1. Dezember 1905: Eröffnung der Öffentlichen Bibliothek Bielefeld

 

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

Drangvolle Enge, neugieriges Publikum, leer geliehene Regale – von all dem ist in den Tageszeitungen Anfang Dezember 1905 nichts zu lesen, nicht einmal etwas zu erahnen. Die Eröffnung der Öffentlichen Bibliothek mit angeschlossener Lesehalle am Alten Markt am 1. Dezember 1905 hat die Bielefelder Medien nicht gerade elektrisiert, zumal ein „Theaterskandal“ das Kulturleben erschütterte. Und dennoch: Die Folgemonate zeigten einen enormen Erfolg, bewiesen das richtige Konzept der neu aufgestellten Bibliothek, die einen wesentlichen Schritt der Professionalisierung gemacht hatte. Dieser war vor allem der ersten Fachbibliothekarin Bielefelds zu verdanken: Charlotte „Lotta“ Steinhaus (1878-1944).

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Das Lektorinnenzimmer der „Öffentlichen Bibliothek“ am Alten Markt, 1912; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos, Nr. 21-3-5

Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es in Bielefeld private Leihbibliotheken gegeben, die das bürgerliche Bildungsinteresse bedienten. Im Zuge der Industrialisierung entstanden in Bielefeld und Brackwede von Unternehmern initiierte Arbeiter-Bildungsvereine, deren Büchereien aber primär Ausdruck einer patriarchal geprägten Firmenkultur waren, indem der Arbeiterschaft vorkonfektionierte Buchbestände zur Unterhaltung angeboten wurden. Dabei verfolgten die Fabrikanten vor allem den Zweck, den angeblich ungebildeten Arbeiter von der „Agitation“ der Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten fern zu halten. In Bielefeld bildete sich 1897 ein aus Unternehmern und höherer Beamtenschaft zusammengesetzter Lesehallenverein, an dessen Spitze Dr. Karl Gottlieb Möller (1837-1919), ein Bruder des preußischen Handelsministers Theodor Adolf von Möller (1840-1925), stand. Dessen Ziel war die Schaffung und Ausstattung einer Lesehalle mit einem kleineren Ausleihbestand anspruchsloser Bücher sowie ausgelegten Zeitschriften, vor allem aus der Arbeitswelt.

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Dr. Karl Gottlieb Möller (1837-1919); aus: Eduard Schoneweg (Bearb), Das Buch der Stadt, Bielefeld 1926, S. 364

Der geeignete Partner wurde die Bielefelder Volkskaffeehaus-Aktiengesellschaft, die im geeigneten Ambiente und überwiegend mit alkoholfreien Getränken (Bier gab es dennoch) insbesondere Arbeiter, Gesellen und Auszubildende vom „Branntwein-Missbrauch“ abhalten wollte. In Bielefeld hatte sie 1886 am Niederwall 9 ein äußerlich mondän anmutendes Volkskaffee-Haus mit kleinem Leseraum errichtet, am 22. April 1898 wurde eine angeschlossene Lesehalle mit 50 Plätzen eröffnet. Die Buchausleihe geschah nach Beratung in Form der klassischen Thekenbücherei: Der Kunde (zugelassen waren zunächst nur Männer) nannte sein Interessengebiet – die Beratung wählte aus dem in zwei verschlossenen Bücherschränken aufbewahrten Bestand einen geeignet erscheinenden Titel aus. Der damit immerhin erreichte Service konnte auf Dauer dennoch kaum befriedigen. Es stellte deshalb einen Glücksfall dar, dass die Stadtbehörden angesichts wachsender Bevölkerung weiter ausdifferenziert werden musste und ein Verwaltungsneubau notwendig wurde. Mit der Eröffnung des Rathauses am Niederwall im Oktober 1904 wurde der Vorgänger am Alten Markt freigezogen und dem Lesehallenverein kostenfrei zur Nutzung überlassen, der dort eine Bibliothek mit fachlicher Leitung etablieren wollte.

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Das 1886 erbaute Volkskaffee-Haus am Niederwall 9; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,5/Bauordnungsamt, Hausakten

Im Bewerbungsverfahren um die Leitungsstelle der neuen Bibliothek setzte sich die in Bielefeld geborene Julie Johanne Charlotte Steinhaus (1878-1944) durch, die selbst stets mit „Lotta“ zeichnete. Nach der Reifeprüfung am Ceciliengymnasium und Aufenthalt 1896/97 an einem Pensionat in Düsseldorf war sie sechs Jahre lang im elterlichen Haushalt tätig gewesen. 1904/05 arbeitete sie als Volontärin an der Bibliothek und Lesehalle des Düsseldorfer Bildungsvereins, danach vom 1. April 1904 bis 1. April 1905 als 2. Bibliothekarin an der Städtischen Bücherhalle in Essen. Gerade die Essener Zeit prägte die fachliche Qualifikation und bibliothekarische Ausrichtung Steinhaus´, denn dort lernte sie bei Paul Ladewig (1858-1940). Dieser war 1898 nach Essen gekommen und hatte dort die „Krupp´sche Bücherhalle“ zu einer öffentlichen Bibliothek nach amerikanischem Vorbild („Public Library“) mit einer deutlichen Kundenorientierung aufgebaut. Schnell wurde er zum einflussreichen Modernisierer des örtlichen und des deutschen Bibliothekswesens überhaupt und zu einem gefragten Berater bei der Neueinrichtung von Büchereien, so auch in Bielefeld. Ladewig propagierte später die Gebrauchsbibliothek, nicht so sehr ihren von anderer Seite geforderten Bildungs- und Erziehungscharakter. Das mag für das Bielefelder Bestandsprofil und später gelegentlich vorgetragene Kritik daran leitend gewesen sein.

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Lotta Steinhaus (1878-1944); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos, Nr. 61-19-73

Vom 1. Juni bis 1. Dezember 1905 blieb die Bibliothek geschlossen. Diese Zeit nutzte Steinhaus für eine gründliche Bestandsrevision. Sie veranlasste zahlreiche Neueinbindungen, um die Bände ausleihfähig zu machen, und arbeitete Schenkungen und Ankäufe ein, denn im Umfang des Buchbestands lag das eigentliche Manko: Mit 1.244 gezählten Bänden konnte er ein zu steigerndes Lesebedürfnis quantitativ nicht befriedigen. Lotta Steinhaus hatte nach wenig mehr als zwei Wochen einen Eindruck gewonnen, was vielleicht weniger an ihrem unbestrittenen Eifer lag als an der Übersichtlichkeit des Bestandes. Sie wandte sich an Bürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst (1865-1944): „Nach Durchsicht der vorhandenen Bücherbestände teile ich Ihnen ergebenst mit, daß auf Grund der Erfahrungen anderer Städte noch große Lücken zu bessern sind; auch wird der augenblickliche Bestand [1500 Bände] nicht ausreichen, das Lesebedürfnis hierselbst zu befriedigen. Es wäre wünschenswert, die Bibliothek auf 2-3000 Bände [1/4 davon Bücher wissenschaftlichen Inhalts] zu bringen“. Die von Steinhaus mit Unterstützung von Ladewig vorgelegte Bedarfsliste umfasste nicht weniger 210 Titel, davon 14 allein aus dem Bereich „Kriegswesen“. Mindestens zehn Bücher behandelten den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, dessen Beginn sich im Eröffnungsjahr zum 35. Mal jährte. In der „schönen Litteratur“ überwogen deutschsprachige Autoren, gelegentlich erschienen ausländische Schriftsteller (Edward George Bulwer-Lytton, Bjørnstjerne Bjørnson, James Fenimore Cooper, Nikolai Gogol, Jerome Klapka Jerome, Rudyard Kipling, George Horace Lorimer, Sir Walter Scott, Jonathan Swift, Iwan Turgenew). Unter den elf Werken für den Bereich „Gewerbe, Technik“ widmeten sich zwei der Fotografie, andere waren deutlich technischer ausgerichtet und sprachen doch eher Spezialisten an: „Die Dampfturbine“ und vor allem die „Gemeinfassliche Darstellung des Eisenhüttenwesens“.

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Eine desolate Bestandsinventur zog Lotta Steinhaus zwei Wochen nach ihrer Einstellung; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,7Geschäftsstelle I, Nr. 146

Steinhaus´ Forderung war überdeutlich und herausfordernd. 1905 hatte der Lesehallenverein mit einem 4.327 Reichsmark betragenden Haushalt geplant: 1.500 RM steuerten Einzelmitglieder bei, 500 RM die Stadt, 100 RM der Staat und 500 RM der Fabrikantenverein, der Rest war Bestandsvermögen. Angesichts des geplanten Umzuges verplante der Verein die gesamten Haushaltsmittel, darunter 916,81 RM für Bücherbeschaffungen bis Anfang Mai 1905, 130 RM für Zeitschriften und immerhin weitere 810 RM zur „weiteren Ergänzung der Bibliothek“, was als Reserve für die Erwerbung verstanden werden kann. Ein Kassensturz des Lesehallenvereins offenbarte, dass die beantragten Mittel nicht vorhanden waren, zumal 800 RM für den bibliothekarischen Ausbau im Rathaus am Alten Markt notwendig waren. Es fehlten für das Beschaffen und das Bindenlassen der vorgeschlagenen Titel exakt 2.200 RM. Der Lesehallenverein wandte sich an seine bisherigen Spender und fügte dem Bittschreiben die Bedarfsliste an mit der Bitte, genau diese Bücher zu spenden: „Im Vergleich mit anderen Städten ist unsere Bücherei [im Entwurf war „Bibliothek“ gestrichen] noch außerordentlich mangelhaft.“ Man schielte nach Essen, wo die von Krupp bereitgestellte Bibliothek nicht weniger als 48.000 Bände zählte, ja selbst die Lüdenscheider Bibliothek hatte 18.000 Medien im Bestand. Das eigene Ziel definierte der Verein deutlich: „Die Verbreitung gutes Lesestoffs unter allen Schichten unserer Einwohnerschaft ist eine wichtige und dringliche Aufgabe, zu deren Erfüllung wir Ihre Hilfe erbitten.“ Die Aktion verlief enttäuschend, denn es trafen nur wenige brauchbare Bücher ein, die meisten waren veraltet, aus der Liste war nicht ein Titel übergeben worden. Es muss wohl einer Initiative Stapenhorsts zuzuschreiben sein, dass die Stadt einsprang. Der Magistrat bewilligte 1.000 RM nach und beschloss weitere 1.200 RM als außerordentlichen Zuschuss.

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Die Thekenbibliothek am Alten Markt – rechts Besuchertische mit ausgelegten Katalogen, 1912; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos, Nr. 21-3-7

Die Eröffnung verzögerte sich bis zum 1. Dezember 1905 möglicherweise auch deshalb, weil neue Bücher überhaupt erst beschafft und eingearbeitet werden mussten, um mit einem vorzeigbaren Bestand den erwarteten Publikumsansturm bewältigen zu können. Darüber hinaus war ein gedruckter Katalog einschließlich dieser Neuzugänge zu erarbeiten, der für Recherchezwecke ausgelegt werden sollte. Parallel wurden die Räumlichkeiten am Alten Markt bibliotheks- und lesehallengerecht umgestaltet. Aus den alten Bücherschränken wurden Regale, ein Zettelkatalog amerikanischen Systems und eine Ausleihe nach dem Muster der Krupp´schen Bibliothek in Essen vervollkommneten den Betrieb. Für eine Übernahme des revolutionären US-Systems einer Freihandbibliothek („open shelves“) war man in Bielefeld wie auch in anderen deutschen Bibliotheken noch nicht bereit. Es blieb deshalb bei der Thekenbücherei. Der Buchbestand war nicht frei zugänglich. Die notwendigen Satzungen regelten die Leihfristen und den Umgang mit den Büchern – das ist heute kaum anders. Irritierend lesen sich die charakterlichen Anforderungen an Nutzerinnen und Nutzer: „Die Benutzung der Volksbibliothek Bielefeld ist jeder unbescholtenen[!], in der Stadt wohnenden, über 16 Jahre alten Person“ kostenfrei gestattet. Angesichts des Pandemiegeschehens 2020 wirkt § 8 seltsam aktuell: „Bricht im Hause eines Entleihers eine ansteckende Krankheit aus, so hat er entliehene Bücher sofort an die Verwaltung abzuliefern, unter Angabe der Krankheit.“ Es war noch eine vom Credo der Aufsichtsverwaltung inspirierte Einrichtung, die weit in die Rechte ihrer Nutzerinnen und Nutzer eingreifen konnte.

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Die Satzungen der „Öffentlichen Bibliothek“, 1905; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,11/Stadtbibliothek, Nr. 1

Die Presseberichterstattung am 2. Dezember 1905 war recht zurückhaltend. Der Vortrag „Probleme der modernen Kultur“ von Prof. Dr. Eduard Heyck (1862-1941) im Saal der Eintracht am Eröffnungstag erregte in der „Westfälischen Zeitung“ größere Aufmerksamkeit als die Wiedereröffnung der Bücherei. Mehr noch: Die bürgerlichen Tageszeitungen waren von der Berichterstattung über den „Theaterskandal“ zwischen der Stadt und dem im Vorjahr verpflichteten Direktor Oskar Lange über die Inhalte des Theaterpachtvertrages dominiert. „Probleme der Kultur“ sind möglicherweise heutigen nicht ganz unähnlich, wenn der – vermeintliche – Skandal höhere Aufmerksamkeit genießt als Serviceverbesserungen, die medial als erwartbar gelegentlich hingenommen werden.

Die umfangreichste Berichterstattung lieferte, wohl nicht ganz zufällig, die sozialdemokratische Volkswacht, dazu noch unter dem alten Titel und vielleicht auch programmatisch zu verstehenden Stichwort „Volksbibliothek“. Während sich die bürgerliche Presse (Bielefelder Generalanzeiger, Neue Westfälische Volkszeitung) eher auf formale Fakten wie Ausleihvorgang, Öffnungszeiten und Buchbestand konzentrierten, kommentierte die Volkswacht das Sammlungsprofil anhand des 98-seitigen Kataloges auch kritisch: „der Arbeiter und der Wahrheit suchende Parteigenosse [werde] manches Wissenswerte in den einzelnen Abteilungen finden, immerhin hätte aber auch die Litteratur der modernen Arbeiterbewegung nicht ganz und gar übergangen werden dürfen.“ Gerade in den Bereichen Politik und Wirtschaftsleben „müssen auch möglichst alle Anschauungen und Richtungen zu Worte kommen“, denn nur so könnten die Besucher zur Orientierung über alle Themen und Ausbildung einer selbständigen Urteilsfähigkeit befähigt werden: „In dieser Hinsicht will doch wohl auch die Volksbibliothek Bielefeld über den Parteien stehen.“

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Der Katalog der „Öffentlichen Bibliothek“ umfasste 3.017 Titel, 1905; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle 1, Nr. 146

Der Katalog offenbarte das unterhaltend orientierte Sammlungsprofil, denn 44 der 94 Listenseiten entfielen auf die „Schöne Literatur“, elf auf „Jugendschriften, Sage, Märchen“, ganze fünf auf die Abteilung „Staat und Leben“, darunter zahlreiche Titel zu Gesundheit, Haushalt und Technik. Eine von der „Volkswacht“ geforderte Ausgewogenheit ist nicht gegeben und auch nicht zu ermitteln, da der Bestand bis auf wenige Ausnahmen keine tagespolitischen Titel listet, wenn man von Käthe Schirmachers „Die moderne Frauenbewegung“ (1905) sowie Gustav Maiers „Soziale Bewegung und Theorien bis zur modernen Arbeiterbewegung“ (1898), Werner Sombarts „Die gewerbliche Arbeiterfrage“ (1904), Franz Wilhelm Stahls „Die Arbeiterfrage sonst und jetzt“ (1872) und Max Wirths „Die sociale Frage“ (1872) absieht. Maier jedoch war Bankier, Sombart galt als national-konservativ, die Bücher Stahls und Wirths mussten als veraltet erkannt werden. Das war wohl auch der „Volkswacht“ aufgefallen, die trotz schmaler Erwerbungsmittel die Hoffnung hegte, dass die Bibliothek entsprechend ergänzt werde. Das lag allerdings nicht im Interesse der bürgerlichen Initiatoren, die doch den Arbeiter von sozialistischer Agitation, wie es seinerzeit hieß, durch Lektüre und Bildung ablenken wollten. Wer sollte das geforderte aufklärerische und ausgewogene Medienangebot finanzieren, wer hatte hieran überhaupt ein Interesse außer der Arbeiterschaft, den Gewerkschaften und der SPD? Schenkungen in diese Richtung sind freilich ebenfalls nicht erkennbar. Nur ansatzweise programmatisch kommentierend berichtete die Westfälische Zeitung am 2. Dezember 1905, indem sie die Hoffnung aussprach, dass eine intensiv genutzte „öffentliche Bibliothek“ und die Lesehalle eine Publikumswürdigung erführen, „die sie als Stätten der Volksbildung mit Recht beanspruchen können“. Gleichzeitig appellierte das Blatt an die „finanziell leistungsfähigen Bürger“, weitere Mittel für beide Institute zu überlassen – auch da war kaum mit Schenkungen zu rechnen, die einen ausgewogenen Bestand herstellen konnten.

Der Auftaktmonat zeigte bereits einen deutlichen Anstieg der Nutzungsfrequenz. Von Januar bis Juni 1905 wurden am alten Standort zusammen exakt 1.199 Bände entliehen, im ersten Öffnungsmonat (Dezember) dagegen bereits 1.811 im Januar 1906 gar 3.624, im März 4.041. Der Tagesdurchschnitt entliehener Medien sprang von 6,6 (1-6/1905) auf 130,77 (12/1905 bis 3/1906) – eine Zunahme um 1.881,36 %! Alle Erwartungen dürften übertroffen worden sein. Dieser Erfolg unterstrich Lotta Steinhaus´ Appelle nach einer wesentlichen Vermehrung des Bestandes. Die Stadt berichtete dem Regierungspräsidenten im Januar 1906 bereits: „Der Erfolg nach der Wiedereröffnung […] überstieg die kühnsten Erwartungen.“ Doch muss hier unterschieden werden zwischen dem Betrieb der Lesehalle, die seit dem 1. Oktober 1905 wieder geöffnet war, und dem der Volksbibliothek, die zwei Monate später eröffnete. Beide Einrichtungen verzeichneten hinsichtlich ihrer Frequentierung deutlich gegenläufige Tendenzen. Von November 1905, dem letzten Öffnungsmonat ohne Öffentliche Bibliothek im Haus, bis März 1906 nahm die Lesehallen-Nutzung sogar um 3,4 % ab. Daran änderte auch das „durch zweckmäßige Einrichtungen freundlichere[s][ Aussehen“ nichts, die der Verwaltungsbericht der Stadt Bielefeld 1905 hervorhob. Von der Bücherei-Wiedereröffnung profitierte die Lesehalle kaum, da das Publikum nunmehr die entliehenen Medien zumeist mit nach Hause nahm. Die von Bibliotheken des 21. Jahrhunderts für sich reklamierte Funktion als „Drittem Ort“ (nach Ray Oldenburg) neben Familie und Beruf war noch nicht entwickelt, gediegene Aufenthaltsqualität ein Fremdwort. Der Lesehallenverein machte später die ungastliche Einrichtung der Lesehalle für den Rückgang verantwortlich, so dass diese zum 1. Januar 1907 schloss.

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Im ehemaligen Oberbürgermeister-Amtszimmer (Zustand 1904) war die Lesehalle deutlich ungemütlicher untergebracht als der Verwaltungschef – sie schloss bereits zum 1. Januar 1907; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos, Nr. 11-44-4

Der Ausleih-Zuspruch indes war enorm. Die von Lotta Steinhaus im Mai 1906 vorgelegten Zahlen sprachen für sich: Die Entleihungen stiegen vom Eröffnungsmonat bis März 1906 um 237,03 % – „der Bücherbestand ist nicht ausreichend und unterliegt einer ganz unverhältnismäßig starken Abnutzung und einem raschen Verbrauch.“ Die Ausleihquote stieg auf rund 65 % gleichzeitig. Die Stadtverordnetenversammlung bewilligte im August tatsächlich eine von Steinhaus beantragte Summe von 3.000 RM. Dem vorausgegangen waren u. a. zwei Leserbriefe in der Westfälischen Zeitung. „Einer für Alle“ führte den aktuellen Besucherrückgang am 21. Juli 1906 auf das gute Sommerwetter zurück, aber vor allem auf den „Mangel an guten Büchern“. Zwei Drittel seien entliehen, der Rest nur zum „Staubfangen“ da. Aus purer Verzweiflung entleihe man irgendetwas, was einen „nicht auf den ersten Blick anödet“ – „Solche Zustände sind aber doch ganz und gar unhaltbar und nur dazu angetan, jedem die Lust zum Benutzen der Bibliothek zu nehmen“. Entweder man lasse „die ganze Bibliothek fahren (auf dem Wege dazu wäre man ja!)“ oder es folgten Finanzspritzen, die angesichts anderer, unnötig erscheinender Ausgaben möglich erschienen. Dieser Vorwurf war nicht ganz von der Hand zu weisen, denn während die Bibliothek 1905 ursprünglich von der Stadt etatmäßig nur 500 RM für Neuanschaffungen erhalten sollte, verausgabte dieselbe für die Veröffentlichung des von Provinzialkonservator Albert Ludorff (1848-1915) vorgelegten Bau- und Kunstdenkmäler-Bandes für die Stadt Bielefeld sogar 600 RM, womit eher ein bildungsbürgerliches „Hochkultur“-Publikum bedient wurde.

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Die Besucherperspektive: Die Bücherausgabe mit einer Andeutung von Bücherregalen im Hintergrund; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos, Nr. 21-3-6

Die folgenden Jahre bestätigten die Aufwärtsentwicklung der Bibliothek hinsichtlich Bestand und Nutzung. 1913 ging sie vom Lesehallenverein in die Obhut und Organisation der Stadt über. Im Geschäftsjahr 1918/19 standen 21.276 Bände zur Verfügung und wurden 137.014 Ausleihen registriert. Jedes Buch wurde damit 6,44 Mal entliehen – 100 Jahre später lag der Wert der bei 1,93. Vergleichbar sind die Zahlen nicht, aber sie deuten an, mit welchen z. T. primitiven Mitteln und unter widrigsten Umständen (Erster Weltkrieg, kommunale Finanznöte, wirtschaftliche Krisen) doch mehr als respektabler Service geboten wurde, um das Publikum zu bedienen. Nicht messbar war dagegen die Qualität des Buchbestands.

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Gefüllte Bücherregale zeigte die Bibliothek nicht immer, da die Ausleihquoten erheblich waren; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos, Nr. 21-3-6

Umso persönlicher getroffen war Lotta Steinhaus offensichtlich von der herben Kritik eines Dr. Adolf Kuhnert, die die Westfälischen Neuesten Nachrichten am 4. Juni 1919 abdruckten. Seine Einlassungen waren möglicherweise vom „Bibliothekarischen Richtungsstreit“ (bevormundungsfreie Unterhaltungsbibliothek vs. erziehend wirkende Volksbildungsbibliothek) inspiriert, der sich nach Erscheinen von Ladewigs Buch „Politik der Bücherei“ 1912 entzündet hatte und bald 20 Jahre andauern sollte. Kuhnert legte hohe Erwartungen an das Buch und die Bibliotheken, die günstigere und schnellere Zugänge zum „höheren geistigen Leben“ vermittelten, als Theater, Konzerte, Vorträge und Museen: „Sie ist heutzutage die Bildungszentrale einer Stadt, hinter der alle Pflegestätten des Geistes ohne Ausnahme in diesem oder jenem Sinne zurückstehen. Man kann sie also garnicht zu wichtig nehmen. Das Bielefelder Publikum drängt sich denn auch zu seiner ´öffentlichen Bibliothek´ im alten Rathause in Massen.“ Aber Kuhn erkannte Probleme der Bibliothek, die die Stadt oder das Personal verantworteten: „ein bischen sehr primitiv, gedrückt und behelfsweise untergebracht“, „die paar Zimmer […] doch allzu ärmlich“, gewünschte Bücher, zumal die wenigen, die einen „objektiven Litteraturwert“ haben, „stets verliehen“, Buchbestand „ganz unzureichend“ – also: „blos ein ganz kleines Bibliothekchen, eine Miniatur- und Westentaschenbibliothek“, während Bielefeld sich gleichzeitig ein ausgezeichnetes Theater leiste. Kuhnert kritisierte aber auch das Sammlungsprofil: „Das Erstaunlichstes ist die Auswahl der Bücher“. Offensichtlich prägten Gelegenheitsgeschenke und abgelegte „Schmöker“ den Bestand, nicht aber eine fachmännisch-systematische Zusammenstellung. Manche Autoren seien nur mit Nebenwerken vertreten, von Zeitschriften lediglich Einzelausgaben vorhanden, der Katalog offenbare „obskure, nicht einmal mehr dem plattesten Unterhaltungsbedürfnis genügende Makulatur, die sich am besten beim Altpapierhändler aufhielte. Was es damit auf sich hat, weiß ich nicht. […] Jedenfalls ist das kein Zustand.“ Auch organisatorisch bemängelte er einiges: kein Lesezimmer, das ja mangels spürbarem Interesse 1907 geschlossen worden war, und – diese Vorwürfe trafen nicht zu – keine Informationen über Neuanschaffungen und keine ausgelegten Wunschlisten.

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Der Aufgang zur Öffentlichen Bücherei am Alten Markt, 1912; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos, Nr. 11-44-50

Folgen hatte diese singuläre, aber vor allem ungerechte und z. T. auch unrichtige Kritik nicht, denn Lotta Steinhaus war eine bemerkenswerte Aufbauleistung und Verankerung der Bibliothek in der Stadtgesellschaft gelungen. Noch 1919 wurde sie verbeamtet, womit auch ihr Einsatz für die Bibliothek gewürdigt schien. Ihre Stellungnahme an den Bürgermeister atmete Enttäuschung und Verärgerung und vor allem eine innere Verbundenheit mit „ihrer“ Bibliothek, für deren Organisation, Bestand und Service sie persönlich stand. Lotta Steinhaus blieb für die Stadtgesellschaft das Gesicht der Stadtbibliothek, war in zahlreichen Fachverbänden und Kulturvereinen aktiv und gehörte bis 1933 der nationalliberalen DVP an. Als sie am 14. März 1938 bei NSDAP-Oberbürgermeister Fritz Budde (1895-1956) aus gesundheitlichen Gründen ihre vorzeitige Entlassung beantragte schloss sie mit den Worten: „Ich möchte nicht unterlassen zu erwähnen, dass ich meine Arbeit stets gern getan habe“.

 

Quellen:

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 145: Volksbibliotheken, 1902-1926
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,1/Geschäftsstelle I, Nr. 146: Öffentliche Lesehalle, 1897-1913
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, Nr. A 1337: Personalakte Lotta Steinhaus, 1905-1944
  • Stadtarchiv Bielefeld, Best. 107,11/Stadtbibliothek, Nr. 1: Geschäftsführung, 1905-1944
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,5/Bauordnungsamt, Hausakten, Nr. 3615: Hausakte Niederwall, 1886-1961; Enthält u.a.: Volkskaffeehaus
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos: Nr. 11-44-4, 11-44-50, Nr. 21-3-5, 21-3-6, 21-3-7, 21-3-8 u. 61-19-73
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 5: Bielefelder General-Anzeiger v. Dezember 1905; Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 4. Juni 1919; Nr. 20: Neue Westfälische Volks-Zeitung v. 1. Dezember 1905; Nr. 39: Volkswacht v. 2. Dezember 1905; Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 2. Dezember 1905;

Literatur

  • Engels, Walter, Das Büchereiwesen Bielefelds, in: Eduard Schoneweg (Bearb.), Das Buch der Stadt, Bielefeld 1926, S. 133-138
  • Frenz, Claudia, Zur Geschichte von Bibliotheksgesellschaften in Deutschland von 1895 bis 1930. Das Beispiel des Lesehallenvereins Bielefeld und des Hammer Büchereiausschusses, Hausarbeit am Bibliothekar-Lehrinstitut des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln 1980
  • Jagenburg, Paul, 50 Jahre Stadtbücherei Bielefeld, hg. von der Stadtbücherei Bielefeld, Bielefeld 1955
  • Jahres-Bericht über den Stand und die Verwaltung der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt Bielefeld für 1905, Bielefeld 1906
  • Pilzer, Harald/Harald Puhlmann, Nichts ist beständiger als der Wandel. Hundert Jahre Stadtbücherei Bielefeld 1905-2005, in: Prolibris 2006, H. 2, S. 51-57
  • Pilzer, Harald, Bürgerliches Wohlfahrtsdenken und kommunale Bildungspolitik. Die Anfänge des öffentlichen Bibliothekswesens im wilhelminischen Bielefeld 1897 bis 1906, in: Ravensberger Blätter 2008, Heft 1, S. 24-50
  • Ders., „Ich möchte nicht unterlassen zu erwähnen, dass ich meine Arbeit stets gern getan habe“ – Die Bibliothekarin Charlotte „Lotta“ Steinhaus (1878-1944), in: Bärbel Sunderbrink (Hg.), Frauen in der Bielefelder Geschichte, Bielefeld 2010, S. 123-133

Erstveröffentlichung: 01.12.2020

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 1. Dezember 1905: Eröffnung der Öffentlichen Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2020/12/01/01122020, Bielefeld 2020

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