12. August 1835: Gründung des Verlags Velhagen & Klasing

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

Einem „geehrten Publikum“ zeigte der Buchhändler August Velhagen (1809-1891) in den Öffentlichen Anzeigen der Grafschaft Ravensberg vom 19. August 1835 an, dass August Klasing (1809-1897) eine Woche zuvor als Sozius in sein Geschäft eingetreten sei. Das seit 1832 bestehende Geschäft führe nunmehr den Namen „Velhagen & Klasing“. Gleichzeitig schaltete das junge Buchhändler-Duo unter der neuen Firma ein Inserat mit Titeln aus ihrer Leihbibliothek, die vielleicht nicht ganz zufällig die nebenstehende Anzeige von Julius Helmich für dessen Leihbibliothek in den Schatten stellte. Helmich hielt, nach eigener Aussage, zwar 8.000 bis 9.000 Bände vor, während die Kompagnons erst knapp 2.900 zählten, aber der vermeintlich kleinere Konkurrent bewies schnell eine enorme Dynamik und bald Mut zur profitablen Diversifizierung.

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August Velhagen (1809-1891); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-22-20

Die beiden Partner einte nicht nur das Interesse am Buch. Sie waren ein Jahrgang und hatten gemeinsam das Ratsgymnasium zu Bielefeld besucht. August Velhagen war am 4. Oktober 1809 in Quernheim geboren – sein Vater war örtlicher Stiftsamtmann. Nach dem Besuch das Bielefelder Gymnasiums, wo er eine Schüler-Lesegesellschaft erfolgreich geleitet hatte, und Militärpflichtleistung schloss der offensichtlich recht zielstrebige Velhagen 1831 in Frankfurt am Main eine dreijährige Buchhändlerlehre ab. Im Folgejahr ließ er sich in Bielefeld als Buchhändler nieder. Diese Entscheidung war nicht draufgängerisch, aber doch beherzt, schließlich gab es bereits die 1817 gegründete Buchhandlung Helmichs, der vergeblich versuchte, Velhagens Neuansiedlung zu verhindern. Bereits im September 1834 konnte Velhagen am Alten Markt – im Herzen der Altstadt und gegenüber vom damaligen Alten Rathaus – das sog. Battigsche Haus (Alter Markt Nr. 3) erwerben. Das war eine selbstbewusste Botschaft, die der kaum 25-Jährige aussandte.

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Das Battig´sche Haus am Alten Markt war bis 1847 Verlagssitz; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen & Klasing, Nr. 145

Bei einem geschätzt vielleicht 300-köpfigen kaufkräftigen und leseinteressierten Publikum musste niemand einen prompten Erfolg erwarten. Umso gelegener kam die Finanzspritze seines ehemaligen Mitschülers August Klasing, der am 12. August 1835 in das Geschäft eintrat und 2.250 Taler aus dem 5.000 Taler betragenden väterlichen Erbe einlegte. Der am 8. Oktober 1809 in Bielefeld geborene August Klasing war der Sohn eines Knochenhauers und Kornhändlers, folgte aber zu dessen Leidwesen diesem beruflich nicht, sondern absolvierte 1825 bis 1829 eine Buchhändlerlehre in Chemnitz, der Gehilfen- und Soldatenjahre in Leipzig, Mainz und Bonn folgten. Dem seit Schulzeiten als etwas unentschlossen geltenden Klasing schwebten diverse Städte in Westfalen vor, um dort eine eigene Buchhandlung zu eröffnen, bis der Plan reifte, sich ausgerechnet in Münster niederzulassen, wo es bereits etliche Konkurrenten gab. Velhagen redete seinem alten Schulkameraden diesen kühnen Plan aus und gewann ihn für das Projekt eines gemeinsamen Geschäfts in Bielefeld, wo wenige Monate zuvor der öffentliche Disput um Jacob Diedrich Kurlbaum (1796-1870) beendet worden war, der trotz zweimaliger Wahl nicht ins Bürgermeister-Amt gelangte. Am 12. August 1835 unterzeichneten Velhagen und Klasing einen „Societäts-Vertrag“, der als Grundstein für eine beispiellose Bielefelder Verlags-Erfolgsstory gilt.

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August Klasing (1809-1897); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-11-121

Die folgenden Jahrzehnte bewiesen einerseits die Richtigkeit der Entscheidung für ein geschäftliches Zusammengehen, andererseits aber auch, dass diese Zusammenarbeit mit einem eigentlich recht fruchtbaren System aus regionalem Lesezirkel, einer Buchhandlung und angeschlossener Leihbibliothek auf Dauer nicht zum gewünschten durchschlagenden Erfolg führen konnte. Einträgliche Renditen versprachen Verlag und Druck, weshalb die beiden früh auf eine Diversifizierung mit sich schrittweise entwickelnden geradezu konzernartigen Strukturen setzten. Noch 1835 erwarben sie – wahrscheinlich mit dem eingelegten Kapital Klasings – eine Handpresse und legten den Grundstein für eine Druckerei. Das junge Duo war kreativ und mutig – und setzte im ersten Jahrzehnt mehrfach auf die richtige Karte.

Zwei Monate nach der Geschäftsgründung gelang Velhagen ein, wenn auch verhältnismäßig teuer erkaufter, aber doch beachtlicher Coup, als er in Jena den Literaturprofessor Oskar Ludwig Bernhard Wolff (1799-1851) als Herausgeber für ein Zeitschriften-Projekt gewann, das dem verbreiteten, populärwissenschaftlichen Pfennig-Magazin verlegerisch sehr ähnelte, aber literarisch ausgerichtet war. Wolff war ein talentierter und bekannter Rezitator und Improvisator, der vielleicht nicht die strenge Zunft der Germanisten zu überzeugen wusste, dafür aber als Vielschreiber mit gutem Gespür für das Publikumsinteresse erfolgreich war. Mit Wolff als Herausgeber gewann „VK“ ein Zugpferd für das erste verlegerische Wagnis, das Musée français. Wie es der Untertitel ausdrückte, vereinigte die Reihe moderne Texte und Klassiker aus Frankreich: „Choix der littérature, tiré des meilleurs auteurs, tant anciens que modernes“. Von Wolff ausgewählte und von Dr. Carl Wilhelm Schütz (1805-1892), seit 1834 Englisch- und Französischlehrer am Bielefelder Ratsgymnasium, arrangierte Texte fanden den erhofften Zuspruch. Die als Wochenschrift von Wolff herausgegebene Anthologie traf den Kulturnerv des Bildungsbürgertums und wurde zum ersten großen Wurf der jungen Verleger. Im Auftakt-Jahrgang, dessen achtseitigen Einzelausgaben von der Aufmachung recht unspektakulär wirkten, publizierte Wolff u. a. Texte von Alexandre Dumas, dem bereits sehr erfolgreichen Victor Hugo, der 1831 mit einem Debutroman aufgetretenen George Sand und des Romantikers Alfred de Vigny, einige davon als Fortsetzungsgeschichten. Es dominierten junge Autorinnen und Autoren, deren Texte moralisch und politisch provozierend wirken konnten, aber den Beifall des Publikums fanden. Die 52 Einzelausgaben erhielten erst durch ein Jahresdeckblatt eine gewisse Ansehnlichkeit, wobei die Erwerber die Hefte in der Regel binden ließen. Wolff gelang in den nächsten Jahren auch unter dem verlegerischem Druck Klasings das Kunststück, unaufhörlich bekannte und vielversprechende französische Autoren und neuartige Texte zu ermitteln.

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Jahrestitelblatt des Musée français aus dem Verlag Velhagen & Klasing; Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Bestand „VK“, Nr. 4681

Der außerordentliche Erfolg des Musée français animierte VK zu einer englischsprachigen Zeitschrift gleichartiger Konzeption und identischer Aufmachung. Das British Museum vereinigte wochenweise englischsprachige Texte, die das eingespielte Duo Wolff-Schütz publizierte. Unter den Autoren des ersten Jahrgangs war, kaum überraschend, der 1824 verstorbene George Gordon („Lord“) Byron zunächst mit seinem Gedicht (The) Darkness, das im Jahr ohne Sommer 1817 erstveröffentlicht worden war: „Morn came, and went – and came, and brought no day“. Mit diesen beiden Heftreihen etablierten sich die jungen Verleger aus Bielefeld am Buchmarkt und konnten 1837 erstmalig die Leipziger Ostermesse mit eigenen Produkten besuchen.

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Jahrestitelblatt des British Museum aus dem Verlag Velhagen & Klasing; Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Bestand „VK“, Nr. 4679

Diese Basis an verlegerischem Erfolg animierte neue Vorhaben, obwohl das Unternehmen noch immer nicht auskömmlich arbeitete. Erst die Einrichtung eines neuen Geschäftszweigs durch die Übernahme einer Colonia-Versicherungsagentur für den Kreis Bielefeld 1839 durch Velhagen sicherte VK notwendige Liquidität, dennoch war die Entwicklung eher verhalten. Die Wochenschriften wurden gelegentlich überholt, erhielten neue Titel, blieben aber immer noch eine zuverlässige Einnahmequelle. Bis 1843 erschienen neben den Zeitschriften gerade einmal 28 Titel, darunter 1842 zwei Ansichten von Bielefeld von Otto Reinhold Jacobi (1812-1901) und Polymele. Eine Sammlung von Gesang-Duetten und Terzetten von Heinrich Aloys Praeger (1783-1854), der am 31. März 1820 das erste Konzert des Bielefelder Musikvereins dirigiert hatte. Auch der Anthologien-Redakteur Schütz publizierte wiederholt im Verlag und konnte dabei 1843 der Übersetzung Magha´s Tod des Çiçupula sein Sanskrit-Expertentum beweisen, das ihm eine Ehrendoktorwürde in Jena beschert hatte.

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Westansicht Bielefelds, 1842; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 165: Lithographie nach einer Zeichnung von Otto Reinhold Jacobi (1812-1901), 1842

Erst 1851 gelang den Kompagnons die entscheidende Trendwende, als erstmalig ein positives Geschäftsergebnis verzeichnet werden konnte. Bis dahin waren die Verlagserträge wiederholt von denen aus den Feuerversicherungen übertroffen worden, jetzt stabilisierte sich das vormals volatile Verlagsgeschäft, das sich von 1849 bis 1860 um knapp 570 % verbesserte, und auch die Druckerei drehte deutlich ins Plus. Gleichzeitig zogen die Entnahmen der beiden Eigentümer nur um rund 120 % auf 5.742 Taler an. Leihbibliothek und Journallesezirkel waren von Anfang an nur ein Nebengeschäft, das „Sortiment“, also die Buchhandlung, zeigte über Jahre hinweg eine Seitwärtsbewegung, die erst 1859/60 durch 60%-Steigerungen abgelöst wurde. Die Jahrzehnte ab 1850 waren durch erfolgreiche Verlagspublikationen geprägt, die wiederholte Neuauflagen bei steigenden Stückzahlen verzeichneten. Drei thematische Standbeine wurden in dieser Zeit ausgebaut: Haushaltsratgeber, Religion und Pädagogik. Der Schulbuch-Sektor hatte seinen Ursprung in den Zeitschriften Musée français und British Museum und gewann mit der Herausgabe von Textausgaben und Lektürebändchen ebenso Auftrieb wie mit Lehrbüchern beispielsweise von Friedrich Adolph Diesterweg (1790-1866).

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Henriette Davidis (1801-1876), Autorin des Praktischen Kochbuchs; Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Bestand „VK“, Nr. 5734

„Schon wieder die Zahl der Kochbücher vermehrt?“, lautet der selbstkritisch anmutende Auftakt des Vorworts zum Verlagsbestseller aus der Feder einer Frau. Bemerkenswerterweise fand dieses Erfolgskapitel des Verlages im 1910 erschienenen Artikel der Allgemeinen Deutschen Biographie zu Velhagen & Klasing von 1910 mit keiner Silbe Erwähnung. Henriette Davidis (1801-1876), eine Erzieherin an einer Mädchenarbeitsschule in Sprockhövel, veröffentlichte 1845 erstmalig ihr Praktisches Kochbuch – freilich unter einem anderem, geradezu barock gedehnten Titel und vor allem laut Innentitel nicht bei Velhagen & Klasing. Da Kochbücher nichts Neues und auch seit Jahrzehnten verbreitet waren, hatten die Bielefelder Verleger zu einem cleveren Vermarktungstrick gegriffen. Sie boten regionalen Buchhändlern an, auf dem Innentitel ihren Firmennamen eindrucken zu lassen, was einen Kaufimpuls beim lokalen Publikum auslösen konnte, zugleich aber auch die Abnehmer in die Pflicht nahm, die übernommenen Exemplare abzusetzen. Dieses Verfahren zündete, denn die Auflage stieg von 1.000 (1844) auf 12.000 (1859/60). Viel eindrücklicher sind jedoch die Gewinnanteile des Kochbuchs an der Gesamtbilanz: von 0,1 % (1844) bis zu einem Spitzenwert von 44 % (1858) – von 1845 bis 1866 machte es durchschnittlich 21,95 % des Unternehmensgewinns aus! Die Autorin selbst hatte es, wie so viele andere auch, versäumt, sich Urheberrechte und eine angemessene Gewinnbeteiligung zu sichern. Nach der Erstvergütung von 450 Talern 1844 erhielt sie bei Neuauflagen erst 50, später bis zu 200 Taler, während der Verlag satte Gewinne einstrich.

Das Verhältnis zwischen der Erfolgsautorin und den Verlegern – Klasing warf sie „engherzige[s] Verhandeln“ vor – verschlechterte sich angesichts steigender Absatzzahlen von Auflage zu Auflage. Im Oktober 1865 wandte sich eine verbitterte Davidis an ihre Verleger: „Gänzliche Unkunde in solchen Sachen, wie sie mir damals eigen war, konnte nur auf einen Contrakt wie der unserige eingehen, und diese Unkunde war es, die von Ihnen benutzt wurde. Müßte ich nicht von einem so durch alle Volksschichten gehenden Werke leben können? Zwar ist hierbei Ihre Betriebsarbeit nicht in Abrede zu stellen, der Hauptgrund des Glückes, welches das Buch gemacht hat, liegt in dem Werke selbst. Meine Kräfte aber sind […] in der That ein Opfer des Kochbuches geworden.“ Auf Wunsch der Verleger habe sie wiederholt Überarbeitungen und Erweiterungen vorgenommen, „als wäre dies Alles für mich selbst, wodurch das Buch zum Volksbuche geworden ist, was Sie Selbst recht gut wissen und worum jedem Andern ein Vergleich mit der ersten Aufl. Zeugniß gibt. […] Und das Alles ohne Gewinn – während Sie, meine Herren, die reichen Früchte meiner Mühen genießen“. 1867 endlich zahlte VK für die Neuauflage 300 Taler und für die 20., erheblich erweiterte Auflage einmalig 1.000 Taler. Ein halbes Jahrhundert blieb das Praktische Kochbuch, abgesehen von kurzzeitig beigegebenen Davidis-Porträts nach ihrem Tod, unbebildert. Erst 1898 lieferte die 37. Auflage einfache Skizzen zum „Vorschneiden des Fleisches“. In der folgenden Jahrhundertauflage von 1900 gab es erstmalig die drolligen Zwerge des Illustrators Fritz Reiss zu sehen (1857-1915), die die Kapitelüberschriften dekorierten.

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Henriette Davidis beklagte sich mehrfach bei den Verlegern über ein geringes Honorar für das Praktische Kochbuch. Brief v. 19. Oktober 1865; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen & Klasing, Nr. 312

Die theologischen Verlagserzeugnisse trugen anfangs einen lokal-regionalen Charakter und beschränkten sich zumeist Predigten und Synodalvorträge und andere praktische Ratgeber für die Gemeindearbeit. Ab 1842 setzte VK auf Publikationen überörtlicher Bedeutung und Wirksamkeit, nachdem eine Koran-Übersetzung und Ausgaben des Catechismus Romanus und des Concilium Tridentinum den Verlag jenseits Westfalens bekannter gemacht hatten. Im Winter 1844 starteten gleich zwei neue Verlagsreihen. Die schließlich 48 Hefte umfassende Sonntags-Bibliothek stellte Biographien bedeutender Vertreter des Protestantismus vor, die Polyglottenbibel war auf den ersten Blick nicht mehr als eine mehrsprachige und -spaltige Bibel-Ausgabe, was eigentlich schon seit Jahrhunderten immer wieder angeboten worden war. „Die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments in übersichtlicher Zusammenstellung des Urtextes, der Septuaginta, Vulgata und Luther-Übersetzung, sowie der wichtigsten Varianten der vornehmsten deutschen Übersetzungen“ war vom Barmener Pastor Rudolf Stier (1800-1862) und dem Dresdner Theologen Karl Gottfried Wilhelm Theile (1799-1854) jedoch kompetent redigiert, mit einer erstaunlichen Zuverlässigkeit herausgegeben worden und wandte sich an Theologen, Forscher, Studenten und Laien. Nach anfänglichen Absatzschwierigkeiten der Einzelbände ging das Neue Testament schon 1849 in die 2. Auflage. Die Edition des Alten Testaments dagegen verzögerte sich mehrfach, nicht zuletzt wegen eher verhaltener Bestelleingänge. Diese wurden erst durch Aufträge institutioneller Käufer aus dem Ausland aufgefangen, so dass die Bielefelder Polyglotte 1855 abgeschlossen werden konnte.

Die Bielefelder Polyglotte, Ausgabe 1875; Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Bestand „VK“, Nr. 4698

Gleichwohl stellte der Fund des Codex Sinaiticus im Mai 1844 und dessen schrittweise Veröffentlichung das Polyglotten-Gesamtwerk in Frage. Lobegott Friedrich Konstantin von Tischendorf (1815-1874) hatte im Katharinenkloster auf dem Sinai die älteste vollständige Abschrift des Neuen Testaments und weiter Teile des Alten Testaments entdeckt und nach Russland verbracht. Klasing gelang es, die neuen Textvarianten und Erkenntnisse unter Mitarbeit Tischendorfs in Neuauflagen zu integrieren, ohne die Druckvorlagen vollständig ersetzen zu müssen. Die schnelle Einarbeitung neuester Forschungsergebnisse sicherte der Polyglotten bis zum Jahrhundertende eine nahezu unangefochtene Position.

Ermutigt gingen die Verleger das nächste Projekt an, das aber in einem jahrelangen Streit zwischen Urhebern, kirchlichen Gremien und dem Konkurrenzverlag Bertelsmann in Gütersloh zu versumpfen drohte. Das städtische Waisenhaus in Bielefeld war Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Druck des Minden-Ravensbergischen Gesangbuch privilegiert worden, zuletzt war die Druckerei J.D. Küsters Witwe Nutznießer. 1849 legte der Löhner Pfarrer Friedrich August Weihe eine vollständige Neubearbeitung vor, verstarb aber noch bevor die eingesetzte Kommission der Kreissynoden Minden und Ravensberg zu einem abschließenden Urteil kamen. Der nachfolgende Streit zog sich bis 1852, erst dann erschien bei VK das Christliche Gesangbuch für die evangelischen Gemeinden des Fürstenthums Minden und der Grafschaft Ravensberg.

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Die Titelvignette der Daheim-Erstausgabe ist mit familienidyllischen Darstellungen programmatisch; Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Bestand „VK“, Nr. 6901

1864 gründeten die Gesellschafter in Leipzig eine Zweigniederlassung. Dort kehrten sie zu ihren Wurzeln der Wochenschriften zurück, dieses Mal allerdings mit einer eher politisch angeregten Ausrichtung bei wenig übertriebenem intellektuellen Anspruch. 1862 war eine rheinische Interessentengruppe an VK herangetreten, um einen Gegenpol zur liberal-laizistisch-sozialkritisch-volksaufklärerischen Gartenlaube zu publizieren, die 1861 die Schallmauer von 100.000 Druckexemplaren durchbrochen hatte und 1875 sogar eine Auflage von 382.000 Exemplaren erreichte. Das von 1864 bis 1944 bei VK erscheinende Familienblatt Daheim dagegen war von Anfang an christlich-konservativ geprägt. In der Zeitschrift Daheim sollte Klasing zufolge die „Zucht christlicher Gesittung“ wohnen. Zu einem echten Konkurrenzblatt entwickelte sich die Wochenzeitung Daheim nicht – sie blieb bei bis zu 30.000 Exemplaren stecken und profitierte auch nicht vom Verbot der Gartenlaube 1863 bis 1866. Bildungsbürgerlich und damit Daheim nicht unähnlich ausgerichtet waren später Velhagen und Klasings Monatshefte (1886-1944).

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Ab 1847 residierte der Verlag an der Bielefelder Obernstraße 40/42; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen & Klasing, Nr. 145

Bis zum Tod Velhagens (1891) und Klasings (1897) gelangen dem Verlag weitere bedeutende unternehmerische Schritte, insbesondere mit der 1873 gegründeten Geographischen Anstalt Velhagen und Klasing, die vorzüglich aufgemachte Atlanten für Forschung und Schule produzierte. Die Leitung lag beim 1872 eingetreten, unternehmerisch talentierten und ideenreichen, aber früh verstorbenen Otto Klasing (1841-1888). Der Schulbuchsektor wurde neben der Abteilung Theologie zur tragenden Säule des Verlags. Darüber hinaus veröffentlichte er weiterhin illustrierte und bibliophile Monographien und Buchreihen zur Literatur-, zur Kunst- und zur allgemeinen Geschichte und gab damals zeitgemäße patriotische Werke heraus. Das breite Verlagsprogramm war Grundlage für den Weltruhm, der 1835 am Alten Markt seinen Ursprung hatte.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen & Klasing, Nr. 89: Abgelegte Verlags-Strazzen, Bd. I, 1833-1876
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen & Klasing, Nr. 167: Dr. Carl Wilhelm Schütz; Enthält: Redaktionsverträge, 1836, 1839, 1846, 1849
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen & Klasing, Nr. 145: Fotos zur Verlagsgeschichte, 1835-1942
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen & Klasing, Nr. 312: Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, Bielefeld, 1844-1920
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 46: Öffentliche Anzeigen der Grafschaft Ravensberg v. 19. August 1835
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-11-121 (August Klasing) u. 61-22-20 (August Velhagen)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 165: Bielefeld vom Johannisberge aus, Lithographie nach einer Zeichnung von Otto Reinhold Jacobi (1812-1901), 1842
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 166: Bielefeld vom Steinwege aus, Lithographie nach einer Zeichnung von Otto Reinhold Jacobi (1812-1901), 1842

Literatur

  • 100 Jahre 1835-1985 Velhagen & Klasing 1835-1935, Berlin 1985
  • Köhne, Roland, Dr. Carl Wilhelm Schütz (1805-1892). Ein namhafter Gelehrter im alten Bielefeld, in: Ravensberger Blätter 1988, Heft 1, S. 1-8
  • Köster, Bernard E., Der Verlag Velhagen und Klasing. Ein Wegbereiter des schönen Buches“, in: ders. (Hg.), Ex Bibliothecis Westfalicis. Von Bibliotheken, Büchern, Bibliophilen und ihren Exlibris in einer europäischen Kleinlandschaft, Wiesbaden 1997, S. 49-54
  • Methler, Eckhard/Walter Methler, Henriette Davidis, Biographie – Bibliographie – Briefe (Veröffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums, Bd. 10), Wetter 2001
  • Meyer, Horst, Velhagen & Klasing. Einhundertfünfzig Jahre 1835-1985, Berlin 1985
  • Tabaczek, Martin, August Klasing (1809-1897), in: Jürgen Kocka/Reinhard Vogelsang (Hg.), Bielefelder Unternehmer des 18. bis 20. Jahrhunderts (Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 14), Münster 1991, S. 111-125
  • ders. , Kulturelle Kommerzialisierung. Studien zur Geschichte des Verlages Velhagen & Klasing 1835-1870 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3; Bd. 976), (Diss. Essen 2001) Frankfurt/M. 2003

Erstveröffentlichung: 01.08.2020

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 12. August 1835: Gründung des Verlags Velhagen & Klasing, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2020/08/01/01082020, Bielefeld 2020

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