22. Mai 1974: Bielefeld feiert sein erstes Stadtfest – heute Leineweber-Markt

Anna Vogt M.A., Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

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Plakat zum ersten Innenstadtfest am 22. Mai 1974; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,9/Plakate, Nr. 941

Am 22. Mai 1974 wurde in Bielefeld bei typisch ostwestfälischem Wetter – es regnete in Strömen – bis spät in die Nacht getanzt und gefeiert. Anlass für das fröhliche Treiben war unter anderem die Feier des 25. Geburtstags des Grundgesetzes. Im ersten Jahr bildete das Fest den Auftakt zu einer ganzen Festwoche, die vom 22. bis 29. Mai unter der sperrigen Bezeichnung „Verfassungstag und Berliner Woche der Gastronomie und des Einzelhandels“ veranstaltet wurde. Verfassungstag und Festwoche kamen gut an: Tausende von Besuchern feierten. Der Überraschungserfolg führte dazu, dass bis heute jährlich ein kostenloses Innenstadtfest – „der Leineweber“ – begangen wird.  

Planung und Konzept des ersten Bielefelder Innenstadtfestes

Anlass für Planungen zur Ausrichtung eines Festes war zunächst der Besuch des scheidenden Bundespräsidenten Dr. Gustav Walter Heinemann (1899-1976), der sich zum Ende seiner Amtszeit vom Land Nordrhein-Westfalen verabschieden wollte. Da dessen Tochter Christa Delius geb. Heinemann (1928-2016) in Bielefeld lebte, beabsichtigte der Bundespräsident, der Stadt Bielefeld vom 21. bis 23. Mai einen Abschiedsbesuch abzustatten, wobei die Stadt dem Ehrengast einen gebührenden, jedoch nicht zu steifen, Empfang bereiten wollte. Heinemann wurde begleitet von seiner Frau Hilda (1896-1979) und den beiden Töchtern, ebenfalls reiste der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (1912-1992) mit an.

Passend zur Ankündigung des Besuchs des Bundespräsidenten ergab es sich, dass im Februar 1974 der Deutsche Städtetag im Namen des Bundeskanzlers Willy Brandt (1913-1992) dazu aufrief, sich am „Verfassungstag“ zu beteiligen: Am 24. Mai 1974 feierte das Grundgesetz seinen 25. Geburtstag – zur Bewusstseinsbildung sollten sich die Städte mit Aktionen an dem Tag beteiligen, wobei keine konkreten Vorgaben gemacht wurden. Bei den Überlegungen, wie beide Anlässe angemessen begangen werden könnten, spielte außerdem die kommunale Neugliederung eine Rolle: Erst am 1. Januar 1973 wurde im Zuge der Gebietsreform die Stadt Bielefeld mit dem Landkreis Bielefeld zusammengefasst. Die beiden bis dahin selbstständigen Städte Brackwede und Sennestadt, sowie 28 Gemeinden gingen in der neuen Stadt Bielefeld auf. Um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, erschien die Idee eines Volksfestes besonders passend.

Aufgrund der verschiedenen Anlässe sah das Veranstaltungskonzept schließlich vor, den „Verfassungstag“ um zwei Tage vorzuziehen und statt am 24. Mai – dem eigentlichen Geburtstag des Grundgesetzes – am 22. Mai zu feiern. Die Feier sollte dabei ganz bewusst keine gewöhnliche Kirmes sein, sondern ein lebendiges Fest im Herzen der Stadt mit kulturellem Charakter. Auf den Verfassungstag sollte schließlich eine „Berliner Woche der Gastronomie und des Einzelhandels“ folgen, um den Bielefeldern die Stadt Berlin näherzubringen, indem Gaststätten Spezialitäten von der Spree reichten und Geschäfte Berliner Mode präsentierten. Von solch einer Themenwoche als Marketingmaßnahme versprach sich der Einzelhandel mehr Frequenz und Aufmerksamkeit, gerade auch in den Außenbezirken.

Verantwortlich für die Entwicklung des Konzepts war der damalige Leiter des Presseamtes, Günter Ader (geb. 1931), der seine Planungen mit Oberstadtdirektor Herbert Krämer (1931-2015) und Oberbürgermeister Herbert Hinnendahl (1914-1993) abstimmte. Prägend war die Idee, den Bundespräsidenten nicht mit dem üblichen vom Protokoll bestimmten Empfang zu begrüßen, sondern gemeinsam mit der Bürgerschaft zu feiern. Da das Presseamt selbst nur über drei Mitarbeitende verfügte, wurden die Vorbereitungen seitens des Amts für Wirtschafts- und Verkehrsförderung (Leitung: Jürgen Schiewer) unterstützt. Beauftragt wurde hierfür der Mitarbeiter Hans-Rudolf Holtkamp, der später zum Geschäftsführer von „Bielefeld Marketing GmbH“ (1998-2014) avancieren sollte. Nachdem das Konzept stand, stellte sich die Frage, wie das neue Fest beworben werden konnte. Für eine professionelle Kampagne wurde die Bielefelder Agentur „Handschuh & Behr – Gesellschaft für Kommunikation“ beauftragt, die zuvor schon das Corporate Design der Stadt Bielefeld („Die freundliche Stadt am Teutoburger Wald“) konzipiert hatte. Die Erzählung, mit der für das neue Fest geworben wurde, lautete „Das Grundgesetz feiert 25. Geburtstag und der Bundespräsident gibt sich ebenfalls die Ehre – das muss gefeiert werden!“. Auf Plakaten und Zeitungsanzeigen wurde „Bielefeld feiert!“ zum Motto der Veranstaltung.

Das erste „Verfassungsfest“ am 22. Mai 1974

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Ankunft des Bundespräsidenten am 21. Mai in Bielefeld; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 54: Westfalen-Blatt v. 22.5.1974

Am 21. Mai 1974 um 18.05 Uhr landet Bundespräsident Heinemann mit einem Hubschrauber auf dem Johannisberg. Den Auftakt seines Abschiedsbesuchs bildete ein Abendessen im Bültmannshof. Am folgenden Tag um 10 Uhr begann das „Verfassungsfest“: Auf dem Klosterplatz wurde ab 12 Uhr Berliner Kindl gezapft, für Hungrige standen Berliner Pfannkuchen bereit. Mit dem Anbraten des Ochsen am Alten Markt ging ab 15 Uhr der Trubel richtig los. Zu den Programmhighlights zählten Straßentheater, eine Open-Air-Discothek auf dem Klosterplatz sowie das Abschlussfeuerwerk auf der Sparrenburg. Bei seinem Empfang im Rathaus durch OB Hinnendahl am Nachmittag begrüßte Heinemann ausdrücklich die etwas ungewöhnliche, originelle Initiative der Stadt, die Bürger anlässlich des Geburtstages des Grundgesetzes zum fröhlichen Feiern aufzurufen: „Ich finde das ganz hervorragend – denn wir haben nicht viel, dem wir uns in breitester Freude zuwenden können!“ Denn die damalige Stimmung in der Bundesrepublik war u.a. geprägt von der Guillaume-Affäre, die zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992) führte, nachdem dessen Referent am 24. April 1974 als DDR-Spion enttarnt worden war. In Flensburg führte man am 1. Mai das Punktesystem („Punkt in Flensburg“) ein, beim Eurovision Song Contest (ESC) gewann die schwedische Band „Abba“, wobei Deutschland mit dem Schlagerduo „Cindy&Bert“ lediglich auf dem letzten Platz landete. 

Im Anschluss an den obligatorischen Eintrag in das Goldene Buch der Stadt stürzte sich Heinemann mit seiner Frau und den zwei Töchtern auch selbst in das Volksfest-Gewühl. Nachdem sich Heinemann beim Ochsenstand zwei Fleischscheiben schmecken ließ, besuchte er kurz eine Vorstellung des Musicals „Anatevka“ im Theater am Alten Markt. Aufgrund des einsetzenden Regens wurde der eigentlich geplante Besuch der Kirmes rund um die Altstädter Nicolaikirche ausgesetzt. Die Bielefelder hingegen ließen sich vom Regen ihre Feierfreude nicht verderben: Bis zum Abend wurde gefeiert, gekrönt durch ein Feuerwerk, das der Bielefelder Pyrotechniker Wilhelm Busch konzipiert hatte. Eine auf den Zinnen der Sparrenburg rot glühende „25“ bildete den Abschluss des Schauspiels.

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Jürgen Schiewer plante bereits kurz nach dem Fest eine Neuauflage; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 32: Neue Westfälische v. 25.5.1974

Der Abschluss der Berliner Woche wurde am Mittwoch, 29. Mai, auf dem Alten Markt mit einem Konzert des Brackweder Stadtorchesters und der Verlosung einer Berlin-Fahrt begangen. Die Organisatoren waren zufrieden: Auch in den Außenbezirken habe man sich viel Mühe mit individuellen Aktionen gegeben, was belebend und attraktivitätssteigernd habe. Jürgen Schiewer, Leiter des Amtes für Wirtschaftsförderung und Fremdenverkehr, resümierte nach dem Fest in der Neuen Westfälischen vom 25. Mai 1974: „Die Bürger haben bewiesen, dass das Vorurteil von den sturen Bielefeldern einfach nicht stimmt. Wenn ihnen die Möglichkeiten geboten werden, verstehen die Bielefelder zu feiern.“ Direkt wurde über eine Wiederholung nachgedacht: „Warum sollte eine gute Sache nicht des Öfteren gemacht werden? Genaue Pläne und Vorstellungen haben wir allerdings noch nicht. Eines aber steht fest – es werden richtige Feiern sein und nicht diese Veranstaltungen, wo das übliche Streichquartett spielt und die üblicherweise einzuladenden Gäste zuhören, die eigentlich nur kommen, weil sie kommen müssen.“

Nach dem ersten Fest: Die Suche nach einem Namen

Nach diesem Erfolg war klar, dass das Fest wiederholt werden müsse. Am 12. Dezember 1974 stimmte der Hauptausschuss einstimmig für die jährliche Veranstaltung eines Innenstadtfestes im April/Mai verbunden mit einem „Tag der offenen Tür“ der Stadtverwaltung. Den ersten Tag der offenen Tür hatte es bereits am 29. September 1973 unter dem Slogan „Bielefeld-Tag“ gegeben – mit sehr guter Resonanz. Daher sollte dieses Format ab 1975 künftig regelmäßig in Verbindung mit dem Stadtfest stattfinden.

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Preisausschreiben zur Ermittlung eines passenden Namens für das Stadtfest 1975; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 150 Bd. 1

Das Problem: Dem „Kind“ fehlte noch ein richtiger Name. Das Amt für Wirtschaftsförderung und Verkehr rief Ende Januar 1975 ein Preisausschreiben aus, um den „treffendsten Namen für die Innenstadtfete“ zu suchen. Nach Möglichkeit sollte der Name einen typisch-traditionellen Bezug zur „freundlichen Stadt am Teutoburger Wald“ haben. Für die Teilnahme wurden attraktive Preise ausgelobt: Eine zweiwöchige Reise in die Bielefelder Patenstadt Concarneau in Frankreich, ein Jahresabo für die Städtischen Bühnen sowie eine Jahreskarte mit Sitzplatz für den DSC Arminia. Die Beteiligung war enorm: 2.000 Einsendungen mit 5.000 Vorschlägen – darunter 1.100 verschiedene Namen – gingen ein. Unter den Einsendungen waren Titel wie „City-Sause“, „Dölmer-Party“, „Bielenade“ und – nicht ganz ernst gemeint – „Das sportliche Fest im Regennest“. Der Name „Leineweberfest“ wurde 168 Mal eingereicht, „Leineweber-Markt“ 36 Mal. Eine Jury entschied sich schließlich für „Leineweber-Markt“ und legte damit den bis heute gültigen Namen mit Bezug zu Bielefelds Leinengeschichte fest.

Das zweite Stadtfest 1975: Der erste „Leineweber-Markt“

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Plakat für den ersten Leineweber Markt 1975; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 3068

Als das Fest dann 1975 das erste Mal unter dem Namen Leineweber-Markt vom 25. bis 27. April stattfand, spielte schließlich auch das Wetter mit: Bei Sonnenschein strömten 100.000 (!) Bielefelder durch die Innenstadt. Dabei war zunächst bis kurz vor Festeröffnung nicht klar, ob der Leineweber tatsächlich stattfinden könnte. Die RAF hatte die deutsche Botschaft in Stockholm am 24. April 1975 angegriffen und Geiseln genommen. Mit Blick auf den Terrorangriff wurde nach Gesprächen des OB Hinnendahl mit der Kaufmannschaft und den Schaustellern erst kurz vor Festbeginn „Grünes Licht“ für den Leineweber gegeben. In seiner Eröffnungsansprache wies der OB auch auf die etwas gedämpfte Fröhlichkeit angesichts der Ereignisse hin, gab aber ebenso kämpferisch zu bedenken: „[…] aber wir lassen uns von einer Handvoll Terroristen doch nicht unseren Staat kaputt machen.“ Nach dem obligatorischen Schluck „Heimatwasser“ aus dem Zinnlöffel stieg Hinnendahl gemeinsam mit Stadtdirektor Rudolf Möllenbrock (1926-1999) in den Autoscooter und verspeiste eine Bratwurst – der ‚erste‘ Leineweber 1975 war eröffnet.

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Auf dem ersten „Leineweber“ präsentierten sich auch ausländische Gruppen; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 150 Bd. 1, S. 96

Sogar der Bürgermeister der Stadt Blasheim, Karl Treseler, in dessen Stadt das Volksfest „Blasheimer Markt“ gefeiert wird, fragte sich „Wo kommen in Bielefeld bloß die vielen Menschen her?“. Als „Volksfestspion“ hatte er sich nach dem Erfolg 1974 das Konkurrenzfest nicht entgehen lassen wollen. Das über 70 Aktionen umfassende Programm bot eine Autoausstellung, eine Open-Air Modenschau und folkloristische Darbietungen von türkischen, jugoslawischen und griechischen Gruppen, die in der Niedernstraße mit Tanz und landestypischer Tracht ihre Kultur vorstellten. Den ersten Tag beschloss ein Bunter Abend auf dem Alten Markt, bei dem Gunter Gabriel (1942-2017) Hits zum Besten gab („Hey Boß, ich brauch mehr Geld“) und die Tanzschule Teubner-Schneider historische Tänze des frühen 20. Jahrhunderts präsentierte.

Auch der zweite „Tag der offenen Tür“ der Stadtverwaltung kam gut an: Über 1.500 Besucher besichtigten die Dienststellen des Rathauses, wobei die meisten das Zimmer des Oberbürgermeisters sehen wollten. Dieser beantwortete Fragen und servierte jedem Besucher gemeinsam mit einem kostümierten Leineweber einen Schnaps als „Begrüßungsschluck“. Geburtstagskinder der Jahrgänge 1963 bis 1965 waren im Großen Sitzungsaal zum „Kakaotrinken beim Oberbürgermeister“ eingeladen. Die verschiedensten Ämter beteiligten sich – vom Feuerwehramt, über die Bauverwaltung und das Stadtreinigungsamt („Vorführung von Spezialfahrzeugen“).

„Absoluter Höhepunkt“, so die Neue Westfälische am 28. April 1975, war das Jazz-Meeting auf dem Alten Markt mit fast 20.000 Besuchern. Zu nennenswertem Ärger kam es bei der Riesenfete nicht: Im Einsatzbericht der Polizei hieß es nach den drei fröhlichen Tagen „keine besonderen Vorkommnisse.“ Das Westfalen-Blatt fasste am 28. April 1975 zusammen: „Mit diesem Fest konnte Bielefeld sich sehen lassen. Weil alle mitmachen, die Bielefelder Kaufmannschaft, die Stadt mit Verwaltung und Rat, und nicht zuletzt die Bürger selbst, deren Besuch die City-Fete erst zum Gelingen brachte. Kompliment.“ Es entstand der Eindruck: Was Bielefeld bis dato gefehlt hatte, war ein echtes Stadtfest – der „Leineweber“ schien einen Nerv getroffen zu haben, weshalb er sich in der Folge verstetigte.

Die Leineweber-Märkte in den Folgejahren

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Sonderausgabe des Bielefelder Spiegel zum Leineweber 1976; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse- und Verkehrsamt, Nr. 620

Spätestens mit dem dritten Fest hatte sich der Markt im Veranstaltungskalender etabliert. Bei den Vorbereitungen zum „Leineweber“ 1976 kam es jedoch zu Unstimmigkeiten: Das Vorhaben, das Volksfest am Samstagnachmittag mit einem Einkaufsbummel zu verbinden und dafür die Ladenöffnungszeiten bis 18 Uhr zu verlängern, stieß bei den Betriebsräten auf herben Widerstand: Am 19. März schickten die Betriebsräte des Bielefelder Einzelhandels, darunter die Vertreter der Kaufhäuser Leffers, Horten, Karstadt, kepa und Leineweber, eine Resolution an den neuen Oberbürgermeister Klaus Schwickert (1931-2019), um das Vorhaben zu stoppen. Auch wurden die Parteien angeschrieben, um auf die „zusätzliche Belastung unserer überwiegend weiblichen und verheirateten Kolleginnen“ aufmerksam zu machen. Zwar entschied sich der Rat aufgrund der fortgeschrittenen Planungen für den Shopping-Samstag, Schwickert sicherte den Betriebsräten jedoch zu, im Vorfeld des nächsten Leinewebers früher mit diesen zu sprechen, um „nach einer vernünftigen Regelung zu suchen, die möglichst die Zustimmung aller Beteiligten finden wird.“

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Am Alten Markt sorgte der DJ „Mal Sondock“ für Stimmung, undatiert, vmtl. 1977; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 56-002-006

Für das Programm ließen sich die Veranstalter immer wieder etwas Neues einfallen: 1976 fand eine Kontaktbörse im Rathaus für einsame Bielefelder statt, die eine Begleitung für den Markt (oder eventuell mehr?) suchten. Alfred Biolek (1934-2021) moderierte eine Talkshow mit ‚Bielefelder Prominenten‘ und Frank Zander schmetterte auf dem Alten Markt seinen Hit „Ich trinke auf Dein Wohl Marie“. Handwerkliche Vorführungen, Theater und Ausstellungen unterstrichen unterdessen weiterhin den kulturellen Charakter.

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Antrag von Hiltrud Böcker vom 27. Dezember 1979 zur stärkeren Integration nichtkommerzieller, historischer Veranstaltungen Bezug auf dem Leineweber; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,13/Kulturamt, Nr. 26

Mit dem Erfolg stellte sich auch eine Kommerzialisierung ein, der man durch ein eher regionaltypisches Programm begegnen wollte. 1979 stellte die sachkundige Bürgerin Hiltrud Böcker (geb. 1935) im Kulturausschuss den Antrag, das Programm durch heimatgeschichtliche Aktionen aufzuwerten. Es müsse verhindert werden, dass aus dem „Leineweber“ ein auswechselbares Stadtfest werde. Auch die Presse berichtete über die „Quadratur des Kreises“ das Programm heimatbezogen und gleichzeitig durch „Show-Stars“ attraktiv zu gestalten – dieser Konflikt sollte über die Jahre andauern. Im Ergebnis erarbeiteten die Kulturausschussmitglieder Hiltrud Böcker, Dr. Bernd Hey (1942-2011) und Hans-Theodor Schäpersmann (1928-1987) einen 8-Punkte-Plan, um mehr Regionales in den „Leineweber“ zu integrieren. Ein gut besuchtes Kulturprogramm mit Kleinkunst und Handwerk auf dem Klosterplatz beim „Leineweber“ 1981 gab der Initiative recht. Ohnehin waren fast 500.000 Besucher beim „Leineweber“ 1981 eine stattliche Bilanz – die auch bei den Aufräumarbeiten zu Buche schlug: 25 Mitarbeiter der Stadtreinigung kehrten durch ‚Handreinigung‘ 18 Kubikmeter Müll zusammen, Kehrmaschinen sammelten zusätzliche 160 Kubikmeter Unrat.

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Werbebroschüre zum 1. Tag der Offenen Tür („Bielefeld Tag“) 1973; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse- und Verkehrsamt, Nr. 620

Mit der Etablierung des „Leinewebers“ festigte sich – sozusagen als liebgewonnenes Anhängsel – auch der „Tag der offenen Tür“ der Stadtverwaltung. Viele Aktionen wurden mit der Zeit zu Klassikern: Darunter die Audienz beim OB, die U-Bahn-Besichtigung und Rundgänge bei der Feuerwehr. 1984 wurde der Tag mit der Einweihung des Ersten Bauabschnitts des neuen Rathauses gefeiert. Lediglich 1986 wurde der Tag aus Sicherheitsgründen abgesagt und auf Juli verschoben, da man aufgrund einer Großdemo zum Thema „Tschernobyl ist überall“ Übergriffe von Kernkraftgegnern und Splittergruppen befürchtete.

Finanziert wurde der Leineweber bis Anfang der 1980er-Jahre durch einen städtischen Zuschuss von 40.000 DM, später sollte sich das Fest selbst tragen. Seitdem tragen vor allem Spenden und Sponsorengelder, insbesondere der Einzelhändler und der Werbegemeinschaften, zum Gelingen bei. 1994 traten erstmals die Sparkasse Bielefeld und das Westfalen-Blatt als Hauptsponsoren auf.

1990er Jahre bis heute

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Plakat des Leineweber-Markts 1989: Zwar änderte sich das Design der Plakate über die Jahre mehrmals, der Leineweber blieb als Figur jedoch stets erhalten; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 414

1991 stand die Ausrichtung des Leinewebers abermals auf der Kippe: Der Zweite Golfkrieg sorgte für eine zwischenzeitliche Absage – am Ende wurde der 18. Leineweber (das 17. Mal unter dem Namen) jedoch trotz einer deutlich kürzeren Vorbereitungszeit, regulär am 24. Mai eröffnet, wobei die Veranstalter darauf hinwiesen, kein ‚Notprogramm‘ gestrickt zu haben.
Der Bau von Veranstaltungshallen ab den 1990er-Jahren (in Bielefeld u.a. Stadthalle, Seidenstickerhalle, Ringlokschuppen), veränderte das Konzept des Stadtfestes mit Head-Linern als Zugpferden, denn die Stars hatten nun woanders bessere Auftrittsmöglichkeiten und konnten mehr Gage verlangen. In der Folge fand wieder eine stärkere Integration von Kleinkunst statt, das Kulturprogramm wurde ausgebaut. Seit 2012 befindet sich auf dem Rathausplatz die „Loud&Proud-Bühne“ als Treffpunkt der Jugendszene, vermehrt wurden in den vergangenen Jahren auch soziale Projekte, unter anderem die Aktion #sichtbar, die Menschen mit Behinderungen in das Festgeschehen einbezieht, integriert. Nach zwei Jahren Corona-bedingter Pause, findet seit dem Jahr 2022 wieder jährlich der Leineweber-Markt statt. Mit über 400.000 Besuchern zählt das Fest nach dem Paderborner Libori mittlerweile zum zweitgrößten Innenstadtfest in Ostwestfalen.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,1/Oberbürgermeister, Nr. 605: Leinewebermarkt, 1976-1980; Nr. 1186 Bd. 1 und 2: Öffentliche Veranstaltungen, Leinewebermarkt, 1991
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,2/Hauptamt, Nr. 1177: Einsatz zu Sondermaßnahmen „Tag der offenen Tür“ in der Stadtverwaltung verbunden mit dem Leinewebermarkt, 1974-1983; Nr. 1178: Einsatz zu Sondermaßnahmen „Tag der offenen Tür“ in der Stadtverwaltung verbunden mit dem Leinewebermarkt, 1984-1990
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse- und Verkehrsamt, Nr. 614: Zusagen und Absagen zum Leinewebermarkt 1981, 1981; 620: Tag der offenen Tür, 1973-1977
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,1/Ordnungsamt, Nr. 3975: Organisation des Leineweber-Marktes, 1975-1989
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,6/Städtische Bühnen und Orchester; Nr. 4029: Schriftwechsel zwischen den Städtischen Bühnen und dem Kulturdezernat, 1987-1990
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,13/Kulturamt, Nr. 26: Gastspielverträge für das Kulturprogramm des Leineweber-Marktes 1981 und weitere Veranstaltungskooperationen, 1979-1982; Nr. 44: Gastspielverträge für das Kulturprogramm des Leineweber-Marktes 1981 und weitere Veranstaltungskooperationen, 1979-1982
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 140/Protokolle, Nr. 1773: Beigeordnetenkonferenz, 1974; 1825: Beigeordnetenkonferenz, 1974
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 270,011/Theater- und Konzertfreunde; Nr. 18: Presseberichte, Leinewebermarkt, 1957-1977
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 140 Bd. 1 und 2: Geselligkeit, Volksfeste, u.a. Leinewebermarkt, 1956-1990
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen,
    • 54: Westfalen Blatt, 28. April 1975, 23. Mai 1975, 22. Mai 1975, 20. Mai 1975, 29. Mai 1976
    • 32: Neue Westfälische, 30. Januar 1975; 26. April 1975, 29. April 1975, 29. Mai 1976
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 56-002-006: Leinewebermarkt am Alten Markt
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,9/Plakate, Nr. 414: Stadt Bielefeld / Verkehrsverein e.V. Bielefeld: Leineweber-Markt Bielefeld macht Spaß, 1989; 941: Plakat Das Grundgesetz hat Geburtstag, 1974; 3068: Leinewebermarkt, 1975; 4097: Alte Bielefelder Ansichten. Aufgelegt zum Leineweber-Markt 1987
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,10/Zeitgeschichtliche Sammlungen, Nr. 5882: Straßen- und Stadtteilfeste, 1998-2003

Literatur

  • Stadt Bielefeld – Amt für Statistik (Hrsg.): Verwaltungsberichte der Stadt Bielefeld 1973-1976, Bielefeld 1980, LgB Z 40 Bie 6
  • Bielefeld Marketing GmbH (Hrsg.): Bielefeld. 40 Jahre Leineweber-Markt. Dokumentation von den Anfängen 1974 bis 2013, Bielefeld 2013, LgB Signatur: V 300 299

Erstveröffentlichung: 01.05.2024

Hinweis zur Zitation:
Vogt, Anna, 22. Mai 1974: Bielefeld feiert sein erstes Stadtfest – heute Leineweber-Markt, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2024/05/01/01052024/, Bielefeld 2024

4 Kommentare zu „22. Mai 1974: Bielefeld feiert sein erstes Stadtfest – heute Leineweber-Markt

  1. Bei dem abgebildeten DJ handelt es sich um den durch den WDR sehr bekannt gewordenen Texaner Mal Sondock. Hans-Jörg Kühne hat eine abgebildete Single von „Showaddywaddy“ auf das Frühjahr 1974 datiert. Zum allerersten Stadtfest passen auch die aufgespannten Regenschirme.

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    1. Vielen Dank für den Hinweis! Der Name des DJ ist nun auch in der Bildunterschrift ergänzt und wird auch in der Bildbeschreibung des Originals der Fotosammlung vermerkt werden.

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  2. Habe noch einmal genauer hingeschaut. Die Showaddywaddy-Single ist tatsächlich „Under The Moon Of Love“ vom Frühjahr 1977, nicht „Hey Rock And Roll“ von 1974. 1977 hat es also auch geregnet …

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  3. Das Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. Der Verein pro grün hatte mehrmals einen Stand auf dem Leinewebermarkt. Das war wohl 1975 und 1976. Wir verkauften kleine, kunsthandwerklich hergestellte Bäume aus Holz. Die Nachfrage und das Interesse an Umweltschutz (ein ziemlich neues Wort) war mässig. Deshalb wurde die Aktion nicht wiederholt.

    Regine Schürer

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