18. April 1961: Der Bunker Ulmenwall wird nach Umbauarbeiten wiedereröffnet

• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

Fast zwei Jahre war es im Bunker am Ulmenwall still gewesen. Am 18. April 1961 gellte aus dem unterirdischen Saal wieder „ein heller Schrei aus vielen kleinen Kinderkehlen”: Kasper! Kasper! Unüberhörbar für die Studentinnen und Studenten der Pädagogischen Hochschule und Werkkunstschule, die einige Meter entfernt hinter dicken Mauern ihren neuen Clubraum in Augenschein nahmen. Vorher hatte Hellmut Selje mit seinen Bielefelder Puppenspielen den neugestalteten Bunker mit Antoine de Saint-Exuperys „Kleinen Prinzen” wiedereröffnet. Max Jacob, Vorsitzender der Weltvereinigung der Puppenspieler, sprach lobende Worte und der stellvertretende Oberbürgermeister Herbert Hinnendahl wies darauf hin, dass es in Bielefeld nun ein „Jugendheim besonderer Art” gäbe: Kindern, der „reiferen Jugend” und Studierenden habe die Stadt einen „Jugendtreffpunkt unter Tage” geschaffen.

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Am Tag der Eröffnung: Kinder drängen sich vor dem neuen Haupteingang (1961); Stadtarchiv Bielefeld

Es war nicht der erste Versuch. Bereits im Dezember 1946, neunzehn Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hatte die Stadt den Bunker „der Bielefelder Jugend als Heim übergeben.” Die britische Militärregierung hatte nicht nur die Genehmigung erteilt, den Bunker zivil zu nutzen, sondern überdies einen „großen Teil der Einrichtungsgegenstände” bereitgestellt. Der nationalsozialistischen Diktatur und millionenfachen Toten des Weltkrieges bewusst, wies der Leiter des städtischen Fürsorgeamtes, Dr Wilhelm Niemeyer, bei der Eröffnung auf „die jugendlichen Ziele und Aufgaben und den Durchbruch einer neuen Besinnung und Lebensauffassung” hin: „Nicht brutale Gewalt, sondern Freiheit und Recht seien die erstrebenswerten Güter.” In dem Jugendheim, das von „Jungen und Mädchen im Alter von 14-18 Jahren” besucht werden konnte, gab es anfangs nur einen Raum für Jugendverbände; eine Bastelstube, ein Lesezimmer sowie ein Tischtennisraum sollten noch folgen.

Der Bunker am Ulmenwall, der vor dem Hintergrund der allgemeinen Wohnungsnot und Ernährungskrise von der Freien Presse 1946 zu Recht als „Weihnachtsgeschenk für die Jugend” gefeiert wurde, war in den ersten Nachkriegsjahren der wichtigste Anlaufpunkt für Kinder und Jugendliche in der Bielefelder Innenstadt. Als 1949 das Straßenverkehrsamt den Niedermühlenkamp, in dem es provisorisch untergebracht war, endlich räumen konnte, wurde dort ein weiteres Jugendzentrum eingerichtet. Ein Jahr später bekam Hellmut Selje, der mit seinen Puppenspielen bis dahin in den Städten und Dörfern Ostwestfalen-Lippes aufgetreten war, im Bunker Ulmenwall ein festes Domizil; an der reisenden Puppenbühne hielt er aber weiterhin fest.

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Begeisterte Kinder bei einer Aufführung der Puppenspiele (1957); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 74-2-6

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Jugendheime kein Selbstzweck, sondern in der Regel mit dem pädagogischen Auftrag verbunden, moralisch und erzieherisch auf die Heranwachsenden einzuwirken. Häufig berichteten die Tageszeitungen bis weit in die fünfziger Jahre hinein über die vaterlose Generation, deren fehlende häusliche Führung durch schlechtes Benehmen auf der Straße sichtbar wurde. Den beunruhigten Lesern wurden in der Regel dann Fotografien von halbstarken, Zigarette rauchenden Jungen gezeigt, die wahrscheinlich in ganz Deutschland den Sittenverfall der Jugendlichen dokumentierten. Auf der anderen Seite stand stets die Forderung im Raum, den jungen Menschen Wissen und Informationen zukommen zu lassen, die ihnen in der Diktatur vorenthalten wurden.

Wie zum Beispiel im November 1949, als der Bielefelder Jugendring zusammen mit dem städtischen Jugendamt im „Ulmenwallbunker” graphische Blätter aus Privatbesitz zeigte. Zu sehen waren Arbeiten u. a. von Lovis Corinth, Gerhard Marcks, Lionel Feininger, Paul Klee, Oskar Kokoschka und Alfred Kubin, also von Künstlern, die allesamt von den Nazis als entartet diffamiert und deren Werke aus den Museen entfernt und zum Teil vernichtet worden waren. Jugendliche konnten nach dem Krieg vielleicht noch den einen oder anderen Künstler beim Namen nennen, die Chance, einen Druck oder gar ein Original von ihnen zu sehen, hatten die meisten aber nicht. Dadurch sei eine „peinliche Bildungslücke” entstanden, kommentierte Gertrud A. Kleinberg in der Westfälischen Zeitung. Für sie war diese Ausstellung ein „Experiment”, das die Frage aufwarf, wie „die jungen Menschen, von denen noch einige Un-Befangenheit des Auges zu erhoffen ist, auf den abgestuften Wechsel von ‚Figürlichem’ und ‚Abstraktem’ ansprechen” werden.

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„Weiche von mir!”. Eine Ausstellungstafel gegen „jugendgefährdende Text- und Bildheftchen” (1956); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 192

1956 forderte eine Veranstaltungsreihe, die „Jugend im Niemandsland” zu retten, indem der Jugendschutz zu stärken sei. Gemeint waren fehlende familiäre Beziehungen, die ursächlich für die „Jugendgefährdung” genannt wurden. Für Dr. Berta Tegethoff aus Köln, die in Bielefeld einen Vortrag hielt, wäre diese nicht so groß, „wenn es heute noch mehr intakte Elternhäuser gäbe. Die Kinder aus geordneten Familienverhältnissen seien meistens gegen die schlechten Einflüsse von außen immun, weil sie nicht nach einem Ersatz für fehlende Liebe suchen müssen.” Gefahren für Jugendliche lauerten überall. Als besonders „schädlich” bezeichnete sie Massenmedien wie „Film, Funk, Fernsehen und Reklame”, „Suchtgefahren durch den Genuss vieler Reizmittel” und nicht zuletzt die „allgemeine Sexualisierung der Umwelt”. Verwerflich waren für Tegethoff aber Comics, die sie „Text- und Bildhefte” nannte und als „Schmutz und Schund” brandmarkte. Diese regten nicht nur die „Phantasie der Jugendlichen” an, sondern seien „oft von einer erschütternden Primitivität und Unmoral”. Vor dem Hintergrund, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene traumatische Bombennächte in Bunkern erlebt hatten und zudem mit der Erinnerung leben mussten, von einem verbrecherischen Regime verheizt worden zu sein, stimmt die „fürsorgliche Belagerung” (Heinrich Böll) Jugendlicher befremdlich.

Im gleichen Kontext standen Reaktionen auf angloamerikanischen Rock’n’Roll und den damit verbundenen Tänzen. Die wilden und ekstatischen Bewegungen wurden von der älteren Generation als Jugendkrankheit empfunden, gegen die scheinbar kein Kraut gewachsen war. Mehr Verständnis brachte die Gesellschaft in den fünfziger Jahren für den Jazz auf. 1956 erhielt der Jazzclub im Bunker am Ulmenwall ein Domizil und veranstaltete dort gemeinsam mit dem Jugendamt legendäre „Jazzbandbälle”, die in der gesamten Region „schnell zum Geheimtipp” wurden. Zudem veranstaltete der Jazzclub Vorträge über Musikstile und Musiker und spielte „die neuesten Platten”, die an den Clubabenden heiß diskutiert wurden. Aber auch hier waren so manche erwachsene Zeitgenossen froh, dass das Spektakel untertage stattfand. So schrieb die Freie Presse, dass „Jazz wegen der Lautstärke am besten in bombensicheren Räumen geübt” werde.

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Das Puppentheater war zu Beginn der Bauarbeiten noch geöffnet (1959); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1526-128

1959 schien das Ende des Bunkers Ulmenwall nahe. Im Zuge des vierspurigen Ausbaus des Ulmenwalls musste der Haupteingang des unterirdischen Jugendheimes und Puppenspielbetriebes zugeschüttet werden. Da für die bauliche Umgestaltung das Geld fehlte, wandte sich Hellmut Selje auf Drängen der Stadt an den Landschaftsverband Westfalen-Lippe mit der Bitte, sich an den notwendigen Umbaukosten zur Verlegung des Eingangs und „Verstärkung der Mauern an verschiedenen Stellen des Bunkers” zu beteiligen. Selje begründete seinen Antrag ausschließlich mit der kulturellen Bedeutung der Puppenspiele, die jährlich 15 bis 20.000 Besucher allein am Ulmenwall zählten. Diese „einseitige” Betonung ging dem Leiter des Jugendamtes allerdings zu weit. Er gab zu Bedenken, dass bei der weiteren Planung der Standort als „Jugendheimbunker” berücksichtigt werden müsse. Der Landschaftsverband sagte eine Beteiligung an den Umbaukosten zu. Von den veranschlagten 36.000 DM wollte er 11.000 DM zuschießen. Der Kämmerer äußerte die Hoffnung, dass „eine größere Zahl von Bielefelder Bürgern sich bereitfinden würde, Spenden für den Puppenspielbunker zu geben, wenn für diese Spenden eine Bescheinigung über die Steuerbegünstigung gegeben werden kann.”

Nachdem die Finanzierung des Umbaus lösbar erschien, musste eine weitere Hürde genommen werden, die auch im Kontext des Kalten Krieges stand. Joachim Fischer, der Beigeordnete für das Rechtsamt war, wies darauf hin, dass der Bunker nach der Rechtslage eine „Rettungsstelle” war. Nach Weisung des Bundesfinanzministeriums konnte diese aber „nur dann der Stadt Bielefeld zur Verwaltung und friedensmäßigen anderweitigen Verwendung übergeben werden”, wenn feststand, dass sie „auch künftig noch für Luftschutzzwecke Verwendung finden kann, also sich in einem luftschutzsicheren und atomsicheren Zustand befindet.” Sei der Bunker allerdings dafür nicht geeignet, könnten die Räumlichkeiten gemietet oder gepachtet werden. Um diese Frage zu beantworten, mussten zum einen die Besitzverhältnisse des Bunkers, der 1946 der Stadt von der britischen Militärbehörde zur Einrichtung eines Jugendheimes zur Verfügung gestellt worden war, geklärt werden, zum anderen die vom Gesetzgeber geforderten Sicherheitskriterien überprüft werden. Fischer teilte mit, dass die Oberfinanzdirektion als verantwortliche Behörde sich außer Stande sah, eine Überprüfung des Bauwerkes vorzunehmen. Die Akten geben leider keine Auskunft darüber, wie die Fragen des Rechtsdezernenten beantwortet wurden, 1960 erfolgte jedoch die Freigabe der notwendigen Arbeiten. Nach deren Fertigstellung richteten Studierende der Werkkunstschule ehrenamtlich die neuen Räume ein, die am 18. April 1961 eröffnet werden konnten.

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Der alte Eingang musste der der neuen Straße weichen (1959); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1526-133

Der anfänglichen Begeisterung über das neue Domizil folgte bei den Mitgliedern des Jazzclubs aber bald Ernüchterung. Sie fühlten sich von der neuen Hausordnung des Bunkers regelrecht „hintergangen”. Hintergrund war ein generelles Ausschankverbot für Alkohol. Dabei war für die Mitglieder und Studierenden nicht „die Frage des Bieres oder Alkohols, entscheidend”, teilten sie Jugendamtsleiter Paul Hirschauer mit, sondern dass „man sie zu gängeln versuche. Das ließe sich nicht mit ihrer sonst so sehr gepredigten ‚akademischen Freiheit’ und ihrem eigenen Selbstbewusstsein vereinbaren.” Nach wochenlangen Diskussionen, die natürlich auch unter dem Augenmerk des Jugendschutzes in Jugendheimen standen, lenkte der Stadtrat ein, und genehmigte eine „beschränkte Konzession”: Bei Veranstaltungen „für Jugendliche über 18 Jahre” sollte „die Möglichkeit geschaffen” werden, dass „sie alkoholfreie Getränke sowie Bier und Wein in Flaschen erhalten können.”

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Hellmut Selje: Gründer der Bielefelder Puppenspiele und Ikone des Bunker Ulmenwall (1922-1995); Foto: Dagmar Selje

Nach der Neueröffnung entwickelte sich der Bunker Ulmenwall zu einer herausragenden Bühne für ein breites kulturelles Angebot. Regelmäßige Vorträge und Podiumsdiskussionen zu zeitgeschichtlichen und politischen Themen standen genauso auf dem Programm wie Lesungen „junger Autoren”. Zu ihnen gehörten Gabriele Wohmann, Helmut Heißenbüttel und Peter Härtling, die bald zu den führenden deutschsprachigen Autoren zählen sollten. Auch der in seinen frühen Jahren noch vielen unbekannte und als Geheimtipp gehandelte Günter Wallraff las 1970 im Bunker Ulmenwall aus seinen Arbeiterreportagen. Natürlich wurden zahlreiche Konzerte vor allem von Jazz- und Bluesmusikern sowie von Chansonsängerinnen und –sängern und, wie sie bald auch hießen, von Liedermachern veranstaltet. Ein regelmäßiger Gast war die Bluesikone Champion Jack Dupree, aber auch die Sänger der Achtundsechziger Bewegung wie Franz-Josef Degenhard und Dieter Süverkrüp. Kleinkunst, Varieté, Kabarett sowie zahlreiche Ausstellungen komplettierten das Programm. Für viele Bielefelder war der Bunker Ulmenwall aber weiterhin der Ort der Puppenspiele von Helmuth Selje.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,8/Rechnungsprüfungsamt, Nr. 150: Prüfung des Jugendamtes 1952-1980
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 105,2/Stadtkämmerei, Nr. 607: Städtische Umbaumaßnahmen (1959-1963)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,2/Jugendamt, Nr. 111: Bunker Ulmenwall 1960-1972
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,2/Jugendamt, Nr. 113: Bunker Ulmenwall 1961-1970
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,2/Jugendamt, Nr. 114: Bunker Ulmenwall 1961-1974
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 191: Jugendpflege, Jugendbewegung (1946-1955)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 191: Jugendpflege, Jugendbewegung, Erziehungsfragen (1956-1973)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Freie Presse, Westfalen Zeitung, Westfalen-Blatt, Westfälische Zeitung (1946-1961)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,10/Zeitgeschichtliche Sammlung, Nr. 314: Bunker Ulmenwall: 50 Jahre Jazz & Jugendkultur, 10 Jahre Trägerverein (2006)

Literatur

  • Andreas Bootz, Kultur in Bielefeld 1945-1960, Bielefeld 1993
  • Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld. Bd. 3: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005

 

Erstveröffentlichung: 1.4.2011

Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 18. April 1961: Der Bunker Ulmenwall wird nach Umbauarbeiten wiedereröffnet, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2011/04/01/01042011/, Bielefeld 2011

 

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