5. Januar 1520: Bielefeld erhält eine neue Ratswahlordnung

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

Als sich die Herren am 5. Januar 1520 im Altstädter Rathaus trafen, brauchten sie einander nicht mehr vorgestellt werden. Man kannte sich, machte Geschäfte miteinander, erledigte gemeinsam die Ratsarbeit, sah sich sogar fast täglich – und hatte zuvor doch lange in zwei verschiedenen Städten gewohnt: in Bielefeld und (in Sichtweite) in Bielefeld, nämlich in der Altstadt und in der Neustadt Bielefeld. 1510 hatten sich die Räte beider Städte bereits vereinigt, zehn Jahre später beschlossen die Ratsherren eine neue Ratswahlordnung, die eine Verkleinerung des Gremiums vorsah und in einem „Chur-Brief“ niedergelegt wurde, der bis 1719 gültig bleiben sollte.

#01_StArchBI_400_011_240_Culemann_Ausschnitt
1710 zeichnete Ernst Albrecht Friedrich Culemann das Umfeld der Neustädter Marienkirche und hielt rechts möglicherweise das Neustädter Rathaus fest, das später Gerichtsgebäude war; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 240

Bis in das 16. Jahrhundert gab es zwei Städte Bielefeld: Altstadt und Neustadt. Beide verfügten über eigene Rathäuser, Bürgermeister und Räte, organisierten ihre Verwaltungsangelegenheiten separat, arbeiteten aber auf verschiedensten Ebenen zusammen. Die Existenz mehrerer Stadtsiedlungen, die nahe zueinander lagen oder direkt aneinandergrenzten, ist auch in Westfalen – z. B. Lemgo, Herford – vorhanden. Sie hängt auch mit dem Wachsen und Zusammenwachsen ursprünglich separater Siedlungskerne zusammen, deren Erweiterungsflächen aber durch topographische und andere Gegebenheiten begrenzt waren. Braunschweig beispielsweise bestand gar aus fünf Weichbildern (Weich-bild = Orts-recht), die bis 1300 entstanden waren und über eigene Räte verfügten. Darüber gab es zwar seit 1269 einen Gesamtrat, ein formeller Zusammenschluss erfolgte dort erst 1671. Hildesheim zählte drei Bürgergemeinden, wobei die dominante Altstadt aus wirtschaftlicher Rivalität die Dammstadt 1332 vernichtete und sich die Neustadt unterordnete.

In Bielefeld ging es ungleich friedlicher zu. Überhaupt blieb die Stadt, besser gesagt, blieben die Städte, von den Bürgerunruhen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verschont, die z. B. Braunschweig, Hildesheim, Frankfurt/M. oder Bremen erschütterten, als Gilden und Zünfte gegen das Patriziat um politische Partizipation rangen und teilweise massive Veränderungen im Machtgefüge folgten. Einmalig im Sommer 1719 kam es zu einem Protest, als der Rat verkleinert, aber vor allem die Selbstvertretung der Ämter (Zünfte, Gilden) aufgehoben wurde, was kurzzeitige Tumulte auslöste, deren Reichweite noch nicht recht zu greifen sind.

#02_StArchBI_400_08_00287_Ausschnitt
Eine Karte von 1819 stellt die Gebäudesituation der vormaligen Altstadt und Neustadt dar; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,8/Karten und Pläne, Nr. 280

Zwischen der 1214 als Stadt ersterwähnten Altstadt und der Burg entstand noch im 13. Jahrhundert die Neustadt Bielefeld. Sie ist 1293 im Zusammenhang mit der Stiftung des Marienstifts an der – offensichtlich bereits vorhandenen – Pfarrkirche im – ebenfalls bereits bestehenden – novo opido Bilevelde ersterwähnt. Ihre Entstehung steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Anlage oder dem Ausbau der Sparrenburg, für den auswärtige Handwerker angeworben werden mussten. Dass die Altstadt keinen Raum für Neuansiedlungen und -bauten bot, wird bezweifelt, da noch im 15. Jahrhundert Freiflächen in der Hagenbruchstraße vorhanden waren. Die Immunitäten der zentral gelegenen Stiftskirche und der umgebenden Adelshöfe bestimmten die Erweiterung der Neustadt, die sich nicht in diese privilegierten und großenteils unbebaut gebliebenen Areale ausdehnen und in diese auch nicht hineinregieren konnte. Die Ritter des Ravensberger Grafen, die auf der Burg Wehrdienste leisteten, wurden mit Grundstücken in der Neustadt, vorrangig im Bereich der Breiten Straße und der Kreuzstraße belohnt. Dort entstanden verschiedene Adelshöfe dieser Burgmannen, die durch Präsenz, Bildung einer eigenen Adelskörperschaft und seit 1270 Mitgliedschaft im zwölfköpfigen Rat der Altstadt den landesherrlichen Einfluss in der jungen Gründung sicherten. In der Neustadt blieben adelige Ratsherren die Ausnahme. Für 1317 sind Richter, Bürgermeister und Rat der Neustadt belegt, der im eignen Rathaus am Ende der Breiten Straße tagte. Ihre Bewohner und auch ihre Führungsgruppe rekrutierte die Neustadt aus zugezogenen Handwerkern, wie die überlieferten Berufsnamen (die Sprachforschung ordnet diese den „Übernamen“ zu) andeuten, während in der Altstadt häufig Herkunftsnamen (Toponyme) begegnen.

#03_StArchBI_400_08_00280_Ausschnitt
Das Rathaus der Neustadt schloss die Breite Straße unterhalb der Neustädter Marienkirche ab; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,8/Karten und Pläne, Nr. 280

Die beiden Städte trennte von Anfang an tatsächlich wenig: Es gab zwar eigene Verwaltungen und die Südmauer der Altstadt, doch nachhaltige Auseinandersetzungen sind nicht überliefert. Es überwogen die Gemeinsamkeiten: 1383 gewährten beide Städte dem Herzog ein gemeinsames Darlehn von 200 Mark Bielefelder Währung, einige Jahre später eines über 400 Rheinische Gulden. 1452 durften beide Städte gemeinsam die Lutter umleiten. 1488 schließlich betätigte Wilhelm IV. von Jülich-Berg beiden Städten und ihren jeweiligen Bürgermeistern, Räten und Stadtbürgerschaften (gemeynheyden) nicht allein wirtschaftliche Vorteile, sondern auch eine Art gemeinsames Bürgerrecht sowie den komplikations- und verlustlosen Umzug zwischen den Städten. Die ersten überlieferten Privilegienbestätigungen dagegen hatten eindeutig der Altstadt gegolten – erst 1346 bestätigte Gerhard von Jülich, dessen Haus die Nachfolge der ausgestorbenen Ravensberger antrat, mit seiner Gemahlin Margarethe die Vorrechte ausdrücklich für beyde de stede tho bileuelde de alden stat vnde de nyen, die Bürger bezeichnete er jedoch unterschiedslos als seine borghere to Bilevelde. Da die Priviliegienbestätigungen von 1326 die Schöffen (späteren Ratsherren) und Bürger in Bil[e]velde nennen, ist davon auszugehen, dass diese allein der Altstadt galten, zumal der wieder aufgenommene Urkundentext von 1287 ebenfalls nur diese begünstigt hatte. Gesonderte Privilegienbestätigungen allein für die Neustadt sind nicht überliefert.

#04_StArchBI_100_01_006r_Zuschnitt
1346 bestätigten Graf Gerhard von Jülich und seine Gemahlin Margarethe die Rechte beider Städte Bielefeld; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,1/Urkunden, Nr. 6

Zentrales Element städtischer Selbstverwaltung waren seit der Stadtgründung oder -erhebung die Räte. In ihnen konzentrierten sich sämtliche öffentliche Aufgaben: Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Aus den Reihen der in der Regel 13 Mitglieder des „Sitzenden Rates“ der Altstadt bestimmte der Landesherr einen Bürgermeister – in Westfalen ein einzigartiges Procedere, denn üblicherweise bestimmten die Ratsherren diesen autonom. Der im 16. Jahrhundert aufgelöste „Alte Rat“ vereinigte die nicht amtierenden Ratsherren. Die über Jahrhunderte hinweg etablierte Ratsordnung war bis 1520 nicht schriftlich fixiert worden – zumindest ist sie nicht überliefert worden. Erst der „Churbrief“ (Kur = Wahl) half diesem Umstand ab und brachte damit die schon 1510 erfolgte Ratsvereinigung auch zu einem formellen Abschluss, legte aber erstmalig Wahlvoraussetzungen und -verfahren, Ämterbesetzungen sowie Zusammensetzung und Aufgaben des Rates schriftlich nieder. Seit 1510 waren Urkunden gemeinsam von den Räten der Alt- und der Neustadt ausgestellt und die 15 bis 17 Ratsherren beider Städte namentlich genannt – ab dem 5. Januar 1520 waren es nur noch zwölf. Nunmehr gehörten neun Vertreter der Altstadt dem Rat an und drei der Neustadt, wobei letztere bis 1522 nur zwei Ratsherren stellte. Die Dominanz der Altstadt zeigte sich vor allem bei der Besetzung des Bürgermeisterpostens, der nahezu ausschließlich aus dem „Hufeisen“ der Altstadt und zusätzlich häufig aus einem engen Zirkel von kaum 20 Familien kam, die auch einen Großteil der Ratsmitglieder stellten. Bürgermeister blieb Wilhelm von Grest (geb. um 1450/55; gest. zwischen 1531 und 1533), der seit 1479 Altstädter Ratsherr gewesen und von 1483 bis 1531 an 24 Mal zum Bürgermeister mit jährlicher Amtszeit gewählt worden war – schon seit Vater hatte diese Funktionen ausgeübt und sein Sohn und sein Enkel ebenso.

#05_StArchBI_100_001_131_klein
Der Chur-Brief vom 5. Januar 1520 enthielt die neue Ratswahlordnung; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,1/Urkunden, Nr. 131

Auch nach dem Abschluss der Ratsvereinigung gab es gelegentlich Ansätze der Unterscheidung beider Städte: Manches erklärt sich aus Gewohnheiten, einiges aus der Praxis, anderes bis auf weiteres nicht. Der Hinweis in einer Urkunde, dass eine Mühle zwischen den Städten lag, beschrieb 1588 nicht mehr eine Abgrenzung beider Städte, sondern war eine unterstützende – und offensichtlich noch verbreitete – Formulierung, um eine topographische Lage zu beschreiben. Dennoch sind Dokumente überliefert, die, aus welchen Gründen auch immer, das ursprünglich Trennende nach 1510/20 weiter betonten. So bestätigte Herzog Wilhelm von Kleve 1545 beiden Städten Bielefeld ihre Privilegien. Und noch 1563 beurkundeten Bürgermeister, Schöffen und Räte beider Städte – unter einem gemeinsamen Siegel – eine Armenstiftung aus städtischen Mitteln. Zuletzt 1645 erscheint in einer Urkunde die Formulierung von Bürgermeister und Rat, die für die „gantze Bürgerey und gemeindt der alten und Newen Statt Bielfeldt“ handelten. Möglicherweise handelte es teilweise sich um Rechtsgeschäfte, die ihren Ursprung vor 1510/20, also vor der Ratsvereinigung hatten und zumindest formell die Hinzuziehung des ursprünglichen Vertragspartners, eben der Neustadt, erforderten. Oder es handelte sich, wie 1645, um einen außergewöhnlichen Vorgang, denn die Stadt (die Städte) hatte während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nie einen Syndikus, also einen Rechtsberater angestellt.

#06_StArch_Bielefeld_Aleman_Wappen
Das Wappen der Stadt Bielefeld, Zeichnung um 1690; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,5/Handschriften, gebunden, Nr. 81

Die schon jahrhundertelang bedeutungsarmen Grenzen und Mauern zwischen Altstadt und Neustadt fielen in den Köpfen und im Alltag immer weiter ein. Erst 1719 kam der innerstädtischen Herkunft von Funktionsträgern kurzzeitig eine gewisse Bedeutung zu, als die Ämterdechen, die den örtlichen Zünften/Gilden vorstanden, durch sechs Vorsteher der Gemeinde ersetzt werden sollten. Die Auswahl der königlichen Kommissare fiel durchweg auf Kaufleute aus dem Krameramt, die darüber hinaus miteinander verwandt waren, vom Ämter- und Innungswesen nichts wüssten und schließlich sämtlich aus der Altstadt kamen. Geändert hat der Protest der Ämterdechen freilich wenig – ihre „Altstadt“-Argumentation zeigt lediglich, dass auch vergessene oder erfundene Ressentiments nicht viel mehr als Rhetorik waren.

 

Quellen:

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,1/Urkunden, Nr. 6: Gerhard, ältester Sohn des Markgrafen Wilhelm von Jülich, und seine Gemahlin Margarete, Gräfin von Ravensberg, bestätigen den Ravensbergischen Ständen und den beiden Städten Bielefeld ihre Rechte, 1346 Oktober 1
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,1/Urkunden, Nr. 131: Bürgermeister und Räte beider Städte beschließen die Vereinigung der Alt- und Neustadt und bestimmen, dass beide Städte in Zukunft einen Bürgermeister und zwölf Ratsmannen und zwar neun von der Altstadt und drei von der Neustadt wählen sollen […]; 1520 Januar 5
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,1/Urkunden, Nr. 352: Bürgermeister, Rat und Zwölfe, die vor etlichen Jahren den Dr. jur. Gerhart Schulen als Stadtsyndikus mit einem Jahresgehalt von 150 Reichstalern angenommen haben und das Geld wegen der Kriegszeiten nicht bezahlen konnten, bestätigen für sich und die gesamte Bürgerschaft und Gemeinde von Altstadt und Neustadt, dass Schule die für die Jahre 1637 bis 1641 angelaufenen 600 Reichstaler auf ihre Bitten als Kapital stehen lässt, erkennen die Schuld an und verpflichten sich, sie ihm von 1646 ab jährlich aus den Einkünften der Stadt, die sie dafür zum Pfand setzen, zu verzinsen; 1645 Dezember 20
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,5/Handschriften, gebunden, Nr. 81: Collectanea Ravensbergensia von Wolff Ernst Aleman, 1688-1725 (1757 – 1763)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,8/Karten und Pläne, Nr. 280: Situationsplan Neustädter Kirche und Umgebung, 1790 (Ausschnitt)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,8/Karten und Pläne, Nr. 287: Charte von der Bielefeldischen getheilten Gemeinheit, 1819 (Ausschnitt)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 240: Bielefeld mit Sparrenburg, um 1710; Aquarell von Ernst Albrecht Friedrich Culemann (Ausschnitt)

 

Quelleneditionen

  • Engel, Gustav (Bearb.), Ravensberger Regesten I (785-1346) (7. Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg), Bielefeld/Dortmund/Münster 1985
  • Vollmer, Bernhard, Urkundenbuch der Stadt und des Stiftes Bielefeld, Bielefeld/Leipzig 1937 (online unter ulb.uni-muenster.de)

 

Literatur

  • Brand, Brigitte/Gerd Renda, Bielefeld im Mittelalter – Zwei Städte zwischen Bach und Burg, Bielefeld 2015
  • Engel, Gustav, Die Stadtgründung im Bielefelde und das Münstersche Stadtrecht (5. Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg), Bielefeld 1952
  • Schindler, Wolfgang, Bielefeld im Mittelalter – Eine autonome und selbstregierte Stadt? in: Jürgen Büschenfeld/Bärbel Sunderbrink (Hg.), Bielefeld und die Welt – Prägungen und Impulse Bielefeld (17. Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg), Bielefeld 2014, 133-148
  • Stoob, Heinz, Westfälischer Städteatlas, Lieferung 1, Dortmund 1975
  • Vogelsang, Reinhard, Der Rat der Stadt Bielefeld im Mittelalter, in: 69. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg (1974), S. 27-63
  • ders., Reinhard, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 1980
  • ders., Die Stadtgründung. Über die Anfänge der Stadt im Bielefeld, in: Andreas Beaugrand (Hg.), Stadtbuch Bielefeld 1214-2014, Bielefeld 2013, S. 66-71

 

Erstveröffentlichung: 01.01.2020

Hinweis zur Zitation:

Rath, Dr. Jochen: 5. Januar 1520: Bielefeld erhält eine neue Ratswahlordnung, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2019/12/23/01012020, Bielefeld 2020

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..