2. Juni 1878: Das Attentat auf Kaiser Wilhelm und seine Auswirkungen auf die Liberalen und Sozialdemokraten in Bielefeld

• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

Am Sonntag, den 2. Juni 1878, versteckte sich Dr. Karl Eduard Nobiling (1848-1878), der in Philosophie promoviert hatte und ein Landwirtschaftsexperte war, im Lindenhotel an der Prachtstraße Unter den Linden unweit des Brandenburger Tores. Als Kaiser Wilhelm (1797-1888), in einer Kutsche sitzend, das Gasthaus passierte, schoss Nobiling gezielt mit einer Schrotflinte auf den Monarchen und verletzte ihn schwer. Auch der Wirt des Lindenhotels, der mit anderen Gästen das Zimmer des Attentäters stürmte, und Nobiling selbst wurden wenig später durch Schüsse aus der „Mordwaffe“ verletzt. Die schnell herbeieilende Polizei konnte schließlich verhindern, dass die aufgebrachte Menge den Attentäter lynchte. Das „ruchlose Attentat“ war nicht der erste Versuch, den Kaiser zu töten. Nur wenige Wochen zuvor hatte der Klempnergeselle Max Hödel (1857-1878) am 11. Mai einen Mordanschlag auf den greisen Monarchen verübt, ohne diesen aber dabei zu verletzen. In der noch jungen Nation, dem 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich, lösten die Attentate auf das Staatsoberhaupt ein politisches Erdbeben aus, an dessen vorläufigem Ende das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, das „Sozialistengesetz“, stand.

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Das Reiterdenkmal für Kaiser Wilhelm I. auf dem Schillerplatz vor dem Rathaus. Es wurde am 29. August 1907 im Beisein seines Enkels, Kaiser Wilhelm II., einge-weiht und musste bereits 1921 wegen fehlerhafter Ausführung niedergelegt werden. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 72-1-156

Die Zeitungsberichte über das Attentat standen der heutigen Sensationspresse in nichts nach. Über jedes Detail der allmählichen Genesung des Kaisers, der „einen starken Blutverlust“ erlitten hatte, wurde berichtet, über die Bouillon am Morgen genauso wie über eine unruhige, schlaflose Nacht. Und obwohl sich der Attentäter bei dem Versuch, sich das Leben zu nehmen, so schwer verletzt hatte, dass er nur kurz nach der Tat verhört werden konnte und anschließend vernehmungsunfähig war, berichteten die Zeitungen täglich über brisante Neuigkeiten, die bei vermeintlichen Verhören ans Tageslicht befördert worden waren. Ein ehemaliger Lehrer und Nobilings Mutter wurden befragt, Nachbarn und zufällige Bekannte meldeten sich zu Wort, und aus den mosaikartigen, zum Teil zusammenhanglosen Informationen bildete sich schnell das Bild eines europaweiten Komplotts einer sozialdemokratischen Verschwörung gegen den Kaiser, gegen das „deutsche Vaterland“. So sei bereits vor dem Attentat in einschlägig verdächtigen Kreisen Londons und Paris‘ gemunkelt worden, dass etwas Besonderes bevorstehe. Nobiling war zwar nicht Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP), Schriften, die in seiner Wohnung gefunden wurden, ließen aber für die Untersuchungsbehörden gewisse Sympathien des Attentäters für die Sozialdemokratie erkennen. Für Franz Mehring (1846-1919), der 1898 eine zweibändige Geschichte der Sozialdemokratie geschrieben hatte, ging das zu weit: „Nach dem, was sonst über Nobiling bekannt geworden ist, gehörte der ebenso eitle wie unfähige Mensch seinen geistigen Anlagen und Neigungen nach etwa in die Region nationalliberaler Sozialistentöter. Er war noch dümmer als Hödel […], hatte sich keine Stellung erringen können, die seinen Ansprüchen entsprach, und als er vor dem Nichts stand, wollte er nicht ruhmlos aus der Welt scheiden wie andere Selbstmörder, von denen er einmal gesagt hatte, er begreife nicht, wie sie gehen könnten, ohne einen Großen mitzunehmen.“ In Mehrings Worten schwang gewiss auch die Verbitterung über das Sozialistengesetz mit, das mit Nobilings Attentat erst möglich werden sollte.

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Wenige Tage nach dem Attentat veröffentlichten viele Tageszeitungen im Deutschen Reich eine Lithographie mit dem Bildnis von Dr. Karl Eduard Nobiling. Die Berliner Untersuchungsbehörde rügte diese Berichterstattung vehement und un-tersagte den Abdruck des Bildes. „Bielefelder Tageblatt“ vom 5. Juni 1878

Bereits am Morgen nach dem Attentat berichtete das konservative „Bielefelder Tageblatt“, dass Nobiling nicht nur „socialdemokratischen Tendenzen huldige“, sondern auch wiederholt „socialdemokratischen Verhandlungen beigewohnt“ und „schon seit acht Tagen die Absicht gehabt“ habe, „den Kaiser zu erschießen“. Einige Tage später war zu lesen, dass „die Vernehmung des Verbrechers“ ergeben habe, dass „die geistige Luft, die er geathmet, in welcher seine Handlung groß geworden sei, die socialdemokratische Lehre gewesen ist.“ Zwei Wochen später wandte sich der Berliner Untersuchungsrichter an die Öffentlichkeit, kritisierte die Berichterstattung im gesamten Deutschen Reich und teilte mit, dass seit dem Attentat eine Vernehmung Nobilings aus gesundheitlichen Gründen gar nicht möglich gewesen war.

Die Empörung über die Attentate auf den Kaiser war selbstverständlich auch in der liberalen Bielefelder Tageszeitung „Der Wächter“ groß. Aber im Gegensatz zu den Konservativen nahmen die Liberalen den Attentäter selbst in die Pflicht. Bereits nach dem Attentat im Mai 1878 sah der „Wächter“ den Anschlag nicht als politische Tat einer Partei, sondern vielmehr die „eines Wahnsinnigen“. Und voller Hoffnung schrieb ein Redakteur: „Glücklicherweise ist die politische Lage Deutschlands nicht so beschaffen, daß man befürchten dürfte, das Attentat werde eine plötzliche Wendung unserer inneren Politik, einen Umschwung der inneren politischen Verhältnisse zur Folge haben.“ Als der Kaiser am 2. Juni schwer verletzt wurde, hielt der „Wächter“ an seiner Position fest, den Attentäter selbst in die Verantwortung zu nehmen: „Noch immer ist man im Zweifel darüber, man muß im Zweifel darüber sein, was den Dr. Nobiling zu seiner That veranlaßt haben mag. Er war ein gebildeter Mensch. Es ist nicht erwiesen, daß er aus sozialistischem Parteihasse seine Flinte gegen den Kaiser abgeschossen hat. Von vielen Seiten nimmt man daher an, daß es Noth gewesen, die ihn dazu getrieben hat, gewissermaßen mit Protest aus der Welt zu scheiden, durch eine ungeheure gräßliche That sein Leben zu beschließen. Seine Mutter hatte ihn verstoßen, sein Vater hat sich vor anderthalb Jahrzehnten selbst das Leben genommen, er scheint wenig Freunde gehabt zu haben, seine Lebensart läßt darauf schließen, daß es ihm keineswegs gut ergangen ist. Alle diese Momente legen die Ansicht nahe, daß man es mit einem, vielleicht sozialistisch angehauchten Menschen zu thun hat, der in seiner Noth, in seinem Haß gegen die Welt meinte, irgendetwas Ungeheures vollbringen zu sollen. Selbst wenn sozialistische Motive mit im Spiel gewesen sind, es ist jedenfalls die innere Unzufriedenheit und ein ziemlich verfehltes Leben, welches Nobiling zu seiner That getrieben hat.“

Das ging dem konservativen „Bielefelder Tageblatt“ zu weit, für das die „socialdemokratische Lehre“ an sich der eigentliche Ursprung des Verbrechens war. Sie würde „Haß gegen die Besitzenden und gegen die geschichtlich gewordene Staatsbildung“ predigen. „Aus einer Lehre, die alle Heiligthümer der Menschheit verspottet, die Edelmuth und Pflichttreue verdächtigt, die Wissenschaft und Wahrheitsliebe an den Pranger stellt, für welche der blinde Gehorsam gegen den Parteidienst im Handeln und der blinde Glaube an die Parteilosung im Denken die einzige Tugend und die einzige Wahrheit ist – was kann aus einer solchen Lehre Anderes entspringen als die That ruchloser Zerstörung, die sich zuerst gegen das Ehrwürdige und Heilige“, also gegen den Kaiser richtet? Und im Einklang mit der Konservativen Partei stehend, gab die Zeitung den Liberalen eine Mitverantwortung an dem jüngsten Attentat, weil sie nach Hödels Mordversuch Bismarcks Antrag nicht gefolgt seien, sozialdemokratische Bestrebungen zu verbieten. Die Botschaft war eindeutig: In der jungen Nation sollten Sozialdemokraten nicht mehr geduldet werden. Die Berichterstattung verfehlte ihre Wirkung nicht.

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Die Kampfgenossen- und Kriegervereine gehörten zu den patriotischen Vereinen im Deutschen Kaiserreich. Titel der Festschrift zum 40-jährigen Bestehen des Bielefelder Kampfgenossen-Vereins, Bielefeld 1905

Die Mitglieder des Bielefelder Kampfgenossen-Vereins, die am Abend des 2. Juni eine Versammlung abhielten, waren natürlich entrüstet, als sie vom Attentat hörten. Es herrschte Konsens, dass nicht nur gegen „die äußeren Feinde“, sondern auch „mit aller Entschiedenheit für das Wohl und die Ehre des durch innere Feinde bedrohten Vaterlandes einzutreten“ sei. Wenige Tage später erklärten sie in einer Resolution, dass sie „kein Mitglied sozialdemokratischer Vereine, auch niemanden, der sich zu sozialdemokratischen Tendenzen bekennt, in unserm Verein dulden werden.“ Den „Kampfgenossen“ wurde „die Pflicht“ auferlegt, in ihrem „Kreise jeder Handlung oder auch nur Äußerung mit offenem Mannesmute rücksichtslos entgegenzutreten, welche unser religiöses und patriotisches Gefühl verletzt oder auf den Umsturz göttlicher und menschlicher Ordnung und Autorität gerichtet ist“. Die Kriegervereine im Landkreis Bielefeld schlossen sich sofort dieser Resolution an. Dass es sich dabei nicht nur um ein Lippenbekenntnis handelte, zeigte sich am 6. Juni, als Kriegervereine der Stadt und aus dem Landkreis Bielefeld auf dem Kesselbrink an einem Feldgottesdienst teilnahmen. Als ein Hoch auf den Kaiser dargebracht wurde, behielt ein „Bursche in demonstrativer Weise seine Kopfbedeckung auf“ und sprach zudem „einige unverständliche Worte“ aus. Das „Bielefelder Tageblatt“ frohlockte, dass dem Burschen „in gerechter Weise der Standpunkt in alt hergebrachter Weise beigebracht“ wurde; er wurde verprügelt, der Polizei ausgehändigt und wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht gestellt. Das war keineswegs ein Einzelfall. Fast täglich berichteten die Zeitungen aus dem Großraum Bielefeld und aus dem Reich über „vaterlandslose Gesellen“, die von patriotischen Bürgern verprügelt wurden, fast täglich wurden Menschen denunziert und wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht gestellt. Wurde den Delinquenten anfangs wenige Wochen oder Monate Gefängnisstrafe auferlegt, so erhielten sie bald ein- oder zweijährige Haftstrafen. Ein Magdeburger „Kriegsgericht“ verurteilte einen zu einer zwölftägigen Reserveübung eingezogen Unteroffizier und Kesselschmied wegen Majestätsbeleidigung gar zu einer „zehnjährigen Festungsstrafe“. Obwohl das „Tageblatt“ forderte, „sozialdemokratische Umtriebe“ aufzudecken und gegen sie vorzugehen, klagte die Tageszeitung, dass „durch die schändlichen Attentate“ sich mit dem „Denunziationswesen […] leider auch eine böse Pflanze“ entwickelt habe. So lagen dem Bielefelder Kreisgericht drei Wochen nach dem Attentat „nicht weniger als 23 Denunziationen auf Majestätsbeleidigung“ vor.

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Bericht über bevorstehende Kündigungen von sozialdemokratischen Arbeitern der Ravensberger Spinnerei. „Bielefelder Tage-blatt“ vom 7. Juni 1878

Als die Ravensberger Spinnerei erklärte, dass sie „vom 20. Juni an jeden Arbeiter sofort entlassen“ werde, der „dann noch einem social-demokratischen Vereine angehört, social-demokratische Zeitungen hält oder sich durch seine Äußerungen als Anhänger dieser Partei kennzeichnet“, lobte das „Bielefelder Tageblatt“, dass endlich „in einem energischen Vorgehen gegen die Sozialdemokratie ein Anfang gemacht“ worden sei. Dagegen wandte sich die Tageszeitung entschieden gegen den Aufruf eines anonymen Bürgers, der forderte, dass „die Sozial-Demokraten aus jeder anständigen Gesellschaft auszumerzen“ seien. Man solle doch bitte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, gab das „Tageblatt“ zu bedenken, sondern vielmehr unter „Verführern“ und „Verführten“ unterscheiden. Während die einen der Bannstrahl treffen sollte, müssten „den zurückkehrenden Verführten stets unsere Arme offenstehen“. Es war gefährlich, sich im Juni 1878 zur Sozialdemokratie zu bekennen. Das war auch dem „sozialdemokratischen Wahlverein“ in Bielefeld bewusst. Wohl auch um seine Mitglieder und Sympathisanten zu schützen, erklärte er am 15. Juni seine Selbstauflösung. Damit waren aber die staatlichen Reaktion auf das Attentat und der gesellschaftliche Diskurs über die Sozialdemokratie keineswegs beendet. Bereits nach dem Attentat Hödels im Mai 1878 hatte Bismarck ein „Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie und ihre Agitationen“ gefordert, das für Links- und Nationalliberale allerdings auf eine generelle Beschränkung des Vereinsrechts abzielte. Mit überwältigender Mehrheit von 251 zu 57 Stimmen lehnte der Reichstag den Gesetzentwurf ab. Kaum zwei Wochen vor dem zweiten Attentat schrieb ein Redakteur des liberalen „Wächters“, dass der Widerstand des Reichstags gegen den Reichkanzler „den erwünschten Anlaß zu der längst geplanten Auflösung des Reichstages bieten“ könnte, „um durch eine Neuwahl eine günstige Majorität zu erzielen. Das Stichwort für die Neuwahl wird lauten: Die Opposition verweigert ihre Zustimmung zu Maßnahmen, welche den Kaiser vor Attentaten schützen sollen!“ Und so kam es auch. Am 11. Juni 1878 wurde der Reichstag gemäß Artikel 24 der Reichsverfassung aufgelöst. Die Neuwahlen sollten am 30. Juli stattfinden.

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Am 24. Mai 1903 weihte Bielefeld ein Denkmal für den fünf Jahre zuvor verstorbenen ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck ein. Es stand auf dem Niederwall in Sichtweite zum Rathaus. Stadtarchiv Bielefeld, Be-stand 400,3/Fotosammlung, Nr. 72-1-178

Die Bielefelder Liberalen waren empört. Aus ihrer Sicht konnte die Auflösung des Reichstags „durch nichts gerechtfertigt werden“. Da im Unterschied zum Mai die Nationalliberalen sich nun auch bereit erklärten, mit gesetzlichen Mitteln gegen die Sozialdemokratie vorzugehen, sahen sie in den Neuwahlen nur den Versuch, „einen willenlosen Reichstag“ zu schaffen, der „in einer ganzen Reihe anderer politischer und wirtschaftlicher Fragen, die mit dem Attentat schlechterdings nichts zu thun haben, die Wünsche der Regierung respective ihres spiritus regens, unbesehen gutheißt.“ Gemeint war natürlich der Reichskanzler, Fürst Otto von Bismarck (1815-1898). „Ist das eine offene Politik ohne Hinterhalt, wie sie in konstitutionell regierten Staatsformen herrschen soll?“, fragte der „Wächter“ und ahnte bereits, dass der Einfluss der Liberalen zurückgehen werde. 1878/79 wurde die „konservative Wende“ eingeläutet, wie Hans-Ulrich Wehler (1931-2014) den durch die Attentate forcierten politischen Wandel bezeichnete. Binnen weniger Tage änderte sich in der liberalen Presse die Berichterstattung über das Attentat. Stand anfangs die instabile Persönlichkeit des Attentäters im Mittelpunkt des Interesses, so wurde nun der „staatszerstörenden Kraft“ der sozialdemokratischen Lehre das Wort geredet. So fragte Kreisgerichtsrat Eduard Windthorst (1834-1914), der am 9. Februar 1878 zum Ehrenbürger Bielefelds ernannt worden war, auf einer „sehr zahlreich“ besuchten Monatsversammlung des liberalen Bürgervereins, wie es möglich gewesen sei, dass „zweimal sich eine ruchlose Hand erhob gegen das greise Haupt des Repräsentanten unserer Nation?“ Und selbstkritisch fügte er hinzu, dass die „Gutmüthigkeit“ der Liberalen, „von Jedermann stets das Beste zu halten, bis das Gegentheil erwiesen ist, manchmal fehlerhaft“ sei. Windhorst zielte in seinem Vortrag nicht auf die Attentäter ab, sondern auf die Rolle und Verantwortung der Sozialdemokratie für diese Attentate: „Die Grundlage ihrer Lehre ist die Verwerfung des bestehenden wirtschaftlichen und politischen Systems, gewaltsamer Umsturz der Staatsordnung ist ihr alleiniges Mittel zu ihrem Zweck. Übel sind in der menschlichen Gesellschaft stets vorhanden gewesen, der größte Theil der Menschheit ist von jeher in keiner beneidenswerthen Lage. Die Frage, wie hier abzuhelfen ist, nachdem man den Grund des Übels erkannt hat, beschäftigt die edelsten Herzen und erleuchtetsten Köpfe aller Nationen. Eines aber ist von vorneweg klar, daß nur durch die geordnete Gesellschaft geholfen werden kann. Daher darf man an die Gesellschaft und ihre Ordnung, den Staat, nicht Hand anlegen und ihre Autorität zerstören. Dieses aber thut die Sozialdemokratie. Sie bleibt nicht bei der theoretischen Erörterung, sie predigt vor verständnißlosen Massen unbewiesene Theorien, verlockende Luftbilder, die sich nie verwirklichen können, und fordert zu ihrer Verwirklichung offen den Umsturz, die Gewalt.“

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Eduard Windthorst (1834-1914). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-23-29

Bismarck, der nach dem Attentat kundgab, gegen die Sozialdemokratie einen „Vernichtungskrieg“ führen zu wollen, hätte Windthorst gewiss nicht widersprochen. Die Konservativen und mit ihnen das „Bielefelder Tageblatt“ rieben sich aber angesichts der neuen Töne die Augen: Sie wollten die Liberalen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Schließlich, so der unüberhörbare Tenor, sei der Liberalismus Schuld an dem Aufstieg der Sozialdemokratie gewesen, er hätte gar den „Nährboden“ für die „social-demokratische Lehre“ bereitet. Den konservativen „Reichsboten“ zitierend, war im „Tageblatt“ zu lesen: Die „Wurzel des Übels“ aber liegt „in dem Liberalismus […], den man von oben bis unten gehuldigt“ habe, der nach der Reichsgründung für eine Gesetzgebung verantwortlich war, die auch „unserem Wirthsleben“ geschadet habe. Das Bielefelder Wahlkomitee der Deutschkonservativen Partei präsentierte sich in einem Wahlaufruf als verlässlichen Partner der Regierung. Angesichts der „erschütternden Ereignisse der letzten Wochen“ dürfe die Mehrheit des Reichstags nicht gegen, sondern mit der Regierung stimmen. Daher wolle die Partei das deutsche Kaisertum und die monarchischen Institutionen „in ihrer Machtfülle erhalten und gegen alle Gelüste vertheidigen, welche dahin gehen, die Autorität immer mehr durch die Herrschaft der Majorität zu ersetzen.“ Es gelte, nicht nur die in der Vergangenheit verursachten „wirtschaftlichen und politischen Schäden […] zu heilen“, vor allem müsse „das sittliche und religiöse Leben des Volkes […] gepflegt und gehoben, die Achtung vor der christlichen Kirche und ihren Dienern […] erhalten und die Erziehung der Jugend zur Frömmigkeit und Gottesfurcht gefördert werden.“

Noch kurz vor der Wahl zeigten sich die Bielefelder Liberalen siegessicher. Über den Wahlaufruf der „Christlich-Conservativen“ lästerte der „Wächter“: „Absolute Kirchengewalt und absolutes weltliches Regiment, natürlich unter der Leitung von Junkern und Hoftheologen, das sehen diese Herren seit der Auflösung des Reichstages und seit dem von den Regierungsorganen begonnenen Kampfe gegen den Liberalismus schon als leicht zu erreichendes Ziel vor Augen.“ Die Konservativen erreichten ihr Ziel. In der Stadt Bielefeld konnten die Liberalen als stärkste Partei zwar einen Achtungserfolg erzielen, eindeutiger Sieger des Wahlkreises Bielefeld-Wiedenbrück wurde mit fast 6.500 Stimmen Vorsprung aber Heinrich Marcard (1806-1883), der im preußischen Militärjustizdienst stand und zu den frühen Antisemiten in Deutschland zählte. Während er in der Stadt Bielefeld seinem nationalliberalen Kontrahenten Wilhelm von Borries (1815-1890), der Besitzer des Gutes Eckendorf war, mit 271 Stimmen unterlag, betrug sein Vorsprung im Landkreis Bielefeld bereits 1.461 Stimmen. Im Kreis Wiedenbrück votierten nur 663 Wähler für die Liberalen gegen 6.089 für die Konservativen. Der außer Konkurrenz kandidierende Sozialdemokrat Wilhelm Pfannkuch (1841-1923), der wie Marcard nicht aus Bielefeld kam, erhielt im gesamten Wahlkreis nur 823 Stimmen. Während für den Nationalliberalen Wilhelm von Borries insgesamt 4.126 Wähler votierten, feierte der konservative Heinrich Marcard mit insgesamt 10.600 Stimmen einen beeindruckenden Wahlerfolg.

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Das amtliche Endergebnis der Reichstagswahl im Wahlkreis Bielefeld-Wiedenbrück. Auf den konservativen Kandidaten entfielen 68,2 % der Stimmen. „Bielefelder Tageblatt“ vom 7. August 1878

Für die Liberalen endete die Reichstagswahl in einem Desaster. Die Nationalliberalen bildeten zwar weiterhin mit 99 Sitzen die größte Fraktion, sie büßten aber 29 Mandate ein, während die beiden konservativen Parteien, die Deutsche Reichspartei und die Deutschkonservative Partei, 38 zusätzliche Mandate errangen und mit 116 Sitzen zur stärksten fraktionsübergreifenden Gruppe im Reichstag wurden. Auch die Linksliberalen der Deutschen Fortschrittpartei (DFP) verloren 9 und behielten nur noch 26 Sitze, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP), die bisher 12 Sitze behaupten konnte, verlor 3. Für Bismarck war der liberale Widerstand gegen seine Gesetzgebung damit gebrochen. Mit den Stimmen der beiden konservativen Parteien und der Nationalliberalen wurde das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ am 21. Oktober 1878 angenommen. Die Abgeordneten des Zentrums, die mit 94 Sitzen die zweitgrößte Fraktion stellten, der DFP und SAP votierten dagegen. Das „Sozialistengesetz“ sollte zunächst nur zweieinhalb Jahre gelten, wurde aber mehrmals verlängert und erst 1890 aufgehoben. Für den Ökonomen und Sozialwissenschaftler Gustav Schmoller (1838-1917) trug es „den Stempel einer brutalen Klassenherrschaft“, mithilfe dessen sozialdemokratische Vereine verboten, Druckschriften beschlagnahmt, „tausendfünfhundert Jahre Strafhaft verhängt“ und „neunhundert Sozialdemokraten außer Landes verwiesen“ wurden. „Aus dem Fegefeuer der Diskriminierung“, betonte Wehler, „ging die Sozialdemokratie gestärkt hervor […] 1890 begann der ‚Durchbruch‘ der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften zur Massenbewegung.“

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Der Wächter (1878)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Bielefelder Tageblatt (1878)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
  • Festschrift zur 40jährigen Jubelfeier des Bielefelder Kampfgenossen-Vereins und der 25jährigen Jubelfeier des Bielefelder Kriegervereins am 17. und 18. Juni 1905, Bielefeld 1905 (LgB J 90/37)

Literatur

  • Karl-Gustav Heidemann, Gemeinsam sind wir stark. Erste Organisationsbestrebungen Bielefelder Arbeiter in den Jahren 1848 bis 1878, in: Ridvan Ciftci/Wilfried Schrammen (Hrsg.), Gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft. Schlaglichter aus 150 Jahren sozialdemokratischer Geschichte in Bielefeld. Bielefeld 2018
  • Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2: Von Lassalles „Offenem Antwortschreiben“ bis zum Erfurter Programm 1863-1891, Berlin 1980 (Erstauflage 1898)
  • Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 2: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 1988
  • Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995

 

Erstveröffentlichung: 1.6.2018

Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 2. Juni 1878: Das Attentat auf Kaiser Wilhelm und seine Auswirkungen auf die Liberalen und Sozialdemokraten in Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2018/06/01/01062018, Bielefeld 2018

 

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