25. August 1962: In Sieker stirbt der Kunstmaler Wilhelm „Willi“ Schabbon

• Heino Siemens, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

Als in Deutschland 2019 das 100. Jubiläum der Gründung des Bauhauses durch Walter Gropius (1883-1969) gefeiert wurde, blieb der Name Schabbon unerwähnt. Dabei war der gebürtig aus Sieker stammende Maler Wilhelm Dietrich Schabbon, der meist kurz „Willi“ genannt wurde, 1920 von Walter Gropius zum Leiter der Metallwerkstatt des Bauhauses in Weimar berufen worden. Diese Berufung hätte den Beginn einer großen Karriere darstellen können, jedoch verließ Schabbon das Bauhaus und Weimar schon nach wenigen Monaten wieder und verbrachte den Rest seines Lebens in Sieker, wo er am 25. August 1962 verstarb.

#1 Selbstbildnis mit Hut 1930
Selbstbildnis mit Hut, 1930, Sammlung Bunte, (Jutta Hülsewig-Johnen und Thomas Kellein (Hrsg.): Der Westfälische Expressionismus“, München 2010)

Wilhelm Dietrich Schabbon wurde am 1. März 1890 in der zum Kreis Bielefeld gehörenden Gemeinde Sieker als fünftes Kind des Musikers und Neubauern Hermann Adolf Schabbon und seiner Ehefrau Catharine Wilhelmine Schabbon geb. Peters geboren. Vier Schwestern hatte er bei seiner Geburt bereits. Die älteste Schwester Luise war 1871 auf die Welt gekommen, 1873 wurde Emma Schabbon geboren, 1876 Minna Schabbon, 1886 Friederike Schabbon und kurz nach Wilhelm Schabbons eigener Geburt kam die fünfte Schwester Johanne Schabbon zur Welt – seine Zwillingsschwester. Gut zwei Jahre später, am 30. Juni 1892, wurde mit Ella Schabbon dann noch das siebte Kind geboren.

Der Vater Adolf Schabbon starb schon am 17. September 1894 im Alter von nur 46 Jahren, sodass die Mutter nun sieben Kinder alleine durchbringen musste. Sie richtete eine Wäschenäherei ein, um so ein Auskommen zu haben. Hier halfen die Kinder ab einem gewissen Alter mit, so auch Wilhelm Schabbon, der für seine Mutter von 1904 bis 1911 als Wäschezuschneider tätig war. Die Familie mag das gemeinsame Arbeitsfeld zusammengeschweißt haben, aber es blieben sicherlich auch Konfliktsituationen nicht aus, wo die Familienmitglieder so unbedingt aufeinander angewiesen waren. Fünf der sechs Schwestern Willi Schabbons teilten das Schicksal vieler Frauen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, sie fanden keinen Mann und blieben unverheiratet. Nur Schwester Emma heiratete am 24. Juni 1898 in Heepen den am 3. April 1876 in Rüsselsheim geborenen August Daum und verließ das Elternhaus. Sie blieb aber ganz in der Nähe und wohnte in der Hauptstraße 89 in Sieker in direkter Nachbarschaft zu ihren Geschwistern. Besonders mit seiner Zwillingsschwester Johanne scheint Willi Schabbon eng verbunden gewesen zu sein. Zwar trennten sich ihre Wege als Erwachsene zeitweise, zumeist aber wohnten sie gemeinsam im Elternhaus in Sieker Nr. 57, dessen Adresse mit der Eingemeindung Siekers nach Bielefeld zum 1. Oktober 1930 in Hauptstraße 103 umbenannt wurde. Johanne Schabbon war Arbeiterin und Küchenhilfe, zuletzt Invalidenrentnerin. Oft verblüfft die Parallelität der Ereignisse bei Zwillingen, so auch bei Wilhelm und Johanne Schabbon: 1962 kamen beide in das Städtische Krankenhaus, wo Wilhelm Schabbon am 25. August verstarb. Nur neun Tage später, am 3. September 1962, starb Johanne Schabbon ebenfalls im Städtischen Krankenhaus der Stadt Bielefeld.

#2 Geburtseinträge kombiniert
Geburtseinträge 1890 von Wilhelm Dietrich Schabbon und seiner Zwillingsschwester Johanne Catharine Emilie Schabbon mit beigeschriebenen Notizen zu den Sterbeeinträgen 1962, (Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 100-1890)

Während seiner Zeit als Wäschezuschneider im Betrieb seiner Mutter besuchte Wilhelm Schabbon gleichzeitig die Abendkurse an der Kunstgewerbeschule in Bielefeld bei Ludwig Godewols (1870-1926). Seine Mutter stellte sich diesem Ansinnen offenbar nicht in den Weg. Der Vater war Musiker gewesen, mithin ebenfalls Künstler, aber er hatte mit der Landwirtschaft auch noch einen „Brotberuf“ gehabt. Wilhelm Schabbon entschied sich 1914 dafür, den Beruf des Goldschmieds zu erlernen. Bis zu seiner Einberufung als Soldat im Ersten Weltkrieg war er als Volontär in der Werkstatt des Bielefelder Goldschmieds Otto Hahn tätig. Für Catharine Wilhelmine Schabbon bedeutete dies den Verzicht auf eine wertvolle Hilfe in ihrer Schneiderei. Auf einer Zeichnung, die ihr Sohn 1921 im expressionistischen Stil von seiner Mutter anfertigt, sieht sie verhärmt und abgearbeitet aus. Sie stirbt sechs Jahre später am 17. Februar 1927 in ihrem Haus in Sieker Nr. 57 im Alter von 71 Jahren.

#3 Zeichnung Meine Mutter, 1921
Zeichnung „Meine Mutter“, 1921, (Rüdiger Jörn (Bearb.): Wilhelm Schabbon, Katalog zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Bielefeld vom 28. März bis 30. Mai 1982, Bielefeld 1982)

Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges, im September 1914, wurde Wilhelm Schabbon in Frankreich so schwer verwundet, dass er viele Monate im Krankenhaus Gilead in Bethel verbringen musste. Er lag dort lange Zeit „auf Leben und Tod“. Der Schriftsteller Wolfgang Hoffmann-Harnisch (1893-1965) schildert in seinem Aufsatz „Ein Bielefelder Silberschmied“ von 1919 die furiose Wendung, die der Krankenhausaufenthalt für Willi Schabbon nahm, als man ihn bereits aufgegeben hatte: „Einer seiner Kollegen erzählte mir, dass er [Schabbon] in der Nacht, als man das Ende des längst völlig Aufgegebenen erwartete, nach Sekt verlangte, und sich, anstatt zu sterben, sterblich betrunken habe, dass er dann mit den im Rausch verdoppelten Kräften mit Händen und Füßen geschlagen und gewütet, das Bett zerbrochen, seinen wunden vereiterten Unterleib aufgerissen und die Masse über das Zimmer verschleudert und durch die so herbeigeführte Reinigung sein Leben gerettet habe“. Eine in ihrer Drastik sicherlich übertriebene Darstellung des Geschehens, die jedoch einiges über Schabbons robusten Charakter aussagen mag.

Von 1916 bis 1918 war der leidlich genesene und ausgemusterte Willi Schabbon in Bielefeld in der Werkstatt von Rudolf Feldmann (1878-1958) mit großem Erfolg wieder als Goldschmied tätig. Heinrich Becker (1881-1972) schrieb über seine Arbeiten: „Sehr persönlich, sehr charaktervoll, sehr erfindungsreich sind seine abstrakt betonten Gebilde in Gold und Silber, von denen es schöne Beispiele in Bielefelder Privatbesitz gibt“. Wolfgang Hoffmann-Harnisch führte die Besonderheit der Goldschmiedearbeiten Wilhelm Schabbons auch auf dessen traumatische Erlebnisse infolge seiner Todesnähe und auf seinen starken Überlebenswillen zurück: „In den langen Monaten als er dann wieder zum Leben erwachte, neu Laufen und Denken und Fühlen lernte, verwandte er die Lazarettzeit, sich selbst überlassen, zu künstlerischer Betätigung: ging mit Schmelzstengel und Grabstichel um, schmolz Silber, zog Draht und hämmerte und trieb – bis er so nach und nach zu seinen Schmuckstücken kam, die die erste Äußerung seiner wiedererwachten Kraft zum Leben waren. Daß die so entstandenen Kunstwerke von Allem abweichen, was auf diesem Gebiet entstanden ist, erscheint begreiflich“. Hoffmann-Harnisch versteigt sich gar zu der kaum haltbaren Behauptung, die Modernität Schabbons entstamme seiner Unmittelbarkeit gepaart mit einer gewissen Unkenntnis seiner Epigonen auf dem Gebiet der Golschmiedekunst: „Von der ganzen großen Vergangenheit seiner Kunst kennt Willi Schabbon nichts. Wenn also seine Arbeiten von allem, was auf diesem Gebiet Großes geleistet wurde, (scheinbar) abweichen, so ist demnach dieser Gegensatz völlig unbeabsichtigt. Und in der Tat arbeitet Schabbon ohne nach dem Wie oder Woher oder Wodurch zu fragen, ohne nachzueifern oder zu suchen oder zu fliehen; er folgt ganz und gar nur den Eingebungen seines Herzens und gerade dadurch kommt er den Alten, von denen er in der Tat äußerlich völlig abweicht, innerlich so nah: Die Unmittelbarkeit, die seine Schöpfungen gerade so deutlich atmen, wie die der alten Meister, diese Unmittelbarkeit der Intentionen eines naiven Künstlerherzens verdeutlicht die wirkliche wahrhaftige Geistesverwandtschaft Schabbons mit seinen großen Zunftgenossen“.

#4 Silberarbeiten von Wilhelm Schabbon
Silberarbeiten von Wilhelm Schabbon, (Wolfgang Hoffmann-Harnisch: Ein Bielefelder Silberschmied, In: Bielefelder Blätter für Theater und Kunst, Heft 2, Bielefeld 1919)

Parallel zur Fertigung seiner kunstvollen Goldschmiedearbeiten hat Willi Schabbon seit den ersten Besuchen der Abendschule bei Ludwig Godewols immer auch gezeichnet und gemalt. Seine Anfänge sind dabei lebhaft expressionistisch und orientiert an den Vorbildern Vincent van Gogh (1853-1890) und Lovis Corinth (1858-1925). Godewols selbst bleibt weniger durch sein Werk als vielmehr durch seine Lehrtätigkeit in Erinnerung. Seine Schüler und Schülerinnen haben heute noch Rang und Namen: Peter August Böckstiegel (1889-1951), Hermann Stenner (1891-1914), Victor Tuxhorn (1892-1964), Else Lohmann (1897-1984) und auch Wilhelm Schabbon. 1919 entwickelt sich aus dem Kreis um Godewols die Künstlergruppe „Rote Erde“, der Godewols selbst, Böckstiegel, Stenner, Tuxhorn und Schabbon angehörten. Mit dem Namen „Rote Erde“ wollte man die Verbundenheit zur heimatlichen Scholle betonen. 1933 wurde die Gruppe durch die Nationalsozialisten gleichgeschaltet, in „Vereinigung Ravensberger Künstler“ umbenannt und verlor daraufhin an Bedeutung. 1919, im Gründungsjahr der „Roten Erde“, stellte die Künstlergruppe mehrfach in Bielefeld aus. Wilhelm Schabbon zeigte dabei sowohl seine Schmuckstücke als auch seine Bilder. Auf sein großes künstlerisches Talent wurde man sogar im fernen Weimar aufmerksam, wo Walter Gropius einen Leiter für die Metallwerkstatt des von ihm gegründeten Bauhaus suchte. Es ist durchaus denkbar, dass Gropius den enthusiastischen Text von Wolfgang Hoffmann-Harnisch in den „Bielefelder Blättern für Theater und Kunst“ gelesen hatte und den Künstler Schabbon daher kennenlernen wollte. Zum 1. Juli 1920 wurde Willi Schabbon in Weimar eingestellt. So konnten die Westfälischen Neuesten Nachrichten einen Tag später verkünden: „Eine ehrenvolle Berufung ist dem Maler Willi Schabbon, der auch auf kunstgewerblichem Gebiete, und zwar als Silberschmied, Hervorragendes leistete, zuteil geworden, indem er als Meister für das staatliche Bauhaus in Weimar bestellt wurde. Schabbon gehörte zu der Künstlergruppe ‘Rote Erde’, die hier wiederholt Ausstellungen veranstaltete. Gleich so manchem anderen Bielefelder Künstler kommt nun auch Schabbon auswärts zu Ansehen und Ehren“.

Auch privat war 1920 für Wilhelm Schabbon ein besonderes Jahr. Am 11. September 1920 heiratete er in Sieker die 1894 in Bielefeld geborene Anna Friederike Mathilde Wiethüchter (1894-1981). Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: Am 25. April 1921 wurde der Sohn Reinhold Schabbon geboren, am 27. Januar 1929 Tochter Anna Schabbon. Während auf der Heiratsurkunde als Wohnort von Wilhelm Schabbon noch die Bismarckstraße 22 in Weimar angegeben ist, hatte er Weimar vermutlich schon einige Tage vor seiner Hochzeit ohne Kündigung wieder verlassen und kehrte dorthin auch nicht wieder zurück. In Sieker verlagerte sich sein Hauptbetätigungsfeld weg von der Goldschmiedekunst ganz hin zur Malerei, seine Berufsbezeichnung war jetzt Kunstmaler.

#5 Gemälde Winter in Sieker, 1928
Gemälde „Winter in Sieker“, 1928, (Bestand 400,15/Kalender, Nr. 271)

Was hatte Willi Schabbon aus Weimar vertrieben, sodass die Westfälische Zeitung am 28. April 1923 gar schrieb: „Er […] flüchtete aus einer sogenannten sicheren Position am staatlichen Bauhaus in Weimar, um sich nicht selbst untreu werden zu müssen“. Da sich Schabbon öffentlich nicht zu diesem Thema geäußert hat, gab es verschiedene Gerüchte und Deutungen seiner Beweggründe. Es sei schlicht die Kriegsverwundung gewesen, die weiterhin stationär behandelt werden musste, vermutete Rüdiger Jörn anlässlich einer Ausstellung mit Werken Schabbons im Kulturhistorischen Museum der Stadt Bielefeld 1982. Andere meinten, es habe an seiner zunehmenden Priorisierung der Malerei vor der Schmuckgestaltung und einer gewissen Öffentlichkeitsscheu gelegen, dass Willi Schabbon so schnell nach Bielefeld zurückgekehrt sei. So schrieb etwa Else Havermann geb. Schönfeldt (1874-1959), die an der Bielefelder Kunstgewerbeschule Kunstgeschichte lehrte, unter ihrem Pseudonym H[ans]. Roberwin in den Westfälischen Neusten Nachrichten vom 8. Februar 1930: „Sein Hang nach Zurückgezogenheit und zur Malerei treibt ihn in seine Heimat zurück nach Sieker zu stillem Schaffen“. Die schwangere Ehefrau, die auf ihn wartete, seine starke Heimatverbundenheit, die ihm nicht zuletzt den Stoff für seine Bilder lieferte, das geliebte Elternhaus – all diese Gründe werden eine Rolle gespielt haben, werden ihren Teil an Wilhelm Schabbons Entscheidung gegen Weimar und das Bauhaus gehabt haben. Ronny Schüler verweist in seinem Buch „Die Handwerksmeister am Staatlichen Bauhaus Weimar“ von 2013 darauf, dass die Stellung Schabbons innerhalb des Bauhauses unsicher und ungeregelt gewesen sei. Hier ist der Hauptgrund für Schabbons Abwendung von Weimar zu suchen.

Da Schabbon Schüler unterrichten sollte, bestand Walter Gropius darauf, dass er zunächst den Meistertitel machte. Zu diesem Zweck wurde er von allen anderen Aufgaben freigestellt. Bei Schabbons Vorgänger Naum Slutzky (1894-1965) hatte Gropius diesen Schritt versäumt. Slutzky konnte nur als „Hilfsmeister“ angestellt werden. Er schien das Bauhaus verlassen zu wollen, weshalb Gropius nach einem neuen Leiter der Metallwerkstatt gesucht hatte, aber Slutzky blieb und übernahm nun die künstlerische Leitung der zum Wintersemester 1919 neu gegründeten Edelmetallschmiede des Bauhauses. Nach Schabbons plötzlichem Abschied aus Weimar blieb Naum Slutzky auch für die Metallwerkstatt verantwortlich. Eine Konkurrenzsituation zwischen diesen beiden Künstlern ist wahrscheinlich. Zudem kam es zu Unstimmigkeiten bezüglich der Meisterprüfung Schabbons. Er sei durchgefallen mit jenen Arbeiten, die ihm die Anstellung beim Bauhaus eingebracht hätten, empörte sich Gropius, als er von der angeblichen Ablehnung Schabbons erfuhr. Walter Gropius vermutete dahinter eine gezielte Kampagne von Seiten der Handwerkskammer gegen das Bauhaus. Tatsächlich hatte Willi Schabbon die Meisterprüfung bereits am 26. August 1920 abgelegt und bestanden, der Meisterbrief wurde am 16. Oktober 1920 ausgestellt. Ob Schabbon selbst die Fehlinformation über sein Scheitern an Gropius weitergegeben hatte, ist bis heute ungeklärt. Als der Meisterbrief in der zweiten Oktoberhälfte 1920 zugestellt werden sollte, bat Willi Schabbon darum, ihn nach Sieker zu senden, da er sich in Weimar nicht mehr aufhalte.

Letztlich mögen auch politische Zwistigkeiten bei den Querelen am Weimarer Bauhaus eine Rolle gespielt haben, doch diese lassen sich aus den Quellen nicht mehr rekonstruieren. Dr. Eduard Schoneweg (1886-1969), Direktor des Städtischen Museums Bielefeld und strammer Nationalsozialist, unterstellte Wilhelm Schabbon in seinem Porträt „Seine Liebe gilt den Blumen“ von 1942, „Der politische Kurs dieser Schule [des Staatlichen Bauhauses in Weimar] konnte ihm unterdessen nicht behagen, und so zog er bald wieder heim“. Tatsächlich hat Schabbon in Bielefeld auf das Bauhaus und seine Vertreter geschimpft, konkrete Vorwürfe sind aber nicht überliefert. Walter Gropius reagierte etwas souveräner auf den nicht eben formwahrenden Weggang Wilhelm Schabbons aus Weimar. In einer Richtigstellung des Geschehens, die er auf Anfrage der Künstlergemeinschaft „Der Wurf“ verfasste, führte Gropius das Verhalten Schabbons auf das Trauma seiner Kriegsinvalidisierung zurück, aus dem eine Überforderung angesichts der möglichen Leitung einer Ausbildungswerkstatt erwachsen sei.

#6 Bauplan des Hauses Sieker 57 von 1902
Bauzeichnung des Elternhauses Sieker Nr. 57, später Hauptstraße 103, bei dem Wilhelm Schabbons Mutter 1902 die Eingangstreppe verlegen und eine Dachgaube anbauen ließ, (Bestand 108,5/Bauordnungsamt, Hausakten, Nr. 473)

Zum Nationalsozialismus hatte Wilhelm Schabbon wohl ein zwiegespaltenes Verhältnis. Er stellte von 1933 bis 1945 weiterhin erfolgreich aus und verkaufte seine Bilder, vor allem jene, die etwas gefälliger gemalt waren, jene expressionistischen Bildwerke aber, die er besonders liebte, und von denen er wusste, dass sie den Nationalsozialisten wegen ihrer Malweise nicht genehm waren, versteckte er auf dem Dachboden seines Elternhauses. Willi Schabbon handelte wie viele Deutsche in der damaligen Zeit, indem er mitmachte und die Dinge, die verboten waren und verfolgt wurden, im Verborgenen betrieb und dabei auf andere Zeiten hoffte. In einem zweiseitigen Exposé mit dem Titel „Zur Person Willi Schabbon“ schreibt ein mit „R. Schabbon“ unterzeichnender Verfasser, der mit Sicherheit Schabbons Sohn Reinhold Schabbon gewesen ist, folgenden etwas ungelenken und eher im Allgemeinen verbleibenden Kurzabriss zu dieser Zeit: „Der Nationalsozialismus kam. Man sprach von der entarteten Kunst. Seine Arbeiten, an denen er jahrelang geschaffen hatte, wurden auf seinem Hausboden versteckt. Bilder, Holzschnitte, Graphiken wurden den bösen Augen entzogen. Er hielt regen Kontakt mit seinen damaligen Mitschülern der Godewolsklasse. Der Kunstsalon Otto Fischer, Bielefeld, stellte ihn wiederholt aus, wo sich Paul Herzogenrath sehr um ihn bemühte. Mit Paul Herzogenrath bereiste er auch Holland, Belgien, Frankreich und besuchte die dortigen Museen. Weitere Ausstellungen hatte er in Münster, Berlin, Hamburg und München“.

#7 Gemälde Gehöft in Heidelbeck, 1945
Gemälde „Gehöft in Heidelbeck“, 1945, (Rüdiger Jörn (Bearb.): Wilhelm Schabbon, Katalog zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Bielefeld vom 28. März bis 30. Mai 1982, Bielefeld 1982)

Die Lagerung seiner expressionistischen Werke auf dem Dachboden des Elternhauses wurde Wilhelm Schabbon ein halbes Jahr vor Ende des Zweiten Weltkrieges noch zum Verhängnis: Bei einem Fliegerangriff der Alliierten auf Bielefeld am 26. Oktober 1944 wurde das Wohnhaus Schabbons in der Hauptstraße 103 getroffen, worauf der Dachboden mitsamt allen dort gelagerten Gemälden ausbrannte. Ein Großteil des Frühwerks von Wilhelm Schabbon war zerstört und das Haus selber war unbewohnbar geworden. Willi und Mathilde Schabbon wurden mit ihren beiden Kindern nach Heidelbeck im Kreis Lippe evakuiert. Auch hier findet Willi Schabbon Motive für seine Gemälde, auch hier malt er aus Lust an der Malerei, aber auch, um seine Familie zu ernähren und das Elternhaus in Sieker in Selbsthilfe wiederaufbauen zu können.

#8 Foto des Hauses Hauptstr. 103 vom 25.08.1969
Foto des Hauses Hauptstraße 103 in Sieker vom 25. August 1969, (Bestand 108,5/Bauordnungsamt, Hausakten, Nr. 473)

Beim Ausgleichsamt der Stadt Bielefeld reichte am 28. November 1952 die Erbengemeinschaft Schabbon einen Antrag auf Entschädigung für den durch Fliegerangriff erlittenen Hausratschaden, Grundvermögensschaden und Schaden an Gegenständen der Berufsausübung ein. Den Verlust seiner Bilder gab Wilhelm Schabbon mit „50 Ölbilder, 300 Zeichnungen und Aquarelle“ an, deren Verkaufswert er auf ca. 20.000 Reichsmark bezifferte. Nach Beschwerden durch Reinhold Schabbon erging Ende Juli 1960 ein Bescheid über eine Ausgleichszahlung von 3.500 Mark für Grundvermögen an die fünf Antragssteller. Die Zustellung des Bescheides über den Ausgleich für den Kriegssachschaden an Gegenständen der Berufsausbildung erlebte Willi Schabbon, um dessen Werk es ging, nicht mehr. Der Bescheid wurde einen Tag vor Heiligabend 1966 ausgestellt und am 2. Januar 1967 von der Witwe Mathilde Schabbon unterschrieben. Als Schadensbetrag für die Ateliereinrichtung war eine Summe von 280,- Reichsmark ermittelt worden, der Schaden an den Bildern wurde auf 500,- Reichsmark festgesetzt.

Das Elternhaus von Willi Schabbon ging in den Besitz des Mietervereins Bielefeld über und wurde im November 1969 abgebrochen.

Quellen

  • Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 100-1890 und 300-1962
  • Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 18 und 19
  • Bestand 107,4/Kunsthalle, Nr. 1, 34, 39 und 306
  • Bestand 108,5/Bauordnungsamt, Hausakten, Nr. 473 (Hauptstr. 103)
  • Bestand 109,5/Ausgleichsamt, Nr. 10088 und 17291
  • Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 100
  • Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6 (Westfälische Neueste Nachrichten) und Nr. 50 (Westfälische Zeitung)
  • Bestand 400,15/Kalender, Nr. 203, 252, 271 und 590

Literatur

  • Heinrich Becker: Bielefelder Künstlerbiographien, Bielefeld 1965, hier als Abschrift durch Erika Klinker von 1994
  • Helmut Ebert: Lexikon der Bildenden und Gestaltenden Künstlerinnen und Künstler in Westfalen-Lippe, Münster 2016
  • Wolfgang Hoffmann-Harnisch: Ein Bielefelder Silberschmied, In: Bielefelder Blätter für Theater und Kunst, Heft 2, Bielefeld 1919
  • Jutta Hülsewig-Johnen und Thomas Kellein (Hrsg.): Der Westfälische Expressionismus“, München 2010
  • Rüdiger Jörn (Bearb.): Wilhelm Schabbon, Katalog zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Bielefeld vom 28. März bis 30. Mai 1982, Bielefeld 1982
  • Ronny Schüler: Die Handwerksmeister am Staatlichen Bauhaus Weimar, Weimar 2013



Erstveröffentlichung: 01.08.2022

Siemens, Heino, 25. August 1962: In Sieker stirbt der Kunstmaler Wilhelm „Willi“ Schabbon, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2022/08/01/01082022/, Bielefeld 2022

2 Kommentare zu „25. August 1962: In Sieker stirbt der Kunstmaler Wilhelm „Willi“ Schabbon

  1. Die frühere Hauptstraße in Sieker ist die heutige Otto-Brenner-Straße. An den Hausnummern 101, 103 und 105 steht jetzt ein Riegel dreigeschossiger Mehrfamilienhäuser. Immerhin, der Baum aus dem Bild von 1969 steht noch davor.

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  2. Willi Schabbon ist mir noch in Erinnerung, weil er eng mit meinem Großonkel Ernst Sagewka befreundet war (Gemeinsames Studium bei Godewols und gemeinsame Mitgliedschaft in der „Roten Erde“). Oft gingen beide, Schabbon und Sagewka, gemeinsam los und hatten dann stets ihre Zeichenblöcke dabei. In Erinnerung ist mir Wilhelm Schabbon wegen seiner extravaganten Kleidung: Schwarze Pellerine (Capeartiger Umhang) und schwarzer Schlapphut.

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