10. Juli 1942: Bielefeld als Ausgangspunkt der Vernichtung – Die geheim gehaltene Deportation von Jüdinnen und Juden nach Auschwitz

• Jan-Willem Waterböhr, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld • 

 

Die erste Hälfte der 2020er Jahre tritt ein gleichermaßen schwieriges und wichtiges Erbe der europäischen, deutschen und regionalen Geschichte an: Zwischen 2021 und 2025 jähren sich insgesamt neun Deportationen zum 80. Mal, bei denen Jüdinnen und Juden über Bielefeld in die Vernichtung geschickt wurden. Ziele waren die „Judenghettos“ in den damals besetzten Gebieten des heutigen Lettlands, Polens und Tschechiens: Riga, Warschau, Theresienstadt. Von dort aus ging es in einigen Fällen direkt, in anderen Fällen erst nach einigen Monaten Aufenthalt in die Konzentrations- und Vernichtungslager Treblinka, Sobibor, Belzec und Auschwitz. Insgesamt sind derzeit etwa 1.840 Jüdinnen und Juden aus dem heutigen Ostwestfalen-Lippe und Schaumburg-Lippe bekannt, die zunächst nach Bielefeld gebracht und anschließend deportiert wurden. Wie viele umgekommen sind oder ermordet wurden, lässt sich derzeit nicht mit Sicherheit feststellen. Für Sinti und Roma sind bisher kaum Zahlen in der Region bekannt – Ähnliches gilt für weitere Opfergruppen.

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Ankunft einer Menschengruppe an der Rampe des Vernichtungslagers Ausschwitz. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,003/Fotosammlung, Nr. 95-13-142

Eine der insgesamt neun über Bielefeld geführten und auch in Bielefeld organisierten Deportationen von Jüdinnen und Juden ging nach Auschwitz: Am 02. März 1943 verließ ein Zug, in dessen Viehwagons 229 Jüdinnen und Juden hatten zusteigen müssen, den Bielefelder Güterbahnhof in Richtung des Vernichtungslagers. Über die Deportation am 10. Juli 1942, die den aktuellen Erkenntnissen nach ebenfalls nach Auschwitz führte, ist hingegen bisher wenig bekannt. Sie wurde offenbar von der Gestapo überwiegend geheim gehalten. Offiziell sollte das Ziel Warschau sein, wie bei der Deportation am 31. März zuvor. Heute wird zunehmend ersichtlich, dass es sich um eine frühe, gezielte Deportation nicht mehr in die „Judenghettos“, sondern zur direkten Vernichtung nach Auschwitz gehandelt hat. Damit war Bielefeld wahrscheinlich einer von vielen Ausgangspunkten der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen des neu in Betrieb genommenen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Eindeutige Nachweise gibt es bis heute nicht, Zeitzeugenaussagen und eine herausragende Forschungsleistung von Martin Decker, Kai-Uwe von Hollen und Jürgen Sielemann lassen aber nur noch wenig Zweifel, dass es sich bei dem Deportationsziel um Ausschwitz handelte, wo nach heutigem Kenntnisstand die systematische Vernichtung der Jüdinnen und Juden mit dem Zyklon-B-Giftgas Mitte 1942 begann.

Nachfolgend sollen daher die bisher überwiegend lokalgeschichtlich-orientierten Ergebnisse zu der versteckten Deportation nach Auschwitz zusammengefasst und an die Erkenntnisse über die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten und den Holocaust angeschlossen werden. Damit entstehen zwei Perspektiven: Erstens auf die Praxis des nationalsozialistischen Völkermords und dessen Verschleierungsversuche sowie zweitens auf die Probleme der Aufarbeitung in der Forschung, die sich häufig auf die offizielle Dokumentation stützt. Gleichzeitig werden die Bedeutung der nichtakademischen Forschung sowie die Notwendigkeit herausgehoben, die verschwundenen und damit häufig vergessenen jüdischen Opfer in der Öffentlichkeit auch nach 80 Jahren präsent zu halten, um an ihr grausames Schicksal auf regionaler Ebene zu erinnern.

Deportationen als Teil der systematischen Vernichtung und des Holocaust

Gezielte Inhaftierungen und Verschleppungen hat es seit dem 30. Januar 1933, dem Tag der nationalsozialistischen Machtergreifung, immer wieder gegeben. Zunächst traf es die politischen Gegner: Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten, im weiteren Verlauf auch Homosexuelle, „Asoziale“, Zeugen Jehovas und viele weitere. Wenngleich zahlreiche Dissidenten, Juden und andere von den Nationalsozialisten Inhaftierten unter den menschenunwürdigen Haftbedingungen in hohen Zahlen starben oder auch gezielt umgebracht wurden, begann mit den oftmals verdeckten Tötungen des ‚lebensunwürdigen Lebens‘ (u.a. Aktion „T4“) die systematische und staatlich gelenkte Vernichtung einzelner Bevölkerungsgruppen, der Millionen Menschen zum Opfer fallen sollten.

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Das „Judenhaus“ in der Koblenzerstraße 4, ca. 1960. Am 8. Juli 1942 wurden David und Meta Katzenstein von hier zum Kyffhäuser gebracht und anschließend deportiert. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,003/Fotosammlung, Nr. 95-13-074

Parallel wurden ab 1933 die Jüdinnen und Juden zunehmend an den Pranger gestellt, geächtet und systematisch verfolgt. Die Nürnberger Rassegesetze ab 1935 und die Pogromnacht am 9. November 1938 rahmen eine weitere Eskalationsstufe der Verfolgung, der ab 1938 eine Welle von Verhaftungen, Auswanderungsverboten und Umquartierungen in „Judenhäuser“, die überall in den Städten verteilt waren, folgte. Mit den Deportationen im Oktober 1941 und dem Beschluss auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 zur „Endlösung der Judenfrage“ wurde eine weitere Stufe des Völkermords erreicht.

Demnach begann der Holocaust nicht erst mit den Deportationen, sondern erreichte mit ihnen den beginnenden Höhepunkt der systematischen Vernichtung. 1941 fanden die ersten gezielten „Evakuierungen“ von Jüdinnen und Juden aus dem „Altreich“ in die „Judenghettos“ statt. In diesen eingezäunten und bewachten Arealen innerhalb der Städte waren zuvor die Jüdinnen und Juden aus dem besetzten Umland eingesperrt und wenige Tage vor Ankunft der Deportationszüge aus dem Westen systematisch umgebracht worden. Diese mörderische Praxis ist u.a. als ‚Rigaer Blutsonntag 1941‘ bekannt geworden: Die eintreffenden Juden aus Berlin und anderen Teilen des Reiches fanden noch Essensreste in den verlassenen Wohnungen vor. Die „Judenghettos“ in Riga, Warschau und Theresienstadt waren häufig Zwischenlager auf dem Weg in die Konzentrations- und Vernichtungslager, die seit 1940 systematisch aufgebaut wurden. Die Gaskammern in Auschwitz-Birkenau wurden Mitte 1942 in Betrieb genommen. Waren die Konzentrationslager zuvor Inhaftierungsquartiere für rassisch, politisch und religiös Verfolgte, die bis zum Tod Zwangsarbeit leisten mussten, dienten sie zunehmend als Vorhof für den Holocaust.

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Auszug aus dem Hausbuch Koblenzerstraße 4. David und Meta Katzenstein sind für den 8. Juli 1942 mit „evakuiert“ vermerkt. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,003/Einwohnermeldeamt, Nr. 1430: Hausbuch Koblenzerstraße 4

Am Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und der deutschen Zivilisationsverbrechen zwischen 1933 und 1945 standen über sechs Millionen ermordete Juden als Folge des staatlichen organisierten Völkermords. Daneben stehen Millionen von weiteren Opfern der staatlichen Verfolgung sowie Opfer der Zwangsarbeit und des militärischen Kriegs, die an anderer Stelle zu benennen sind.

Die Deportationen aus Bielefeld ab 1941

Den insgesamt neun Deportationen, die aus Bielefeld bekannt sind, fielen etwa 500 Juden zum Opfer, die direkt aus der Stadt und dem Landkreis Bielefeld stammten. Die relativ geringe Anzahl täuscht aber darüber hinweg, dass in Bielefeld die Verfolgung für das heutige Ostwestfalen-Lippe und Schaumburg-Lippe zentralisiert wurde: Zu fast allen Deportationen, die in Bielefeld ihren Ausgangspunkt oder eine Zwischenstation fanden, wurden Jüdinnen und Juden aus dem Regierungsbezirk Minden, Lippe und Schaumburg-Lippe nach Bielefeld gebracht und in Sammelunterkünften eingesperrt. Wie in Haft mussten sie dort auf die Züge der Reichsbahn warten. Im Versammlungshaus „Kyffhäuser“ am Kesselbrink, im Gemeinschaftshaus „Eintracht“ in der Ritterstraße, im „Umerziehungslager“ in der Schloßhofstraße und im Hotel Bremen in der Bahnhofstraße wurden sie zusammengepfercht. Die Wertsachen wurden ihnen abgenommen, ihren Besitz hatten sie zuvor in den Wohnungen und Häusern zurücklassen müssen –  beides wurde durch das Finanzamt Bielefeld gewinnbringend versteigert.

Die betroffenen Personen hatten einige Tage bis zu zwei Wochen zuvor von ihrer „Evakuierung“ aus der Heimat in die „Judenghettos“ erfahren. Waren die nach Riga Deportierten womöglich noch davon ausgegangen, nach einiger Zeit nach Bielefeld zurückkehren zu können, dürften die Bedingungen der Unterbringungen aus Briefen von Nachbarn und Angehörigen zunehmend bekannt geworden sein – ebenso, dass die deportierten Menschen nicht nur vorübergehend zum Arbeitseinsatz umgesiedelt wurden. Der deutliche Anstieg der Suizide vor der Deportation nach Theresienstadt am 31. Juli 1942 verdeutlicht, dass viele von dem sicheren Tod in den Ghettos ausgingen. Der bürokratische Jargon „Evakuierung“ verschleierte die verheerenden Absichten der Nationalsozialisten.

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Östlicher Teil des Kesselbrinks mit Blick nach Norden, Richtung Pauluskirche, ca. 1930. Links steht der Kyffhäuser, wo die Jüdinnen und Juden vor der Deportation einquartiert wurden. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,003/ Fotosammlung, Nr. 11-1161-044

Die Deportationen wurden vom Außenbezirk der Gestapo Bielefeld durchgeführt. Einerseits erhielt sie ihre Befehle aus den Gestapo-Zentralen Münster, Hannover und Berlin, andererseits wurde sie aktiv von den kommunalen Behörden, wie dem Einwohnermeldeamt, unterstützt. Vieles war Letzteren und der Stadtbevölkerung bekannt. Die „Evakuierungen“ wurden bürokratisch für die Einzelpersonen erfasst und organisiert. Die Sammellager und die Wege zum Hauptbahnhof befanden sich in der Mitte der Stadt. Darüber hinaus zwang die Gestapo die Reichsvereinigung der Deutschen Juden für Westfalen (RVDJ) mit Sitz in Bielefeld (Laerstraße 9) die zu deportierenden Jüdinnen und Juden auszuwählen: Sollten zunächst eher die „Volljuden“ bestimmt werden, rückten zunehmend auch Ältere, Kranke und Partner aus Mischehen nach. Die letzte Deportation verließ den Bielefeld am 13. Februar 1945 nach Theresienstadt.

Führte die Deportation am 10. Juli 1942 nach Auschwitz?

Im Juli 1942 sind zwei Deportationszüge aus Bielefeld bekannt: Am 10. Juli mit mindestens 74 Personen und am 31. Juli mit 590 Personen – letzterer fuhr nach Theresienstadt. Im Vergleich zu den übrigen Deportationen über Bielefeld unterschied sich die Deportation am 10. Juli erheblich. Zunächst erhielten die Betroffenen nur ein bis zwei Tage vorher die Nachricht über ihre Abschiebung. Ferner wurde – gemäß einer erhaltenen Postkarte Thekla Liebers – der „Kyffhäuser“ kaum bewacht, sodass Besuche von Angehörigen im Sammellager noch möglich waren. Weiter berichten Decker und van Hollen eindrücklich über die angstbehaftete Abfahrt von Sabine Schelhasse aus Münster. Damit ist ein weiterer Punkt angesprochen: der Einzugsbereich erweiterte sich bis nach Münster.

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Klara, Kurt und Irma Moses werden zum 11. Juli 1942 als nach „Warschau“ verzogen notiert – vermutlich aus Unwissenheit. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,003/Einwohnermeldeamt, Nr. 1412: Hausbuch Lützowstraße 10

Auch wenn schon spätestens seit den 1980er Jahren in der Forschung bekannt ist, dass die Deportation am 10. Juli stattgefunden hat, ist bis heute nicht zweifelsfrei zu belegen, wohin die Jüdinnen und Juden verschleppt wurden. Das hat mehrere Ursachen: Es ist herausgearbeitet worden, dass auch viele der Gestapo-Mitarbeiter und die Bahnbediensteten nicht wussten, welches Ziel der Zug haben sollte. Es wird darüber hinaus vermutet, dass das Ziel absichtlich gegenüber den Insassen verschleiert wurde. Auch das Einwohnermeldeamt in Bielefeld wurde offensichtlich nicht über das Ziel informiert. Häufig wurde entweder „Warschau“ oder „nach Osten“ zur Abmeldung notiert – ein Indiz für die Kurzfristigkeit oder Verschleierung der Deportation.

Thekla Lieber, die aus Bielefeld stammende jüdische Unternehmerin, schrieb noch aus dem Zug heraus, dass sie über Hamburg nach Warschau kommen werde, wo sie ihre Schwägerin Toni wiedersehen könne, die schon am 31. März 1942 deportiert worden war. Toni und Thekla Lieber überlebten den Holocaust nicht. Ihre Angehörigen stellten nach 1945 mehrere Wiedergutmachungsanträge. Sie gaben an, dass Thekla Lieber am 31. Juli 1942 „nach Osten“ deportiert worden sei – vermutlich, weil sie es selbst nicht wussten und zu diesem Zeitpunkt die Deportation am 10. Juli in der Verwaltung offiziell noch nicht bekannt oder anerkannt war. Sie mussten bei unplausiblen Angaben auch die Ablehnung ihres Antrags befürchteten. Die frühen und späteren Forschungen vermuteten auch wegen dieser Angaben, dass das Ziel Warschau oder Theresienstadt gewesen sein müsse.

Bekannt ist hingegen – und das ist der Forschungsleistung von Decker und von Hollen zu verdanken – dass der Zug zunächst von Bielefeld nach Hamburg und anschließend über Berlin und Breslau nach Oppeln führte. Weitere Zweifel an den Zielen Warschau oder Theresienstadt werden von Jürgen Sielemann gegenüber Alfred Gottwald und Diana Schulle geltend gemacht:  Er kann den Weg des Zugs von Hamburg über Ludwigslust, wo zusätzlich ein Transport aus Rostock mit 91 jüdischen Insassen angekoppelt wurde, mit einer weiteren Zugkopplung in Berlin verfolgen, die gemeinsam noch in Breslau und Oppeln nachzuweisen sind. Von dort aus sei nur noch Auschwitz ein plausibles Ziel, so Sielemann abschließend. Es gebe jedoch keinen Beweis für die Ankunft des Zuges aus Hamburg in Auschwitz, da die Transportlisten 1944 in den Krematorien Auschwitz-Birkenau verbrannt wurden. Die Befunde der älteren Forschung stehen mit diesen neuen Erkenntnissen im Widerspruch.

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Thekla Lieber mit der Westfälischen Zeitung, 1938. Die jüdische Unternehmerin wurde am 10. Juli aus Bielefeld deportiert und überlebte den Holocaust nicht. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,003/Fotosammlung, Nr. 95-13-027

Wie in Bielefeld wurde auch in Hamburg das Deportationsziel systematisch von der Gestapo verschwiegen, was dort ebenfalls ungewöhnlich war. Seit 1945 habe die jüdische Gemeinde Hamburg bei Recherchen von Eisenbahnbeamten erfahren, dass der Zug am 11. Juli nach Auschwitz geführt worden sei. Ebenso weise der Koffer von Dr. Bernhard Aronsohn aus Hamburg, der am besagten Zug nachweisbar ist, in der Koffersammlung auf die Tötung in Auschwitz hin. Dies sei, so Sielemann weiter, ein recht sicherer Hinweis auf das Deportationsziel Auschwitz, da 1942 der überwiegende Teil der Jüdinnen und Juden aus dem Warschauer Ghetto in Treblinka ermordet wurde: Es gebe demnach keinen ersichtlichen Grund für die Annahme, dass der Koffer auf einem anderen Weg nach Auschwitz gekommen sein könnte.

Diese Indizienbeweise sind an sich recht überzeugend. Sie erhärten sich jedoch mit der Argumentation und den Ergänzungen aus den Postkarten, die Martin Decker und Kai-Uwe von Hollen herangezogen haben. Sie können in ihrer beachtenswerten Auswertung anhand der aus dem Zug geworfenen Postkarten mittels Innenperspektive belegen, dass der Zug, mit dem die aus Bielefeld und Umgebung stammenden Jüdinnen und Juden verschleppt wurden, zunächst nach Hamburg und dann über Ludwigslust, Berlin, Reisdorf, Breslau und Oppeln führte. Von dort aus sei eine Weiterfahrt nach Theresienstadt oder Warschau unwahrscheinlich gewesen, halten die Autoren auch in Übereinstimmung mit Jürgen Sielemann fest.

Weitere Indizien sprechen gegen Warschau und Theresienstadt: Erstens könne davon ausgegangen werden, dass die Ankunft in Warschau oder Theresienstadt dokumentiert wurde oder zumindest einige der Personen einen weiteren Deportationsweg sowie andere Spuren hinterlassen hätten. Dies sei jedoch nicht der Fall: Von den 41 aus Bielefeld bekannten Jüdinnen und Juden sei nach dem 12. Juli in Oppeln kein Lebenszeichen mehr zu finden, was für den Zeitpunkt der Deportation ungewöhnlich sei und deshalb für einen frühen Transport in das mit Zyklon-B betriebene Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau sprechen würde. Zweitens lasse sich über das Gepäckstück von Dr. Bernhard Aronsohn, der in Hamburg in den Zug zusteigen musste, recht sicher nachweisen, dass dieser nach Auschwitz deportiert und aller Wahrscheinlichkeit dort umgebracht wurde. Dass die Bielefelder Jüdinnen und Juden in dem Zug saßen, geht eindeutig aus den Postkarten hervor, die ebenso die Streckenprojektion von Sielemann unterstützen. Trotz aller methodischer Vorsicht unterstreichen die Aussagen der Bahnbediensteten nach 1945 die Thesen Sielemanns, Deckers und von Hollens, dass der Zug nach Auschwitz geführt wurde.

Zweifel bleiben lediglich aufgrund der ungewöhnlichen Teilstrecke Berlin – Reisdorf – Breslau – Oppeln. Eine Teilung der erst in Ludwigslust und Berlin gekoppelten Züge, ist hingegen unwahrscheinlich. Die von Decker und von Hollen projezierte Strecke ist unzweifelhaft belegt, hat aber auch in aktuellen Darstellungen der Zugstrecken in der „Datenbank zu den Deportationen im Rahmen der Shoah (Holocaust)“ (Yad Vashem) noch keine Abbildung gefunden. Auch in Bad Arolsen lassen sich die Spuren noch nicht zurückverfolgen. Die neuen technischen Möglichkeiten der letzten zehn Jahre müssen demnach weiter aufgebaut werden.

Fazit

Die Deportation vom 10. Juli 1942 aus Bielefeld verdeutlicht demnach Folgendes:

  1. Die Sammlungen in Gedenkstätten und privaten Beständen ergänzen die bestehenden Überlieferungen und können Lücken der akademischen Forschung schließen.
  2. Die Forschung stößt immer wieder an ihre Grenzen, wenn die offizielle Überlieferung nicht vollständig ist, weil sie teilweise von den Nationalsozialisten selbst vernichtet wurde. Insbesondere die amtliche Überlieferung weist immer wieder Lücken auf und lässt irreführende Schlüsse zu.
  3. Regionale und Akteursperspektiven spiegeln entstehende „weiße Flecken“ zur Geschichte des Nationalsozialismus, wenn überwiegend staatliche Personen und Strukturen Gegenstand der Forschung sind. Es sind grade die Alltagsdokumentationen, die Widersprüche aufzeigen, zwischen Verwaltung und alltäglichem Leben im Zivilisationsbruch vermitteln und diesen verdeutlichen. So können weitere Fragen gestellt werden.

Der einzigartige Fund der Postkarten, den Decker und von Hollen als authentische Quellen der Deportation vom 10. Juli aus Bielefeld auswerten konnten, zeigt drei Aspekte über die Forschung zum NS-Regime und zum Holocaust:

  • Täuschung und Verschleierung des Menschheitsverbrechens waren Teil der nationalsozialistischen Politik und Programmatik. Es wird deutlich, wie die Verschleierung der Vernichtung beabsichtigt und durchgeführt wurde.
  • Die geschichtswissenschaftliche Forschung seit der Nachkriegszeit tappt daher immer wieder in Fallen, wenn sie sich ausschließlich auf die amtliche Überlieferung verlässt. Einmal getätigte Aussagen bleiben mitunter Jahrzehnte erhalten – neuere Erkenntnisse haben es häufig schwer, in den aktuellen Forschungsstand, und noch schwerer, in die Öffentliche Wahrnehmung einzudringen.
  • Auch wenn seit einigen Jahrzehnten staatliche Strukturen und überpersonelle Zusammenhänge zur Zeit des Nationalsozialismus recht gut erforscht sind, bleiben einige Aspekte der Geschichte verdeckt, die nur mit unkonventionellen Mitteln enthüllt werden können. Zeitzeugen, Alltagsdokumente und –Gegenstände sowie neue Darstellungsformen ergänzen und präzisieren die häufig so wichtigen Geschichten der Opfer sowie von Täterinnen und Tätern.

Nicht zuletzt bieten diese Ansätze verschiedene Möglichkeiten, die Opfer des Nationalsozialismus zu identifizieren und präsent zu halten, die andernfalls verschüttet bleiben würden. Derzeit sind folgende Jüdinnen und Juden bekannt, die in Bielefeld lebten, am 10. Juli 1942 (höchstwahrscheinlich) nach Auschwitz deportiert und dort ohne Weiteres ermordet wurden:

  • Altmann, Leo (geb. am 08.03.1879)
  • Belitzer, Else (geb. Förster, am 06.02.1884)
  • Belitzer, Max (geb. am 12.01.1879)
  • Blumenthal, David (geb. am 23.02.1877)
  • Blumenthal, Lina (geb. Grünewald, am 13.08.1879)
  • Blumenthal, Marie (geb. am 12.02.1875)
  • David, Nanny (geb. Rosenbaum, am 31.12.1876)
  • Dessauer, Betti/Berta (geb. am 19.08.1878)
  • Dobrin, Moritz (geb. am 19.01.1878)
  • Dobrin, Rosalie (geb. Domke, am 21.01.1880)
  • Dreifuß, Rosa (geb. Blumenthal, am 15.06.1884)
  • Engel, Rosa (geb. Rosenbaum, am 11.10.1874)
  • Feldon, Esther (geb. am 14.12.1919)
  • Gerson, Erna/Jona („Iona)“ (geb. am 07.09.1905)
  • Gerson, Gustav (geb. am 24.05.1877)
  • Gerson, Rosa  (geb. Cohn, am 30.11.1878)
  • Gottschalk, Walter (geb. am 27.06.1894)
  • Katzenstein, David (geb. am 09.03.1880)
  • Katzenstein, Meta (geb. Ochs, am 19.10.1888)
  • Kedziorek, Hulda (geb. Rosenbaum, am 19.11.1875)
  • Kedziorek, Leo (geb. am 10.05.1880)
  • Lieber, Thekla (geb. Heine, am 11.05.1882)
  • Löwenberg, Ella (geb. Goldschmidt, am 08.09.1883)
  • Löwenberg, Else (geb. am 01.06.1881)
  • Löwenberg, Hermann (geb. am 12.07.1879)
  • Meyer, Antonie (geb. Rosenthal, am 01.09.1872)
  • Moses, Irma    (geb. Spiegel, am 23.05.1911)
  • Moses, Klara  (geb. Loh, am 01.10.1879)
  • Moses, Kurt (geb. am 22.02.1909)
  • Nathan, Ida     (geb. Moses, am 26.04.1887)
  • Rosenbaum, Helene (geb. am 26.11.1883)
  • Schönenberg, Selma   (geb. Rosenthal, am 13.05.1890)
  • Simon, Minna (geb. am 17.01.1894)

An sie sowie an viele andere deportierte Jüdinnen und Juden aus dem heutigen Ostwestfalen-Lippe und Schaumburg-Lippe erinnert das Mahnmal vor dem Bielefelder Hauptbahnhof „Jede Ermordete, jeder Ermordete hat einen Namen“.

Literatur

  • Benz, Wolfgang, Geschichte des Dritten Reiches, München 2000
  • Decker, Martin / von Hollen, Kai-Uwe, „Montag werden wir, wenn’s gut geht, am Ziel sein“. Die Deportation aus dem Gestapobezirk Bielefeld am 10. Juli 1942, in: Ravensberger Blätter, Heft 1 (2010), S. 1-25. URL: https://www.stadtarchiv-bielefeld.de/Portals/0/PDFs/LgB digital/RB/RAvBll_2010_1.pdf#page=3
  • Gottwald, Alfred / Schulle, Diana, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005
  • Hartmann, Jürgen, Die Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Bielefeld, in: Rosenland. Zeitschrift für lippische Geschichte, vol. 25 (2021), S. 68-151. URL: https://www.rosenland-lippe.de/wp-content/uploads/2021/07/Rosenland-25.pdf#page=68
  • Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm, Die Juden in der Stadt Bielefeld während der Zeit des Nationalsozialismus (Bielefelder Beiträge zur Stadt und Regionalgeschichte, Bd. 5), Bielefeld 1983
  • Minninger, Monika / Stüber, Anke / Klussmann, Rita (Ed.), Einwohner – Bürger – Entrechtete. Sieben Jahrhunderte Jüdisches Leben in Raum Bielefeld (Bielefelder Beiträge zur Stadt und Regionalgeschichte, Bd. 6), Bielefeld 1988
  • Minninger, Monika / Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm (Hrsg.), Antisemitisch Verfolgte registriert in Bielefeld 1933-45. Eine Dokumentation jüdischer Einzelschicksale (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 4) Bielefeld 1985
  • Sielemann, Jürgen, Der Zielort des Hamburger Deportationstransports vom 11. Juli 1942, in: Zeitschrift des Vereins für Haburgische Geschichte 95 (2009), S. 91-110. URL: https://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh/digbib/view?did=c1:59752&sdid=c1:59761
  • Wagner, Bernd J., Deportationen in Bielefeld und Ostwestfalen 1941-1945, in: Asdonk, Jupp / Buchwald, Dagmar / Havemann, Lutz / Horst, Uwe / Wagner, Bernd J. (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn!“, Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941-1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 24), Bielefeld 2012, S. 70-127

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,003, Nr. 1412: Hausbuch Lützowstraße
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,003/Einwohnermeldeamt, Nr. 1430: Hausbuch Koblenzerstraße
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,003/Amt für Wiedergutmachung, Nr. B 0122
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,008/Sammlung Judaica, Nr. 26: Auschwitz

Internetquellen

Erstveröffentlichung: 01.07.2022

Hinweis zur Zitation:
Waterböhr, Jan-Willem, 10. Juli 1942: Bielefeld als Ausgangspunkt der Vernichtung – Die geheim gehaltene Deportation von Jüdinnen und Juden nach Auschwitz, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2022/07/01/01072022/, Bielefeld 2022

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