• Dagmar Giesecke, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
„Wir wollen keine Rache nehmen”, titelte die Freie Presse am 17. September 1951 ihre Berichterstattung über die feierliche Einweihung des jüdischen Betraumes in der Stapenhorststraße 35. „Der neue Betraum an der Stapenhorststraße konnte die Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde und die zur Einweihung geladenen Gäste nicht fassen. Dennoch entbehrte die kleine Feier nicht jener ergreifenden Stimmung, die dem Orte und all den bitteren Erinnerungen, die den Leidensweg der Juden in Deutschland begleiten, entsprach.”, ist im Artikel selbst zu lesen.

Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches” war jüdisches Leben in Deutschland so gut wie ausgelöscht. Viele waren ausgewandert, circa 160 000 Juden in den Konzentrationslagern umgekommen. Nur wenige hatten die Lager überlebt und kehrten in ihre einstige Heimat zurück, so auch nach Bielefeld. Max Hirschfeld, KZ-Überlebender, war im Sommer 1945 ebenfalls in seine Heimatstadt zurück gekommen. Während der NS-Zeit war er der Vertrauensmann der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Bezirksstelle Westfalen, und musste in dieser Tätigkeit auch die Deportationen in die Vernichtungslager vorbereiten. Er selbst wurde nach Theresienstadt verschleppt. Dem ehemaligen Bielefelder Rabbiner Dr. Hans Kronheim, der in die USA emigrieren konnte und nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt war, schrieb er im Oktober 1946, dass er sehr froh sei, das Martyrium überlebt zu haben. „Ich bin seit Juni 1945 wieder glücklich heimgekehrt und habe sofort den Aufbau der Bielefelder Gemeinde, die zur Zeit aus 73 Mitgliedern besteht, übernommen und hatte eine Fülle von Arbeit zu leisten, um wenigstens einen einigermaßen würdigen Gottesdienst als vornehmste Aufgabe zu leisten.” Er wurde der erste Vorsitzende der neu gegründeten Bielefelder jüdischen Gemeinde. Deren Mitglieder wohnten aber nicht nur in Bielefeld, sondern kamen auch aus Brackwede, Isselhorst, Gütersloh und Rheda. Um 1900 hatten noch über 1000 gläubige Juden und Jüdinnen allein in Bielefeld gelebt.

Über das Wohnungsamt erhielt die jüdische Gemeinde im Juli 1945 zwei Räume in der Laerstraße 9, dass ehemals der jüdischen Familie Stern gehörte. Einer diente als Büro, der andere als Gottesdienstraum. Das im April 1939 erlassene Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden führte zwangsläufig zur Schaffung so genannter Judenhäuser. Eines dieser Häuser war bis zu den Deportationen das Haus in der Laerstraße 9.
Der religiöse Neuanfang gestaltete sich allerdings recht schwierig. Für die Gottesdienste fehlten nicht nur Thorarollen und andere Kultgegenstände, sondern auch das Personal. Die Zurückgekehrten hatten mit der Ausübung religiöser Tätigkeiten meistens keine Erfahrung. Hilfe erhielt die jüdische Gemeinde von der britischen Besatzung, indem mosaische Soldaten übergangsweise als Vorbeter fungierten. Von ihnen erhielten die Gemeindemitglieder auch Gebetbücher.

Schon ein Jahr später diente ein einfacher Raum im Haus der Guttemplerloge in der Großen-Kurfürsten-Straße 51 als Gottesdienstraum. „Der Wiederaufbau, den die jüdischen Mitbürger planen und erhoffen, stellt sie vor gleich schwere Aufgaben wie die übrigen Bewohner […]. Das Eigentum der jüdischen Mitbürger unterliegt durchweg noch der Beschlagnahme […]. Den Schaden wieder gut zu machen – soweit eine Wiedergutmachung überhaupt möglich ist -, wäre eine Forderung der menschlichen Gerechtigkeit. Die Stadt Bielefeld wird alles in ihren Kräften stehende tun, um diese Pflicht zu erfüllen.”, teilte am 4. November 1947 die Westfälische Zeitung ihrer Leserschaft mit. So wurde ebenfalls der im Krieg durch 16 Bombentreffer stark in Mitleidenschaft gezogene jüdische Friedhof hinter dem Johannisfriedhof samt der Trauerhalle mit öffentlichen Mitteln wieder hergerichtet. Im April 1949 konnte feierlich die Leichenhalle der jüdischen Gemeinde übergeben werden. Gleichzeitig wurde für 388 ermordete Gemeindemitglieder ein Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof enthüllt. Ein weiterer Schritt in die Normalität.
Schnell wuchs die jüdische Gemeinde auf über 100 Mitglieder an, so dass ein größerer Betraum benötigt wurde. Mit dem Geld aus dem inzwischen verkauften Gelände in der Turnerstraße 5, auf dem von 1905 bis 1938 die neue Synagoge gestanden hatte, erwarb die Gemeinde das auf der Stapenhorstraße 35 stehende Gebäude. In der NS-Zeit diente es als jüdisches Altersheim. Neben der Einrichtung des Betraumes sollten dort Verwaltungsräume und Wohnungen eingerichtet werden.

Da alle Kultgegenstände in der so genannten Reichskristallnacht vernichtet worden waren, stellte die Neubeschaffung die Gemeinde vor eine große Herausforderung. Mitglieder der Christlichen Vereinigung junger Männer (heute Christlicher Verein junger Menschen CVJM) in Werther hatten in der Nacht zum 10. November 1938 die Thorarollen und andere Kultgegenständen der Werther Synagoge eingesammelt und über die Kriegsjahre auf dem Boden der Haller Kreissparkasse versteckt und somit gerettet. Juden kehrten aber nach Werther nicht wieder zurück. Der in Bielefeld ansässig gewesene Arthur Sachs, gebürtig aus Werther, war inzwischen aus dem Konzentrationslager nach Bielefeld zurück gekommen. Ihm wurden drei Thorarollen vom Werther Amtsdirektor Wilhelm Ellerbrake für den Bielefelder Gottesdienst übergeben. Als Dank dafür war Ellerbrake zur Einweihung und zum anschließenden Kiddusch (Segen am Shabbat über Wein und Brot) eingeladen.
Eigens für die Thoraeinholung hatte man den Berliner Rabbiner Peter Levinsohn gebeten, nach Bielefeld zu kommen. „Rabbiner Levinsohn […] legte seinen Predigtworten die Frage zugrunde, woher das jüdische Volk den Mut nehme, in jenes Land zurückzukehren, das ihm so unendliches Leid zugefügt habe. ‚Wir sind wiedergekommen nicht, um Rache zu nehmen, sondern weil es uns die Schrift so befiehlt. […] Wir sind sicher, daß es Christen und Juden in Deutschland gelingen wird, einen neuen Versöhnungsbund zu schließen.”, berichtete am 17. September 1951 die Freie Presse. „In feierlicher Prozession wurden darauf die Thorarollen durch den Raum getragen und […] geweiht. Nachdem der samtene Vorhang die heilige Lade wieder verdeckte, überbrachten die Ehrengäste der Kultusgemeinde ihre Glückwünsche.”, war im Westfalen-Blatt vom selben Tag zu lesen. Die Rednerliste war lang und prominent besetzt. Für das Kultusministerium überbrachte Frau Dr. Christine Teusch die besten Wünsche, für die Landesregierung Nordrhein-Westfalen sprach Oberkonsistorialrat Wellermann. Danach hatte der Regierungspräsident und Schulrat Dr. Spenger das Wort. Natürlich übermittelte auch Artur Ladebeck, Oberbürgermeister von Bielefeld, Segenswünsche. „Minister a. D. Carl Severing stellte seine Grußworte unter die Zielsetzung, den Kampf gegen die Unduldsamkeit zu aktivieren, den Hass zu hassen und die Nächstenliebe zu lieben.”, zitierte ebenfalls am 17. September das Westfalen-Blatt. Mit Pastor Gustav-Adolf Weller und Domkapitular Johannes Schmidt waren auch die beiden christlichen Kirchen an den Feierlichkeiten beteiligt.

Für Max Hirschfeld war es als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde und Hausherr eine besondere Freude, die Ehrengäste zu begrüßen und die einführenden Worte zu sprechen. Er bezog sich in seiner Rede auch auf die unterschiedlichen Standorte der gottesdienstlichen Stätten. Schon ab 1705 stand eine Fachwerksynagoge am Klosterplatz. Mitte des 19. Jahrhunderts war sie so baufällig, dass sie abgerissen werden musste. Ebenfalls am Klosterplatz wurde ein neues Gotteshaus errichtet und 1847 seiner Bestimmung übergeben. Ein gutes halbes Jahrhundert war dieser Bau Zentrum des Gemeindelebens. Erste Entwürfe für den Bau einer neuen Synagoge stam-men von 1902. Nach dem Bau und Inbetriebnahme und einer feierlichen Weihung der neuen Synagoge 1905 in der Turnerstraße. Lange stand das neue repräsentative Gotteshaus nicht. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannte auch in Bielefeld die Synagoge.
Der neue Betraum, der 100 Personen fassen konnte, wies einfach gestrichene Wände sowie bunte bleiverfasste Fenster auf. Für viele Jahre sollte er gottesdienstliche Heimat werden, wurde aber schon 1963 umgebaut und ein weiteres Mal feierlich eingeweiht, dieses Mal als Synagoge. Bis 2008 war die Stapenhorststraße 35 der Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Bielefeld.
Wegen schrumpfender Mitgliederzahlen in der evangelischen Kirche fusionierte 2005 die Paul-Gerhardt-Gemeinde mit der Neustädter Mariengemeinde. Da die Paul-Gerhardt-Kirche nun nicht mehr benötigt wurde, sollte sie verkauft werden. Die jüdische Gemeinde signalisierte Kaufinteresse und nach längeren Verhandlungen erhielt sie 2007 den Zuschlag. Nach dem Umbau, der zehn Monate gedauert hatte, wurde die neue Synagoge an der Detmolder Straße im September 2008 feierlich eingeweiht. Als bisher einzige jüdische Gemeinde hat sie heute ihr religiöses Zentrum in einer umgebauten evangelischen Kirche.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 240,001/Jüdische Gemeinde, Nr. 6a
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 85
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
Literatur
- Minninger, Monika/Anke Stüber/Rita Klussmann (Bearb.), Einwohner – Bürger – Entrechtete. Sieben Jahrhunderte jüdisches Leben im Raum Bielefeld (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 6), Bielefeld 1988
- Minninger, Monika, Aus einer Hochburg des Reformjudentums Quellensammlung zum Bielefelder Judentum des 19. und 20. Jahrhunderts (11. Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg), Bielefeld 2006
- Verlorener Raum. Geschichte der Bielefelder Synagoge 1905 – 1938 – 2005, Bielefeld, Bielefeld 2006
Erstveröffentlichung: 1.9.2011
Hinweis zur Zitation:
Giesecke, Dagmar, 16. September 1951: Die jüdische Gemeinde weiht ihren Betraum ein, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2011/09/01/01092011/, Bielefeld 2011