30. Dezember 1916: In Bielefeld wird erstmals eine Straßenbahn von einer Frau gefahren

• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

Die Nachricht war der Westfälischen Zeitung eine Mitteilung wert: Nachdem bereits seit einigen Wochen „der Schaffnerdienst in den Wagen der Bielefelder Straßenbahn zu einem beträchtlichen Teil von weiblichen Angestellten versehen“ worden war, sollte am 30. Dezember 1916 erstmals „das schwierige Amt des Wagenlenkers in Frauenhände gelegt werden“. Für die „Wagenführerin“ war zunächst die Strecke der Linie 2 von der Innenstadt nach Sieker vorgesehen, ein späterer Einsatz im gesamten Straßenbahnnetz und eine Erhöhung des weiblichen Beschäftigtenanteils auch in diesem „schwierigen Amt“ wurde vom Betriebsamt aufgrund der prekären Arbeitsmarktsituation während des Ersten Weltkriegs in Betracht gezogen. Bereits im ersten Kriegsjahr musste das Städtische Betriebsamt mehr als die Hälfte seiner Mitarbeiter für den Kriegsdienst freistellen: 315 von den 507 im Juli 1914 beschäftigten Angestellten und Arbeitern wurden eingezogen. Ihren Platz nahmen zunächst zumeist dienstunfähige Männer ein, die in einem Eilverfahren ausgebildet und aufgrund fehlender Qualifikation die im Feld stehenden Fachkräfte natürlich nicht vollwertig ersetzen konnten. Betriebliche Probleme hielten sich dennoch in Grenzen. So wurde 1915 über eine etwa 90-minütige Störung im Elektrizitätswerk berichtet, die auf „Unerfahrenheit der ungenügend ausgebildeten Überwachungsmannschaft“ zurückzuführen war. Auch die in der Öffentlichkeit befürchtete Erhöhung von Verkehrsunfällen mit Straßenbahnen, weil „ein Teil der Führer nur notdürftig ausgebildet war“, trat während der Kriegszeit nicht ein, unabhängig davon, ob die Straßenbahn von einem Mann oder einer Frau gelenkt wurde. Die meisten Unfälle gingen, wie auch schon vor dem Krieg, auf gefährliches Auf- und Abspringen der Fahrgäste während der Fahrt zurück.

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Waren sie als Schaffnerin oder Wagenlenkerin beschäftigt? Zwei Mitarbeiterinnen des Städtischen Betriebsamtes (1918). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 23-5-36

Der Erste Weltkrieg traf die Wirtschaft vollkommen unvorbereitet. Binnen weniger Tage wurden der Industrie, der Landwirtschaft und dem Handel hunderttausende Fachkräfte entzogen. Zahlreiche Betriebe mussten schließen, weil sie schlicht und einfach nicht mehr produzieren konnten. Dazu gehörten auch die Plüschfabriken von Bertelsmann & Niemann in Stieghorst und Julius Meyer in Sieker. Den Arbeiterinnen und Arbeitern seien aber keine „besonderen Nachteile aus diesen Stilllegungen“ entstanden, da sie „meist Land als Eigentum oder Pacht“ besaßen, stellte Heepens Amtmann Carl Bullrich (1846-1920) im September 1914 sehr optimistisch fest; sie hatten zwar nun keine baren Einkünfte mehr, konnten aber zumindest das Lebensnotwendigste aus der eigenen Landwirtschaft beziehen. Firmen der Rüstungsindustrie wiesen dagegen mit Nachdruck auf den Zusammenhang von einer siegreichen Kriegsführung und gesicherten Rüstungsproduktion hin, die extrem gefährdet war. Erst die Munitionskrise im Herbst 1914 führte dazu, dass seit 1915 reichsweit hunderttausende „kriegsverwendungsfähige“ Facharbeiter der Rüstungsindustrie freigestellt wurden. Der Arbeitskräftemangel war dennoch in allen Bereichen der Wirtschaft spürbar.

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Frauen und ältere Männer fuhren während des Ersten Weltkriegs Straßenbahnen und kontrollierten Fahrkarten (1917). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 23-5-35

Das lag auch daran, weil die Regierung in Bezug auf ihre Wirtschaftspolitik den Krieg vollkommen planlos begonnen hatte. Als infolge der Rekrutierung die Ernte 1914 hochgradig gefährdet war, appellierte die Regierung an den Patriotismus der Jugend und forderte sie auf, in den Sommerferien in der Landwirtschaft zu helfen. In allen wirtschaftlichen Bereichen reagierte die Regierung erst, als Probleme offenkundig auftraten. Bis Februar 1915 war ihr Handeln, wie Hans-Ulrich Wehler es formulierte, durch Improvisation bestimmt. Zu einer frühen Maßnahme gehörte das am 4. August 1914 erlassene Gesetz über die „Ausnahmen von Beschäftigungsbeschränkungen gewerblicher Arbeiter“, mit dem der Fachkräftemangel zwar nicht behoben werden konnte, das allerdings Frauen, die in männerdominierten Branchen bisher kaum beschäftigt wurden, den Arbeitsmarkt öffnete.

Für Frauen konnte der Krieg – außer der generell psychischen Belastung, den Vater, Ehepartner, Sohn oder Bruder an der Front in permanenter Lebensgefahr zu wissen – den Verlust der ökonomischen Sicherheit bedeuten. In einer Gesellschaft, in der für das Familieneinkommen primär Männer verantwortlich zeichneten, bedeutete die Einberufung des „Ernährers“ beinahe zwangsläufig die Hilfsbedürftigkeit der Ehefrauen und Kinder. Wenn sie über keine Ersparnisse oder wohlhabende Verwandte verfügten, erhielten sie als sogenannte „Kriegerfrauen“ finanzielle Unterstützung aus der kommunalen Armenkasse und an Festtagen die mildtätige Aufmerksamkeit der Kirchen und Kriegervereine. Viele Arbeiterinnen, die in rüstungsfernen Branchen arbeiteten oder in Firmen, die aufgrund des Fachkräftemangels schließen mussten, verloren ihre Beschäftigung oder mussten aufgrund der vorherrschenden niedrigen Frauenlöhne mit einem Verdienst auskommen, der für die Ernährung einer Familie kaum ausreichte.

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Es gibt kaum Fotos, die Frauenarbeit in Industrie und Gewerbe während des Ersten Weltkriegs thematisieren. Das Bild zeigt eine Frau in der Spinnerei Vorwärts  (um 1935). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-152-40

Allein im Amt Heepen hatte sich die Zahl der beschäftigten „Frauen und Mädchen“ im ersten Kriegsjahr fast halbiert: Waren am 1. Juli 1914 im sekundären Sektor 800 Arbeiterinnen beschäftigt, wurden am 1. Oktober 1915 nur noch 451 gemeldet; ein Rückgang um 43,7 Prozent! Die reichsweit konstatierte weibliche Arbeitslosigkeit mit ihren gravierenden ökonomischen und sozialen Folgen rief die Regierung auf den Plan. Appelle, die öffentlich ausgeschriebene Arbeit unter den hilfsbedürftigen Frauen und jugendlichen Arbeiterinnen gerecht zu verteilen, zielten darauf ab, möglichst nur ein Familienmitglied zu begünstigen, so dass viele Familien unterstützt werden konnten. Als jedoch das Kriegsbekleidungsamt im Dezember 1915 „Näharbeiten“ vergeben wollte, die „auf die einzelnen Kreise des Korpsbezirks nach dem Verhältnis der in den einzelnen Kreisen vorhandenen, durch den Krieg arbeitslos gewordenen Frauen und Mädchen verteilt werden“ sollten, gehörte die weibliche Arbeitslosigkeit im Amt Heepen anscheinend nicht mehr zu den großen Problemen des nördlichen Landkreises. „Mir ist von Arbeitslosigkeit der Frauen und Mädchen hiesiger Gemeinde nichts bekannt“, teilte der Gemeindevorsteher von Ubbedissen mit. Auch Brönninghausen meldete „Fehlanzeige“. In Oldentrup waren nach dem Bericht 14 Frauen arbeitslos, von denen acht „je nach vorhandener Arbeit“ und vier Frauen „halbe Tage“ beschäftigt waren, demnach also nur zwei „völlig arbeitslos“ waren. Lämershagen meldete eine Frau, eine Weißnäherin, die derzeit „nichts zu tun“ habe, und der Gemeindevorsteher von Altenhagen stellte fest: „Soweit mir bekannt ist, sind keine Mädchen und Frauen arbeitslos.“ Da Sieker eine Gemeinde mit vielen gewerblichen Betrieben war, von denen einige aufgrund des Fachkräftemangels schließen mussten, hätte man hier auch eine hohe weibliche Arbeitslosigkeit erwarten müssen. Der Gemeindevorsteher Eduard Meyer zu Sieker teilte jedoch mit, dass es ihm angesichts „der zu erledigenden dienstlichen Geschäfte“ nicht möglich war, „durch Umfrage der im anliegenden Fragebogen gestellten Fragen über die Zahl der arbeitslosen Mädchen und Frauen vornehmen zu können“. Er sah sich „daher genötigt, den Bogen unausgefüllt zurückzureichen.“

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Frauenarbeit in der Ravensberger Spinnerei (um 1950). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-124-71

Dieser Befund bedarf einer Erklärung. Es spricht sehr viel dafür, dass weibliche Arbeitslosigkeit auf dem Land nicht als gravierendes Problem wahrgenommen wurde, weil Frauen auf eigenem oder gepachtetem Land „weiterarbeiten“ oder bei einem Bauern mithelfen konnten. Darauf wies auch Heepens Amtmann Carl Bullrich im Februar 1916 hin: „Die Betroffenen haben aber zum größten Teile anderweit Beschäftigung finden können, was wenigstens in den mehr ländlichen Charakter aufweisenden Gemeinden namentlich in landwirtschaftlichen Betrieben“ geschehen sei. Obwohl ihr Verdienst sehr dürftig gewesen war, wurde eine besondere Notlage der Frauen von den Behörden im landwirtschaftlich geprägten Landkreis kaum wahrgenommen. Andererseits waren die „Herren Gemeindevorsteher“ keine besondere Hilfe bei der Erhebung der statistischen Daten. Konsequenterweise wandte sich Landrat Dr. August Beckhaus (1877-1945) im Mai 1916 an die Schulleiter in seinem Sprengel, wies auf die „große Überlastung“ der Gemeindevorsteher hin und bat sie, „annähernd zuverlässige Zahlen“ über die weibliche Arbeitslosigkeit zu ermitteln, was den Lehrern „durch Rundfrage bei den Schülern bei verhältnismäßig geringem Zeit- und Müheaufwand leicht gelingen dürfte.“ Die Fragebögen waren diesmal sorgfältiger und umfassender ausgefüllt, ihr Ergebnis wich kaum von der Frauenarbeitslosigkeit im ersten Kriegsjahr ab: Die Pädagogen meldeten 335 Frauen, „die für die Zuweisung von Heimarbeit für die Militärverwaltung in Betracht“ kämen. Da diese Näharbeiten in der ganzen Provinz Westfalen mittellosen Frauen angeboten wurden, werden allerdings nur wenige aus dem Amt Heepen davon profitiert haben.

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Die sehr schmutzige Arbeit in der Schleiferei gehörte zu den ungelernten Arbeiten, die während des Ersten Weltkriegs auch von Frauen ausgeübt wurden. Armaturenfabrik Bitter (um 1935). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-12-24

In der Stadt sah es anders aus. Hier ging die Initiative von den Firmen aus, die unter Arbeitskräftemangel litten. In Bielefeld war die Frauenarbeitslosigkeit nach Beginn des Krieges sehr hoch, weil der Absatz der Wäschefabriken einbrach und deshalb viele schließen mussten. Für die Arbeiterinnen interessierten sich vor allem die metallverarbeitenden Fabriken, deren Fachkräfte, wie beim Städtischen Betriebsamt, zu einem großen Teil eingezogen worden waren. Im November 1915 stellte die Handelskammer bei der Bezirksregierung in Minden einen Antrag auf Nachtarbeit für Frauen. Diese war zwar durch die Gewerbeordnung (§ 137, Absatz 1) verboten, konnte aber unter Berufung auf das Gesetz über die „Ausnahmen von Beschäftigungsbeschränkungen gewerblicher Arbeiter“ genehmigt werden. Diese Auffassung vertrat zumindest die Handelskammer. Sechs Bielefelder Firmen wollten die Frauen in zwei Zehnstundenschichten von 2 bis 22 Uhr arbeiten lassen. Es handelte sich um die Metallwaren- und Armaturenfabrik Wilhelm Bitter, die Fabrik für Präzisionsfahrradteile GmbH, die Fahrradteile- und Reisetaschenfabrik C. Lohmann, die Fahrradfabrik August Göricke, die Hansa Lloyd-Automobilwerke sowie die Schlosserei Wilhelm Deppe jun. Die großen metallverarbeitenden Fabriken wie die Dürkoppwerke, Kochs Adler oder die Ankerwerke sahen dagegen in der geltenden Arbeitszeitregelung „vorläufig“ keinen Handlungsbedarf. Die Handelskammer wies letztlich darauf hin, dass die Nachtarbeit nicht nur den Firmen helfe, sondern auch den „beteiligten Frauen […] eine willkommene Gelegenheit“ biete, „lohnende Beschäftigung zu finden.“

Regierungspräsident Georg von Borries (1857-1922) wollte aber die von der Handelskammer geschilderte Win-win-Situation nicht teilen. Zwar erlaube das Gesetz vom 4. August 1914, Beschäftigungsbeschränkungen der Gewerbeordnung zu lockern, dieses Instrument könne jedoch nur angewandt werden, „wenn ein dringendes öffentliches Interesse“ vorläge. Dieses sei zum Beispiel gegeben, wenn „es sich um die rechtzeitige Fertigstellung sehr eiliger, keinen Aufschub duldender Aufträge der Heeresverwaltung“ handelte. In diesem Fall würde auch kein allgemeiner Hinweis auf die Dringlichkeit ausreichen, sondern es müsse dezidiert über Art und Umfang des Auftrages und die Möglichkeit, festgesetzte Lieferfristen zu verlängern, Auskunft gegeben werden. Die Genehmigung der Nachtarbeit für Frauen könne also nicht pauschal, sondern nur in einem gut begründeten Einzelfall erteilt werden. Die Handelskammer respektierte zwar die Auffassung des Regierungspräsidenten, wies aber darauf hin, dass in den industriellen Ballungszentren die Genehmigung von Nachtarbeit für Frauen anscheinend großzügiger erteilt wurde.

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Frauenarbeit im Leinen-Windesaal der Mechanischen Weberei (1939). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-97-80

Der Regierungspräsident hatte wohl auch wegen seines Frauenbildes und der damit verbundenen spezifischen Rollenerwartung Probleme mit dem Antrag. Die Nachtarbeit brächte nicht nur gesundheitliche Risiken für die Arbeiterinnen mit sich, sondern sie würde auch den familiären Pflichten der Frauen entgegenstehen. Da sie während der Tagesstunden schlafen müssten, könnte „die den Frauen obliegende Fürsorge für ihre Familienangehörigen“ darunter leiden. Unter der Voraussetzung, dass „ein Bedürfnis nach einer erheblich über die durch die Gewerbeordnung bestimmten Grenzen der Frauenarbeit nachgewiesen“ werde, erklärte er sich bereit, „die Beschäftigung von Arbeiterinnen über 16 Jahren und, wo dies nach den Betriebsverhältnissen erforderlich erscheint, auch für jugendliche Personen zwischen 14 und 16 Jahren in zwei achtstündigen Schichten von etwa 6 oder 6 ½ Uhr morgens bis 10 oder 10 ½ Uhr abends unter Innehaltung je einer halbstündigen Pause auf Antrag zuzulassen.“ Wenn die Firmen aber nachweisen könnten, dass über einen streng befristeten Zeitraum aus kriegswichtigen Gründen die Produktion ausgeweitet werden müsse, dann könnten auch drei Achtstundenschichten unter der Voraussetzung genehmigt werden, dass die Frauen nur alle drei Wochen nachts arbeiten müssten. Die vom Regierungspräsidenten betonten „familiären Pflichten“ der Frauen, die einer Nachtarbeit eigentlich entgegenstanden, hatten sich letztlich den vaterländischen Pflichten im Krieg unterzuordnen.

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Frauenarbeit an einer mechanischen Spulmaschine in der Spinnerei Vorwärts (um 1935) Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-152-17

Während des Ersten Weltkriegs konnten Frauen in wesentlichen Bereichen des sekundären Sektors (Industrie, Gewerbe) Arbeit finden, die ihnen bislang verwehrt worden war. So ging kriegsbedingt der Anteil der Männer unter der Arbeiterschaft im Kaiserreich zwischen 1913 und 1918 um 23 % zurück, während der Frauenanteil um 46 % zunahm. Die Beschäftigung von Frauen bedeutete aber nicht, dass sie wie ihre männlichen Kollegen entlohnt wurden. Während der niedrigere Frauenlohn durchaus ein wirtschaftlicher Anreiz für die Firmen war, sahen männliche Kollegen in der Zunahme weiblicher Beschäftigung auch eine Gefährdung ihres eigenen Besitzstandes. Diskussionen über einen möglichen Lohnabbau aufgrund weiblicher Beschäftigung in vormals rein männlichen Arbeitsbereichen spiegelten die Ängste vieler Arbeiter und Gewerkschaften wider. Aber auch in gesellschaftlichen Kreisen des Kaiserreichs, die ein traditionelles Frauenbild priesen, stieß Frauenarbeit jenseits der kriegerischen Notwendigkeit oder gar in Hinblick auf mögliche Gleichberechtigung auf vehemente Ablehnung. So sprach sich zum Beispiel Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (1847-1934) zwar „für die Ausdehnung des Arbeitszwanges auf alle unbeschäftigten oder in nebensächlichen Berufen tätigen Frauen“ aus, um für den Krieg mehr Männer rekrutieren zu können. In einem Schreiben an Reichskanzler Theobald Bethmann-Hollweg (1856-1921) vom 23. Oktober 1916 wies er aber auch darauf hin, dass Deutschland „nach dem Krieg die Frau als Gattin und Mutter“ brauche. Es werde „trotz der starken Widerstände durchzugreifen sein, um den familienstörenden Einfluss der weiblichen Konkurrenz auszuschalten.“ Für die „Fortentwicklung unseres Volkes“ seien „nach dem Krieg gesunde soziale Verhältnisse, d.h. in erster Linie der Schutz der Familie notwendig“. Die Notwendigkeit, auf weibliche Arbeitskraft während des Krieges nicht verzichten zu können, bedeute eben nicht, dass die Emanzipation von Frauen gefördert werden sollte.

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Jubilarehrung der Mechanischen Weberei. Die Frauen hatten ihre Arbeit 1914 aufgenommen (1939). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-97-16

Dass Frauen als „Konkurrenz“ um die Arbeitsplätze für die heimkehrenden Männer auf keinen Fall geduldet werden sollten, machte eine Verordnung über Arbeitsschutz vom 12. November 1918 deutlich, die also am Tag nach der Kapitulation erlassen wurde. Diese hob das Gesetz über die Ausnahmen von Beschäftigungsbeschränkungen vom 4. August 1914 wieder auf und bestimmte, dass die „zugelassenen Ausnahmen […] höchstens noch 14 Tage“ galten. Regierungspräsident Georg von Borries informierte am 22. November 1918 die Bürgermeister und Landräte seines Bezirks über die Verordnung und wies an, dass die „erteilten Ausnahmeregelungen für die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern mit dem 28. November 1918 erlöschen.“

Frauenarbeit im Ersten Weltkrieg demonstrierte, dass Frauen in allen Wirtschaftsbereichen arbeiten konnten. Die emanzipatorische Wirkung ließ aber lange auf sich warten. Trotz Frauenwahlrechts (1918) und die im Grundgesetz verbürgte Gleichberechtigung von Männern und Frauen (1949) brauchten verheiratete Frauen noch bis 1977 die Erlaubnis ihres Ehemannes, wenn sie berufstätig sein wollten. Und noch heute werden Frauen im Durchschnitt schlechter entlohnt als Männer.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,12/Geschäftsstelle XII, Nr. 556: Überarbeit erwachsener Arbeiterinnen (1893-1920)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,3/Amt Dornberg, Nr. 744: Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken und deren Arbeitszeit (1879-1934)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,4/Amt Heepen, Nr. 1566: Arbeitslosigkeit (1914-1918)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Volkswacht, Westfälische Zeitung (1914-1918)
  • Jahresberichte des Städt. Betriebsamts Bielefeld (1914-1918) (LgB Z 40 Bie 12)
  • Mitteilungen der Handelskammer zu Bielefeld (1914-1916) (LgB Z 40 Bie 1)
  • 25 Jahre Handwerkskammer zu Bielefeld. Festschrift und Geschäftsbericht, Bielefeld 1925 (LgB Z 40 Bie 25)

Literatur

  • Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Göttingen 1978
  • Wolfgang Kruse, Frauenarbeit und Geschlechterverhältnisse, in: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/155330/frauenarbeit-und-geschlechterverhaeltnisse (November 2016)
  • Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 2: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 1988
  • Bernd J. Wagner, Zwischen vaterloser Familie und vaterländischen Pflichten – Kindheit und Jugend in Bielefeld während des Ersten Weltkriegs, in Ravensberger Blätter, Heft 1, 2014, S. 30-46
  • Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003

 

Erstveröffentlichung:  1.12.2016

Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J:, 30. Dezember 1916: In Bielefeld wird erstmals eine Straßenbahn von einer Frau gefahren, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2016/12/01/01122016, Bielefeld 2016

 

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