26. April 1973: „Das Jugendheim ist unser Haus“. Räumung des besetzten HOT Brackwede

• Jan-Willem Waterböhr, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

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Das besetzte Arbeiterjugendzentrum im April 1973 in der Kimbernstraße (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 52-008-131, Fotograf: Hohenhoff)

Am frühen Abend des 26. April 1973 wurde mit einem Großaufgebot von etwa 250 Polizei-Einsatzkräften das HOT Brackwede („Haus der Offenen Tür“) geräumt. 158 Personen, überwiegend Schülerinnen und Schüler sowie Studierende, wurden wegen Hausfriedensbruch und Nötigung mit erkennungsdienstlichen Maßnahmen registriert, teilweise vorübergehend festgenommen und angezeigt – neun Personen wurden später zu Geldstrafen verurteilt.

Was war passiert? Einige Tage zuvor hatten zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene das HOT Brackwede besetzt. Es war damit die vorletzte Eskalationsstufe in einem sich mehrere Monate aufbauenden Konflikt zwischen den kommunalen Jugendämtern, der Jugendsozialarbeit sowie den von der Jugendzentrumsbewegung geprägten Jugendlichen und Studierenden. Das inhärente Eskalationspotential der politisch aufgeladenen Jugendarbeit wurde in Bielefeld nach der kommunalen Gebietsreform 1973,  durch die die vormals zum Kreis Bielefeld gehörende Stadt Brackwede  in die kreisfreie Stadt Bielefeld eingegliedert wurde , unterschätzt. Am Ende entstanden das AJZ Bielefeld und das JZ Stricker, die bis heute die Jugend- und Subkultur in Bielefeld prägen.

Wiedereröffnung und Schließung des HOT-Brackwede

Das HOT Brackwede eröffnete im März 1972 in der Poststraße 13 (heute: Kimbernstraße) als Raum für soziale und pädagogische Kinder- und Jugendarbeit. Es war eines von insgesamt fünf Jugendheimen. Zu dem Zeitpunkt existierten im Kreis und in der Stadt Bielefeld: Das Jugendheim Niedermühlenkamp (heute: JZ Kamp), das Jugendheim Wellensiek (heute: HOT Wellensiek der Evangelischen Jugend Bielefeld), der Bunker Ulmenwall und das Haus der Jugend in Sennestadt (heute: LUNA – Kinder- und Jugendtreff).

Ab dem 1. Januar 1972 wurde der Sozialarbeiter Wolfgang Rietschel als neuer Stadtjugendpfleger eingestellt, der für etwa 8.000 junge Menschen in Brackwede zuständig war. Gleichzeitig übernahm er die Heimleitung des HOT Brackwede. Seine Person wurde von Seiten der CDU und FDP offen in den Tageszeitungen kritisiert:

Ob die Einstellung des Herrn Rietschel, in Brackwede aktiver Jungsozialist, gewählt nur von den SPD-Mitgliedern gegen die Stimmen der FDP und CDU, eine politische Entscheidung war, möge der Leser [des Westfalen-Blatts vom 13. November 1971] und Bürger unserer Stadt selbst entscheiden.

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Das HOT Brackwede in der Kimbernstraße, 1973 (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 55-002-045, Fotograf: Sudmann)

Der Vollbetrieb startete am 2. Mai 1972. Zwischen 15:30 bis 18:00 Uhr konnten Kinder Tischtennis spielen, kickern und in begleiteten Gruppen fernsehen. Weitere Angebote umfassten Spieleabende, Diskussionsrunden, Diskothek- und Filmveranstaltungen. Ein ähnliches Angebot für Jugendliche fand von etwa 18:30 bis 22:00 Uhr statt. Ergänzend wurden im Filmzirkel zeitkritische Magazinsendungen pädagogisch begleitet und gemeinsam reflektiert. Verschiedene Arbeitsgruppen boten Kurse aus den Bereichen Mode, Kunst und Musik an, außerdem gab es Gruppen für den gemeinsamen Betrieb technischer Anlagen. Auch externe Gruppen trafen sich im HOT Brackwede, beispielsweise ein Schachverein, der bisher überwiegend Räumlichkeiten in Gaststätten fand und dort kaum Kontakt zu Jugendlichen aufbauen konnte, sowie ein Briefmarkenklub.

Die Kommunale Neugliederung, die am 1. Januar 1973 in Kraft trat, vereinte die Stadt Bielefeld und den umliegenden Kreis Bielefeld, zu dem auch Brackwede gehörte, zur kreisfreien Stadt Bielefeld. Damit wurde nicht nur die politische Eigenständigkeit der Kommunen im Kreis Bielefeld an den Rat der Stadt Bielefeld abgegeben und in reduzierter Form in den Bezirksausschüssen (später Bezirksvertretungen) fortgesetzt, es wurden auch zahlreiche Verwaltungsstrukturen zusammengeführt – so u. a. die Jugendämter. Zuvor war der Kreis Bielefeld für das HOT Brackwede zuständig, ab dem 1. Januar 1973 wurde die Verantwortung an das Jugendamt Bielefeld übertragen. Das hatte Auswirkungen auf den Aufgabenbereich von Wolfgang Rietschel, der weiterhin Jugendpfleger für Brackwede und Heimleiter des HOT Brackwede blieb, jedoch einen Großteil seiner Arbeitszeit fortan im Jugendamt Bielefeld leisten musste.

Es zeigte sich schnell, dass die jugendpflegerischen Aufgaben und die Heimleitung sehr viel mehr Zeit in Anspruch nahmen als zunächst kalkuliert wurde und arbeitsrechtlich möglich war. In der Folge wurden viele Aufgaben zur Anleitung der Besucherinnen und Besucher auf einige ehrenamtliche Schülerinnen und Schüler sowie Studierende übertragen. Es fehlte jedoch ein pädagogisches Konzept und die Zusammenarbeit wurde zumeist als chaotisch beschrieben.

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Flugblatt mit Karikatur zum Bielefelder Jugendamt (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 120,1/Kreis Bielefeld, Nr. 2275)

Das HOT Brackwede musste sich demnach organisatorisch neu aufstellen, zumal das alte Modell zunehmend von dem zumeist ehrenamtlichen Mitarbeiterkreis kritisiert wurde. In Anlehnung an die Jugendzentrumsbewegung wollten sie sich nicht mehr als richtungsweisende Instanz, sondern als selbstverwaltete Initiative verstanden sehen, die mit den Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiteten.  Eine neue Organisation des HOT Brackwede wurde am 6. und 7. Januar 1973 in der Bildungseinrichtung „Haus Neuland“ in Bielefeld-Sennestadt erarbeitet. Sie sah vor, dass der Mitarbeitendenkreis nicht mehr versuchen solle, „von oben herab die Kinder und Jugendlichen zu aktivieren“, sondern als Initiativkreis mit den Kindern und Jugendlichen zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig wurde mehr Verantwortung auf das bisherige Personal übertragen, das in weiten Bereichen selbstverantwortlich für das eigene Arbeitsfeld agieren konnten –dessen Honorare wurde nicht mehr durch das Jugendamt ausgezahlt, sondern selbst verwaltet. Dieser Vorschlag wurde auch von den Mitarbeitenden angenommen.

Parallel zu diesen Entwicklungen mehrten sich 1973 Anwohnerbeschwerden. Es sei mehrmals zu Lärmbelästigung durch Musik bei geöffnetem Fenster, zu zerschlagenen Bier- und Getränkeflaschen und zu Polizeieinsätzen gekommen. Das Jugendamt führte die Entwicklungen auf die Vernachlässigung der Koordination der Zusammenarbeit im HOT Brackwede zurück. Diese fehlende Abstimmung sei ursächlich für die als mangelhaft bewertete Arbeit des Personals mit den Kindern und Jugendlichen und hätte folglich zu den Beschwerden geführt.

Am 25. Januar 1973 fand ein Klärungsgespräch mit den Vertretern des Jugendamts statt, an dem unter anderem auch Wolfgang Rietschel teilnahm. Die sieben Mitarbeitenden und etwa 30 Jugendlichen lehnten die Zukunftspläne des Jugendamts ab, eine neue hauptamtliche Kraft einzustellen. Kritisiert wurde vornehmlich die Gängelung der jugendlichen Verhaltensweisen, die in Einzelfällen bis zu Heimeinweisungen durch das Jugendamt geführt hatten. Der anschließende Aktenvermerk von Wolfgang Rietschel beschreibt, dass die Jugendlichen die Vorwürfe zurückwiesen und immer wieder von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angestachelt wurden. In einer anschließenden Abstimmung sprachen sich die Jugendlichen gemeinsam mit den Mitarbeitenden einstimmig gegen die Einsetzung eines neuen Heimleiters aus.

Das Gespräch, das eigentlich zu einer Schlichtung des Konflikts führen sollte, blieb ergebnislos, gleichzeitig brachen die Beschwerden der Anwohner nicht ab. Im Rahmen einer abendlichen Diskoveranstaltung im HOT Brackwede kam es gleich zu zwei Polizeieinsätzen: Zur Konfliktlösung zwischen Personen und Gruppen und zur Entfernung von unbefugten, stark alkoholisierten Personen, die sich im Keller zum Schlafen niedergelassen hatten. Das Jugendamt sah sich anschließend veranlasst, das HOT Brackwede ab dem 9. Februar 1973 vorübergehend zu schließen. Damit war der Versuch der Selbstverwaltung auf Druck des Jugendamts vorerst gescheitert und einseitig abgebrochen worden. In einem weiteren Aktenvermerk vom 16. Februar 1973 wird festgehalten, dass erneute Übergangslösungen der Situation und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen nicht gerecht würden – die Bereitstellung einer „kontinuierlichen Bezugsperson“ sei arbeitsrechtlich ebenfalls nicht zu gewährleisten: „Eine Absicherung des geordneten Heimbetriebs durch Praktikanten erweist sich […] als nicht möglich.“ Die Weiterbeschäftigung der ehrenamtlichen Mitarbeitenden der bestehenden Belegschaft war nicht gewünscht. Es habe auch keine Möglichkeit bestanden, Personal aus dem Niedermühlenkamp (heute JZ Kamp), welches sich zu dem Zeitpunkt im Umbau befand, in Brackwede einzusetzen. Wegen notwendig gewordener Renovierungen blieb das HOT Brackwede bis auf Weiteres geschlossen. Die Situation wurde auch vom Jugendamt als defizitär eingeschätzt, da sich die Konflikte in Form von Demonstrationen auf die Straße und auf das Jugendheim der evangelischen Kirchengemeinde Ummeln verlagern würden, beschreibt der Vermerk weiter.

„Kampf für ein Arbeiterjugendzentrum“

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UNSER HAUS – Ausgabe des Aktionskomitees ‚Kampf für ein Arbeiterjugendzentrum‘ während der Besetzung, April 1973 (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,2/Jugendamt, Nr. 55)

Wann genau sich das Aktionskomitee „Kampf für ein Arbeiterjugendzentrum“ gründete, ist derzeit nicht klar festzustellen. Da das Komitee zunehmend nach der Schließung des HOT Brackwede im Februar 1973 auftrat, kann vermutet werden , dass sich der ehemalige Mitarbeitendenkreis des Experiments eines selbstverwalteten Arbeiterjugendzentrums (AJZ) im März 1973 erneut zusammenfand. In der Öffentlichkeit trat  die Gruppe zumeist mit Flugblättern, der eigenen Zeitschrift „UNSER HAUS. Zeitung für ein Arbeiterjugendzentrum“ und zu offiziellen Gesprächen in Erscheinung. In einer der frühen Ausgaben von „UNSER HAUS“ vom 31. März 1973 heißt es zu dem gescheiterten Versuch, ein selbstverwaltetes Jugendhaus im Januar 1973 aufzubauen:

Im Januar 73 wurde der Heimleiter im Zuge der kommunalen Neuordnung abgezogen und andernorts eingesetzt. Das Jugendamt ließ sich wohl oder übel darauf ein, eine Selbstverwaltung des Heims durch die Arbeiterjugendlichen zuzulassen. Ein Teil der ehemaligen Mitarbeiter solidarisierte sich mit den Jugendlichen und unterstützte sie bei der Selbstverwaltung.

Die Zielsetzung des Komitees wird in einem Flugblatt vom 27. März 1973 deutlich:

Unterstützt uns bei der Durchsetzung der berechtigten Forderung nach Einrichtung des Arbeiterjugendzentrums! Solidarisiert Euch mit den Brackweder Jungarbeitern, Lehrlingen und Schülern, die stellvertretend für alle Bielefelder Stadtteile den Kampf aufgenommen haben für ein Zentrum, in dem sie ihre eigenen Interessen zusammenfassen und durchsetzen können! Die Wiedereinrichtung eines konventionellen, disziplinierenden Heimbetriebes, wie er vom Jugendamt geplant wird, muß verhindert werden.

Das Westfalen-Blatt berichtete am 9. April 1973 erstmalig über das Aktionskomitee, anlässlich einer Demonstration am 7. April , bei der 200 Jugendliche für die Etablierung eines Arbeitsjugendzentrums vom Brackweder Treppenplatz zum Rathaus in der Innenstadt zogen.

Das Jugendamt setzte weiter auf Dialog: Am 17. April wurde zu einem sogenannten „Go-In“ eingeladen, einer Gesprächsrunde mit verschiedenen Interessensgruppen, darunter auch das Aktionskomitee. Wider Erwarten  erschienen jedoch nicht nur drei Personen zu dem Termin, sondern es fanden sich 70 Personen in den Räumen des Jugendamts ein, die forderten, an den Gesprächen teilzunehmen. Zwar wurde versucht, dieser  Bitte  nachzukommen, die Gespräche mussten jedoch nach zwei Stunden ergebnislos beendet werden.

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Flyer zur Solidaritäts-Fete am 21. April 1973 (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 120,1/Kreis Bielefeld, Nr. 2275)

Das HOT Brackwede, welches  zu dem Zeitpunkt bereits zwei Monate geschlossen war, sollte nach Klärung der Personalsituation wieder öffnen. Dabei sahen die Pläne des Jugendamts vor, erneut einen hauptamtlichen Heimleiter einzusetzen und damit zum alten Organisationsmodell von vor 1973 zurückzukehren. Diese Idee  provozierte die Vertreter für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum und sorgte für eine Eskalation des Konflikts. Auf einer „Solidaritätsfete“ des Aktionskomitees „Kampf für ein Arbeiterjugendzentrum“ im Kinderladen an der Detmolder Straße 33 am 21. April 1973 wurde beschlossen, die Situation nicht mehr hinzunehmen und das HOT Brackwede zu besetzen,   was umgehend in die Tat umgesetzt wurde.

In der Folge suchten kurz vor Mitternacht desselben Abends zwei Vertreter des Jugendamts  das HOT Brackwede auf, nachdem sie von der Besetzung erfahren hatten. Sie erhielten über ein Fenster auf der Rückseite des Hauses Zutritt zu dem verbarrikadierten Gebäude und besprachen die Situation mit den Besetzerinnen und Besetzern. Es fanden daraufhin zwei weitere Besprechungen statt: Am 24. April in der Gaststätte Rieker Krug und am 25. April erneut im HOT Brackwede. Im dazugehörigen Aktenvermerk wird zunächst darauf hingewiesen, dass eine polizeiliche Räumung mit Einsatz körperlicher Gewalt bis einschließlich Dienstag, den 24. April, vermieden werden soll. Auch das Jugendamt hatte an der Räumung kein Interesse, da befürchtet wurde, dass das Mobiliar dabei zerstört würde. Die Vertreter des Jugendamts notierten ferner ihren Eindruck, dass bei dem ersten Treffen während der Besetzung, nur etwa 15 Prozent  der Besetzer Arbeiter und Lehrlinge waren, wobei die Mehrheit  als Studenten  über 20 Jahre eingeschätzt wurde:

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Jugendliche demonstrieren 1973 in der Brackweder Germanenstraße für den Erhalt des Jugendzentrums (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 52-008-071, Fotograf: Hohenhoff)

„Zu Beginn der Diskussion, die stellenweise diszipliniert und stellenweise undiszipliniert verlief, verlangten die Sprecher der Hausbesetzer von und als Verantwortliche der Stadt, daß wir alles in unserer Macht Stehende tun, um eine gewaltsame Räumung des Hauses zu verhindern. Wir ließen in unseren Diskussionsbeiträgen erkennen, daß kein Zweifel daran besteht, daß die Hausbesetzung ein illegaler Akt der Hausbesetzer ist, daß wir in jedem Fall eine gewaltsame Lösung des Problems ablehnen, da dadurch die inhaltliche Lösung der Arbeit im Jugendheim Brackwede belastet werde. Wir sagten zu, daß auch, wenn die Samstagnachtverhandlungen ergebnislos verlaufen, von uns alles getan wird, um bis zum Dienstag, dem 24.4.73, 24.00 Uhr einen Polizeieinsatz zu verhindern.“

Der Vermerk weist ferner darauf hin, dass sich die Anwohner während des Osterwochenendes über die durch Musik bei offenem Fenster und durch erhöhtes Verkehrsaufkommen erstandene Lärmbelästigung beschwerten, die in Folge zahlreicher Verpflegungslieferungen entstanden war.

Die Verhandlungen scheitern, die Polizei räumt

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Polizeirat Heinz Zallmann spricht im April 1973 zu den Hausbesetzern (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 52-008-080)

Eine Einigung zwischen den Besetzern und dem Jugendamt schien nicht möglich.  Den Forderungen der Besetzer nach einem Haus, finanzieller Unterstützung durch die Stadt und Unabhängigkeit vom Jugendamt für ein autonomes Arbeiterjugendzentrums kam das Jugendamt nicht nach. Die parallele Skandalisierung durch die politischen Parteien und in den Tageszeitungen, dass sich unter den Besetzern Mitglieder der KPD/ML (Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten) und der Roten Garde (Jugendorganisation der Marxistischen Partei Deutschlands /der Marxisten-Leninisten) befänden, trug ebenfalls nicht zum  Gelingen der Gespräche bei. Der Vorwurf sollte sich bestätigen: 17 Mitglieder der genannten Gruppen wurden festgenommen, fünf weitere wurden zuvor im Umfeld des Hauses beobachtet. An der Rechtswidrigkeit der Besetzung hatte das Jugendamt keinen Zweifel. Es forderte die Besetzer daher auf, das HOT Brackwede zu verlassen, um weiter auf politischer und verwaltungsjuristischer Ebene verhandeln zu können. Die Besetzer, die das Haus jedoch als Pfand und Gewährleistung für ernsthafte Verhandlungen ansahen, kamen diesen Forderungen nicht nach – die Gründung eines verantwortlichen Vereins wurde abgelehnt. Der Einfluss durch die Verwaltung wurde als zu weitreichend eingeschätzt,  was eine Realisierung des angestrebten Selbstverwaltungsprinzips von vornherein unmöglich gemacht hätte.

Trotz der verfahrenen Situation öffneten die Besetzer am 26. April um 17 Uhr das „AJZ Brackwede“ wieder für Besucherinnen und Besucher, denn die Absperrung und Schließung des Hauses war einer der zentralen Kritikpunkte des Jugendamts gewesen. Die Besetzer luden Interessierte zur Besichtigung und zur Diskussion sowie zum weiteren Aufbau eines Arbeiterjugendzentrums ein. Die Arbeit mit Kindern sowie mit Jugendlichen sollte fortgesetzt und wegen der ungeklärten rechtlichen Lage das Haus täglich um 22 Uhr wieder geschlossen werden – so sah es der Beschluss der Hausversammlung vor.

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Ansammlung vor dem besetzten AJZ Brackwede, April 1973 (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 55-002-46, Fotograf: Sudmann)

Alle Verhandlungen und Klärungsversuchte blieben erfolglos. Am 25. April stellte die Stadt Bielefeld „gegen sämtliche in Betracht kommenden Personen“ der Besetzer Strafantrag. Parallel zur Öffnung des AJZ Brackwede seitens der Besetzer wurde die polizeiliche Räumung durch den Oberstadtdirektor beim Bielefelder Polizeipräsidenten angefordert. Ziel war es, das Hausrecht der Stadt Bielefeld wiederherzustellen. Etwa gegen 18 Uhr des 26. April begann die Polizei sternförmig auf das Gebäude vorzurücken und es von außen abzusperren. Das weitere Eindringen von Personen sollte verhindert werden. Gegen 19 Uhr begannen die teilweise vorläufigen Festnahmen zunächst derjenigen Personen, die sich auf dem Vorplatz aufgehalten hatten, später auch derjenigen, die sich im Haus befanden. Um 21 Uhr war die Räumungsaktion mit 254 eingesetzten Beamten, wie das Westfalen-Blatt berichtet, weitestgehend beendet. Erkennungsdienstlich behandelt wurden 158 Personen, darunter vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamts, die an der Neukonzeption seit Beginn des Jahres teilgenommen hatten.

Die Neue Westfälische berichtete am Freitag, den 27. April zur Räumung:

„Damit fand ein fünftägiges ‚Volkstheater‘, das den verantwortlichen Behörden nur unverständliches Kopfschütteln und Empörung der Bevölkerung bescherte, ein gottlob gewaltloses Ende.“

Am 28. April kommentierte Jürgen Scheel im Westfalen-Blatt:

„Man darf sicher sein, daß viele der Jungen und Mädchen an die Realisierung dieser Idee glaubten, sich dafür engagierten, mit Tränen in den Augen anstehen mußten, wie der Traum vom eigenen Haus durch die stärkere Polizei begraben werden musste. Aus ihrer Sicht ist der hilflose Haß auf die Obrigkeit verständlich. Au[f] der anderen Seite steht die zwar nicht so geschlossene aber wesentlich größere Front der Bürger, die die illegale Besetzung verurteilten und kopfschüttelnd mitansehen mußten, wie fünf Tage lang nichts geschah. Es regte sich viel Kritik am Staat, an der Funktionstüchtigkeit von Recht und Ordnung. Auch das ist bedenklich an der gesamten Situation.“

Der entstandene Schaden am Gebäude wurde nach der ersten Begehung auf insgesamt 6.500 Mark geschätzt, inklusive Reinigung und Schuttabfuhr. Die materiellen Schäden am Haus und der Einrichtung betrafen aufgebrochene Türen, zerstörtes Mobiliar, sowie beschädigte Fensterrahmen und Fensterscheiben.

Mit der Räumung des AJZ Brackwede waren die Fronten nicht geklärt. Eine Woche später demonstrierten etwa 550 Personen in Brackwede für das AJZ. Überliefert sind ferner unterschiedliche Solidaritätsbekundungen der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Jungsozialisten und des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) Bielefeld mit den Forderungen des Aktionskomitees. Die 158 am 26. April 1973 erkennungsdienstlich behandelten Personen waren überwiegend in Bielefeld wohnhaft. Nur etwa 35 Personen stammten von außerhalb, zumeist aus Ostwestfalen-Lippe.

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Demonstration am 30. April 1973 für das AJZ Brackwede (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 52-008-074, Fotograf: Wehmeyer)

Schlussendlich sollte gegen 45 Personen Anklage erhoben werden. Von ihnen wurden neun zu teilweise für die damalige Zeit erheblichen Geldstrafen von 100 bis 500 D-Mark verurteilt. Weitere Verfahren wurden im Dezember 1974 aufgrund des hohen Aufwands, der geringen Aussichten auf Erfolg und der langen Dauer in Rücksprache mit dem Jugendamt, dem Oberstadtdirektor und den Jugendrichtern zurückgezogen. Auch wurde angebracht, dass man „die erwachsenen Rädelsführer“ nur zu einer geringen Geldstrafe verurteilen könne – der Prozess  hingegen unter erhöhtem polizeilichen Schutz stattfinden müsse. Weiter hätten viele der Jugendlichen, die man nicht habe erfassen können, lediglich unter propagandistischem Einfluss gestanden. Zudem sei nach 18 Monaten der pädagogische Effekt einer Verurteilung nicht mehr gegeben, sodass auch die übrigen Verfahren abschließend eingestellt wurden.

Nachwirkungen: Ein städtisches und ein autonomes Jugendzentrum in Bielefeld

Die Schilderung der Vorgänge, agierenden Gruppen und beteiligten Personen ist nicht vollständig. Die Ereignisse und Positionen bilden entsprechend nur einen Ausschnitt ab. Dennoch entsteht ein Eindruck über die Diskussionsformen, Inhalte und Handlungsmaxime der Akteure, die für die frühen 1970er-Jahre, im Nachgang zu den Ideen und Ansätzen der 68er Bewegung und in öffentlicher Auseinandersetzung mit der ersten Generation der Rote-Armee-Fraktion (RAF) als typisch auch für Ostwestfalen-Lippe und Bielefeld gelten müssen.   Sie sind nicht nur Ausdruck eines Generationenkonflikts zwischen Jung und Alt, sondern auch einer strukturellen Verwaltungspraxis des Rechtsstaats auf kommunaler Ebene sowie eines „progressiven“ Anspruchs gesellschaftlicher Gruppen auf Freiräume zur Selbstentfaltung. Maßgeblich trafen in Brackwede die Vorstellungen der Jugendzentrumsbewegung auf ein sich neu findendes und politisch noch konservativ geprägtes und agierendes Jugendamt im Nachgang der kommunalen Gebietsreform. Der öffentliche Diskurs war für das Thema „Linker Terror“ sensibilisiert.

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Jugendheim Stricker vor der Eröffnung, 1974 (Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 55-002-12)

Das HOT Brackwede wurde nach der Besetzung erst am 4. Juni 1973 wiedereröffnet. Der Betrieb wurde fortan vom Jugendamt und der Fachhochschule begleitend verantwortet. Das Kernkonzept sah vor, dass die Kinder und Jugendlichen das anzubietende Programm mitbestimmen sollten. Die Praxiserfahrungen sowie Konfliktfälle sollten wissenschaftlich ausgewertet und begleitet werden. Die Beschwerden der Anwohner über Lärmbelästigungen brachen nicht ab. Wann genau der Betrieb im HOT eingestellt wurde, ist aus den Akten des Jugendamts nicht eindeutig zu ermitteln. Wahrscheinlich ist jedoch, dass der Parallelbetrieb vom HOT Brackwede und dem am 17. Oktober 1975 eröffneten  JZ Stricker in Brackwede nicht lange aufrechterhalten und ein Übergang organisiert wurde.

Nach der Räumung des AJZ Brackwede trafen sich die Initiatoren fortan in der Johannislust, oberhalb des heutigen Ostwestfalen-Damms, die schon zuvor als Treffpunkt der Jugendzentrumsbewegung galt. 1974 konnten erste Räume der ehemaligen Fahrradfabrik Dargel angemietet werden. Das Gebäude befindet sich an der Heeper Straße 132. Am 26. Oktober 1974 wurde zusätzlich ein Sternmarsch zur Heeper Straße 132 organisiert. Die Demonstration fand im Rahmen des „Solidaritäts-Wochenendes“ für die Angeklagten und Verurteilten der Hausbesetzung in Brackwede statt. Die städtische Förderung des AJZ Bielefeld von 1974 bis 1991 zeugt von einer frühen, wenn auch nicht konfliktfreien Akzeptanz. Das AJZ Bielefeld besteht bis heute und feiert 2023 sein 50-jähriges Bestehen. Die Einrichtung besitzt überregionale Bedeutung und erfährt aus verschiedenen Kreisen sowohl Anerkennung für ihre Arbeit, als auch Kritik.

Parallel zum Betrieb des HOT Brackwede wurde spätestens im Februar 1973 mit der Planung eines größeren Jugendheims in Brackwede begonnen. Die Räumlichkeiten der alten Fahrradfabrik Stricker an der Gaswerkstraße wurden zwar als baufällig jedoch grundsätzlich für die Nutzung als Jugendzentrum für geeignet befunden. – wohl nicht zuletzt wegen der am Rand der Wohngebiete befindlichen Lage. Am 17. Oktober 1975 öffnete das JZ Stricker seine Türen und besteht bis heute als Jugendzentrum und Veranstaltungsort für Konzerte, Theater und weitere kulturelle Angebote. Beide Einrichtungen, das JZ Stricker und das AJZ Bielefeld, prägen noch immer die städtische Kultur, die Jugend- und Subkultur in Bielefeld und Ostwestfalen-Lippe.

Epilog: Kontinuität und Bruch

Es mag aus heutiger Sicht kurios erscheinen: Das Gebäude des HOT Brackwede, welches heute auch noch steht und weiterhin als soziale Einrichtung genutzt wird, war 1937 von den Nationalsozialisten als HJ-Heim gebaut und als „Horst-Wessel-Haus“ am 9. Oktober desselben Jahres eingeweiht worden. Brackwede hatte damit als erste Gemeinde im HJ-Bann 158 (Bielefeld) ein eigenes Heim für die Hitlerjugend gebaut. Eine Darstellung zur Geschichte und Nutzung des Hauses liegt bisher noch nicht vor. Nach 1945 diente das „Kimbernhaus“ zwischenzeitlich als Ersatz für das Rathaus. Es ging damit in kommunale Hände über und wurde spätestens 1972 für die Nutzung Jugendarbeit erneut eingerichtet. Dass sich 1973 radikal-antifaschistische Gruppen das HOT Brackwede für die Gründung des AJZ Brackwede aussuchten, erscheint einerseits als kurios, andererseits als Spiegel des Wandels der Jugendarbeit zwischen 1933 und 1975.

Es ist unwahrscheinlich, dass den Besetzern bewusst war, um welches Haus es sich handelte – ebenso wenig findet sich in der amtlichen Überlieferung ein Hinweis darauf, dass der Verwaltung die Geschichte des Gebäudes bekannt war. Für die dargelegten Vorgänge hatte dieser Umstand daher keine Bedeutung und wird erst in der historischen Betrachtung sichtbar.

 

Quellen

  • Landesgeschichtliche Bibliothek, Adreßbuch der Stadt Bielefeld 1973.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,1/Oberbürgermeister, Nr. 72
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,2/Jugendamt, Nr. 55
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,2/Jugendamt, Nr. 70
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 120,1/Kreis Bielefeld, Nr. 2275 Bd. 1 und 2
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 120,1/Kreis Bielefeld, Nr. 2277
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 1326
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 32: Neue Westfälische vom 18. Oktober 1973 und  7. April 1998
  • Stadtarchiv Bielefeld, 400,3/Fotosammlung
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,10/Zeitgeschichtliche Sammlung, Nr. 8698

Literatur

  • AJZ Autorinnenkollektiv (Hrsg.), 30 Jahre AJZ. Autonom und selbstverwaltet: eine Dokumentation über das Arbeiterinnen-Jugendzentrum-Bielefeld, Bielefeld 2003
  • Hausversammlung d. Arbeiterjugendzentrums Bielefeld (Hrsg.), 5 Jahre Selbstverwaltung. Eine Dokumentation des Arbeiterjugendzentrums in Bielefeld, Bielefeld 1978
  • Kühne, Hans-Jörg, ’66 bis ’77. Wildes Leben, Musik, Demos und Reformen, Bielefeld 2006
  • Schröder, Fabian (Hrsg.), Linksruck. Politische und kulturelle Aufbrüche in Bielefeld, Bielefeld 2016
  • Stadt Bielefeld (Hrsg.), Verwaltungsbericht der Stadt Bielefeld 1973-1976, Bielefeld 1980

Online

Erstveröffentlichung: 01.04.2023

Hinweis zur Zitation:
Waterböhr, Jan-Willem, 26. April 1973: „Das Jugendheim ist unser Haus“. Räumung des besetzten HOT Brackwede, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2023/04/01/01042023/, Bielefeld 2023

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