die zeitgenössischen Beschreibungen enthalten keine Hinweise auf dieses raffiniert getarnte Gestaltungselement, das allem Anschein ein Geheimnis Gertrud Kleinhempels war und lange Zeit blieb. Als sie 1932 ihr 25. Dienstjubiläum feierte, lobte Woernle ihr Wirken an verschiedensten Objekten. Ihre Möbel beispielsweise atmeten keine rückschauende Romantik, „sondern blicken frisch aus dem Leben heraus oder lachen still in sich hinein.“ Vielleicht hatte Gertrud Kleinhempel am 26. August 1907 selbst still in sich hineingelacht oder sogar sichtbar gefeixt, als sie das „Goldene Buch“ samt großer Fisch-Parade und kleiner „Bielefeld“-Scharade beim Spiekerooger Gemeindevorstand Melcher Janssen (1843-1927) in die Eilpost gab und ebenso müde wie hungrig der Givtbude am Sturmeck-Badestrand entgegenschlenderte.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 154,1: Das Denkmal Kaiser Wilhelms des Großen in Bielefeld, mit Prozessakte (Nebenakte), 1899-1930; Enthält u.a.: Beschreibung des Goldenen Buches
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V, Nr. 19: Kaiserbesuch anlässlich der Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, 1907: Enthält u.a.: Pläne der Ausschmückung und der Wegeführung; Beschreibung des Goldenen Buches
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, Nr. A 554: Personalakte Prof. Gertrud Kleinhempel, Nr. A 365: Personalakte Elisabeth/Else Hersel
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 18, 19, 58 u. 66: Meldekarteien Bielefeld, 1893-1958
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,16/Werkkunstschule, Nr. 57: Materialsammlung zum 25. Jubiläum der Handwerker- und Kunstgewerbeschule, 1907-1939; Enthält u.a.: Text Richard Woernles über Gertrud Kleinhempel
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,5/Handschriften, gebunden, Nr. 192: Goldenes Buch der Stadt Bielefeld, 1907-1945; gestaltet von Gertrud Kleinhempel
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 5: Bielefelder General-Anzeiger v. 30.8.1907 (Kaiserbesuch) u. 18.9.1907 (Beschreibung Goldenes Buch); Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 27.7.1921 (Verleihung des Profesoren-Titels) u. 13.4.1938 (Ruhestand), Beilage „Aus Welt und Leben“ v. 13.8.1921 („Berufswahl im Kunstgewerbe“); Nr. 20: Neue Westfälische Volks-Zeitung v. 30.8.1907 (Kaiserbesuch) u. 18.9.1907 (Beschreibung Goldenes Buch); Nr. 39: Volkswacht v. 21.7.1921 (Verleihung des Professoren-Titels) u. 10., 11. u. 12.8.1921 („Prof. Kl.“: „Berufswahl im Kunstgewerbe“); Nr. 40: Bielefelder Volks-Zeitung v. 18.9.1907 (Beschreibung Goldenes Buch), Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 30.8.1907 (Kaiserbesuch), 18.9.1907 (Beschreibung Goldenes Buch), 27.7.1921 (Verleihung des Professoren-Titels), 6.8.1921 („Berufswahl im Kunstgewerbe“), 16.4.1932 (Woernle über Kleinhempel) u. 13.4.1938 (Ruhestand)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-185-57 (Handwerker- und Kunstgewerbeschule) u. 95-12-25 (Toravorhang)
Literatur
- Beaugrand, Andreas (Hg.), Werkkunst. Kunst und Gestaltung in Bielefeld 1907-2007, Bielefeld 2007
- Gottfried, Claudia, Gertrud Kleinhempel (1875-1948), Professorin und Designern, in: Ann Brünink/Helga Grubitzsch (Hg.), „Was für eine Frau!“ Portraits aus Ostwestfalen-Lippe, Bielefeld 1992, S. 173-187
- Latus, Urs, Kleinhempel, Gertrud, in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kunstgewerbemuseum (Hg.), Jugendstil in Dresden. Aufbruch in die Moderne. Edition Minerva, 1999, S. 433
- Meyer-Brehm, Julia, Gertrud Kleinhempel, in: Tobias Hoffmann/Anna Grosskopf (Hg.), Ansehen! Kunst und Design von Frauen 1880-1940 (Veröffentlichungen des Bröhan-Museums, Bd. 43), München 2022, S. 80-83
- Renda, Gerhard (Hg.), Gertrud Kleinhempel, Künstlerin zwischen Jugendstil und Moderne: 1875-1948, Bielefeld 1998
- Ders., „Die tüchtigste Frau, die ich im Leben kennengelernt habe“ – Die Gestalterin und Professorin Gertrud Kleinhempel (1875-1948), in: Bärbel Sunderbrink (Hg.), Frauen in der Bielefelder Geschichte, Bielefeld 2010, S. 95-103
Dank für Spiekeroog-Informationen gilt Dieter Mader vom Inselmuseum Spiekeroog.
Rath, Jochen, 29. Februar 1948: Tod der Künstlerin Prof. Gertrud Kleinhempel, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2023/02/01/01022023/
Vielen Dank für diese ausführliche und hochinteressante Abhandlung
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Im Web-Portal „Deutsche Fotothek“ der SULB Dresden werden rund 2300 (!) grafische Arbeiten von Gertrud Kleinhempel hoch aufgelöst digitalisiert angezeigt. Überwiegend Entwürfe für Möbel und Schmuck. Welch ein Schaffensreichtum!
https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2018/11/01/frauenpower-neues-digitales-quellenmaterial-zu-moebelentwuerfen-der-designerin-gertrud-kleinhempel
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