• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
Am 15. Mai 1954 verpflichtete sich die Stadt Bielefeld in einer Patenschaftsurkunde, den Heimatvertriebenen des Kreises Gumbinnen eine Stätte zu bieten, „an der sie das Andenken an ihre verlorene Heimat lebendig erhalten” können. Seit 55 Jahren pflegt die Stadt diese Patenschaft über den vormals ostpreußischen Kreis Gumbinnen, indem sie die Arbeit der Kreisgemeinschaft Gumbinnen fördert und inzwischen auch das heutige Gusev (Russland) durch Austausch und Hilfen unterstützt. Der Start in diese Patenschaft erfolgte schnell – und holprig.

Das etwa 90 Kilometer östlich von Königsberg liegende Gumbinnen/Gusev war eine klassische ostpreußische Verwaltungsstadt: Hier residierten Regierungspräsident, Landrat und Bürgermeister sowie zahlreiche Behörden. Das 1580 urkundlich ersterwähnte und 1724 zur Stadt erhobene Gumbinnen zählte 1939 etwa 25.000 Einwohner, der aus 157 Landgemeinden und zwei Gutsbezirken bestehende gleichnamige Kreis etwa 55.000. Der von Deutschland entfachte Zweite Weltkrieg erreichte Gumbinnen nach ersten Bomberangriffen 1941 erst im Oktober 1944 in voller Intensität: Am 16. Oktober verwüstete ein schwerer Luftangriff die Innenstadt, am 20. Oktober musste die Zivilbevölkerung die Stadt verlassen, vom 21. bis 23. Oktober tobte südlich Gumbinnens eine schwere Panzerschlacht. Bis zum 21. Januar 1945 blieb die deutsche Frontlinie erhalten, ehe die Rote Armee Gumbinnen besetzte. Zu diesem Zeitpunkt war der größte Teil der Stadtbevölkerung bereits Richtung Westen geflohen.

Auch nach Bielefeld: Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden Flüchtlinge und Vertriebene aus den früheren deutschen Gebieten im Osten in der Stadt am Pass des Teutoburger Waldes Aufnahme. Bis April 1946 waren 14 Transporte aus dem Osten eingetroffen. Am 31. Juli 1952 lebten in Bielefeld über 34.000 Flüchtlinge und Vertriebene. Ihr Anteil an der städtischen Gesamtbevölkerung betrug damals überdurchschnittliche 20,8 Prozent, der Landesdurchschnitt lag bei 11 Prozent. Und dennoch appellierte Bielefelds erster Nachkriegsbürgermeister Artur Ladebeck an die Bevölkerung: „So arm wir auch alle sein mögen, eines ist uns geblieben, die Bereitschaft zur Hilfe und der ernste Wille, daß niemand in seiner Not alleinstehen darf.” Die Ernährungs- und Wohnverhältnisse waren in der zu fast 40 Prozent zerstörten Stadt ohnehin prekär. Unter anderem am Kammermühlenweg entstanden neue Wohnungen für Vertriebene, so dass die Sammellager nach und nach aufgelöst werden konnten. Es blieben indes zunächst Integrationsprobleme gerade für die jugendlichen Vertriebenen sowie Schwierigkeiten bei der Existenzgründung und Arbeitsplatzsuche.

Anfang der 1950er Jahre trafen in Bielefeld wiederholt Anregungen und Anträge für Patenschaftsübernahmen für andere Städte und Kreise im vormals deutschen Osten ein: 1951 für Striegau, 1952 für den Kreis Schweidnitz und für Insterburg, 1953 für Lyck und Rastenburg. Der Zuschlag ging jedoch an Gumbinnen, das 1951 erstmalig vorgeschlagen und im Juli 1953 durch die Landmannschaft Ostpreußen offiziell beantragt worden war. Das Engagement des Paten Bielefeld stellte sich der Vorsitzende der Kreisgemeinschaft Gumbinnen, Hans Kuntze (Hamburg), wie folgt vor: Angebote von Lehrstoffen und Büchern über den deutschen Osten und insbesondere Gumbinnen in Volkshochschule und Stadtbücherei, Räumlichkeiten für ostpreußische Lesestudien, öffentliche Tafeln/Hinweise auf Gumbinnen in Schulen, städtischen und anderen öffentlichen Gebäuden, Unterstützung kultureller Veranstaltungen vertriebener Künstler und Wissenschaftler, Stipendien und Ausbildungsbeihilfen für begabte Jugendliche und Unterstützung bedürftiger Jugendlicher aus Gumbinnen, Unterstützung der Heimatortskartei und des Kreisarchivs sowie von Veranstaltungen der Kreisgemeinschaft und schließlich Hilfen bei der Eingliederung Vertriebener in Arbeit. Über diesen „Wunschzettel” der Kreisgemeinschaft verhandelten seitens der Stadt Kulturdezernent Paul Jagenburg und Dr. Walter Grajetzky Ende 1953 mit den Vertretern der Kreisgemeinschaft, Kuntze und Roderich Walther, dem ehemaligen Gumbinner Landrat. Nachdem der Bielefelder Hauptausschuss am 12. Oktober 1953 für eine Patenschaftsübernahme votiert hatte, folgte der Rat am 28. April 1954 dieser Empfehlung und beschloss einstimmig, eine Patenschaft Bielefelds zunächst für die Stadt Gumbinnen. Dass die Stadt Bielefeld eine Patenschaft über den Kreis Gumbinnen übernahm und nicht allein über die Stadt, war dem Zögern des Kreises Bielefeld zuzuschreiben, der sich noch nicht erklärt hatte. Im Oktober 1953 nämlich hatte die Stadt Bielefeld dem Kreis vorgeschlagen, parallel eine Patenschaft über den Kreis Gumbinnen zu übernehmen. Eine Beschlussfassung des Bielefelder Kreisausschusses verzögerte sich, obwohl die Presse bereits am 22. Januar 1954 berichtete, dass sich auch der Kreis beteiligen werde. Dem Kreis missfiel das ohne Zustimmung erfolgte und als bevormundend empfundene Vorpreschen der Stadt und der Kreisgemeinschaft. Die Zeit drängte: Mitte März 1954, also zwei Monate vor den vereinbarten Feierlichkeiten, wandte sich Kuntze an Jagenburg: „Leider höre ich nichts vom Landkreis”.

Dort schlugen die Wellen bei der Sitzung des Kreisausschusses am 20. April 1954 hoch. Die Kreisverwaltung hatte inzwischen festgestellt, dass die Landmannschaft Ostpreußen mit den kommunalen Spitzenverbänden die Verteilung der Patenschaften regelrecht ausgehandelt hatte: „Ein spezieller Grund für die Übernahme der Patenschaft für die Stadt Gumbinnen ist nicht ersichtlich.”, so Oberkreisdirektor Helmut Schütz. Die Mitglieder des Kreisausschusses debattierten über die beschädigte eigene Entscheidungshoheit, über die unkalkulierbaren Kosten, sahen eher eine Verpflichtung gegenüber den im Kreisgebiet stark vertretenen Vertriebenen aus Schlesien, befürchteten eventuell „keine innere Verbindung” und meinten, dass die Landmannschaften „nur noch den Heimatgedanken und nichts anderes mehr kennen”. Landrat Franz Specht hatte auch von Kuntze keine klare Antwort auf die Pflichten einer Patenschaft erhalten, so dass im Plenum vermutet wurde, die Stadt Bielefeld habe die Patenschaft „in ihrer Auswirkung noch nicht erkannt”. Offensichtlich knisterte es hier auch zwischen Landrat Specht und Oberkreisdirektor Schütz: Letzterer erinnerte ausgleichend an die Verlegenheit der Stadt Bielefeld, wenn der Kreis nicht mitziehe.

Specht dagegen reagierte empfindlich auf die städtischen Beschlüsse und meinte, dass die Stadt Bielefeld nach ihrer Zusage „zusehen muß, wie sie fertig wird. Durch die Machenschaften der Stadt Bielefeld kann sich der Kreisausschuß in seiner Beschlußfassung nicht beeinflussen lassen.” Folgerichtig einigte sich das Gremium darauf, die Stadt Bielefeld zu „veranlassen”, die Doppelpatenschaft über Kreis und Stadt Gumbinnen zu übernehmen, allenfalls wolle man vorbehaltlich der Zustimmung des Kreistages 500 DM für das bevorstehende Heimattreffen leisten.
Der Zug nach Gumbinnen war für den Kreis damit abgefahren. Der Kreisausschuss lehnte die Patenschaft ab, da im Kreisgebiet kaum Gumbinner wohnten, und ließ eine Patenschaft für die Kreise Strehlen, Münsterberg oder Neustadt-Stadt/-Land in Oberschlesien prüfen, aus denen 1945/46 in fünf geschlossenen Flüchtlingstransporten zahlreiche Menschen gekommen waren. Pate wurde der Kreis Bielefeld aber schließlich doch noch: Am 24. Oktober 1956 überreichte Landrat Specht die Patenschaftsurkunde über das schlesische Wansen, aus dem im August 1946 zunächst 1.600 Vertriebene nach Bielefeld und damit auch in den Kreis gekommen waren.
Das Vorgehen des Kreises bei der Gumbinner Patenschaft verarbeitete die Westfälische Zeitung am 12. Juni 1954 im „Bielefelder Tagebuch” in Gedichtform:
„Ein Patenkreis muss schnellstens her –
Dem Kreistag fiel Beschluß nicht schwer.
Gar viel Bedenken aber ließen
nicht zu, der Stadt sich anzuschließen.
Man ließ sich nicht dazu verführen,
Gumbinnen-Land zu akzeptieren,
und sucht, bis man das Rechte find´t,
nun weiter nach dem Patenkind.
So tritt der selt´ne Fall hier ein:
Leicht ist es, Pate wohl zu sein,
dagegen scheint es schwer auf Erden,
ein Pate erst einmal zu werden.”
Indes waren die Bielefelder Stadtverwaltung und Kreisgemeinschaft trotz des Zauderns im Kreis nicht untätig geblieben, und am Wochenende 15./16. Mai 1954 war es schließlich soweit: „Bielefeld grüßt die Gumbinner” empfing ein Schild auf dem Bielefelder Bahnhofsvorplatz etwa 2.000 Teilnehmer – „sogar aus Westberlin und der Mittelzone”, wie die Freie Presse am 17. Mai 1954 schrieb – zum Bundestreffen der Gumbinner. Den Auftakt gestaltete die Übergabe der von Oberbürgermeister Dr. Hermann Kohlhase unterzeichneten Patenschaftsurkunde in der Aula des Ratsgymnasiums. Unter den großformatigen Stadtwappen Gumbinnens und Bielefelds überreichte Bürgermeister Martin Vogeler das Dokument an Hans Kuntze. Mit der Patenschaftsübernahme erklärte Bielefeld seinen Willen, „das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit den Heimatvertriebenen in Anknüpfung an das geistige Erbe des deutschen Ostens zu vertiefen”. Gleichzeitig sollte den Heimatvertriebenen des Kreises Gumbinnen eine Stätte geboten werden, „an der sie das Andenken an ihre verlorene Heimat lebendig erhalten” konnten. Schließlich gelobte Bielefeld sein Bemühen, an der „Überwindung besonderer Notstände” unter den Vertriebenen Gumbinnens mitzuwirken.

Die inhaltliche Auslegung des Urkundentexts konnte unterschiedlich ausfallen. Während dieser faktisch neutral und im Sinne des besprochenen Engagements Bielefelds ausgefallen war, erkannte Hans Kuntze darin ein „lebendiges Zeichen für das politische Wollen des deutschen Volkes, auf das Heimatrecht nicht zu verzichten und einst in seinen alten angestammten Grenzen wieder frei leben zu können” in einer Zukunft, „wenn unser Land uns wieder aufnimmt, als die angestammten Hüter westlicher Kultur und Wirtschaft”. Dieser zwischen den Zeilen erkannte Anspruch wie überhaupt die Arbeit der Kreisgemeinschaft wurde später von kritischen Initiativen und Gruppen als Revanchismus getadelt, der den Verlust vormals deutscher Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie nicht anerkannen wollte. War die Übernahme der Patenschaft noch 1954 einhellig von allen Parteien beschlossen worden, wurde jetzt von Außen immer wieder die Aufkündigung gefordert. Eine Broschüre wollte 1986 durch „eine sorgfältige Untersuchung der Aktivitäten, Schriften und Aussagen” revanchistische Tendenzen der Kreisgemeinschaft Gumbinnen nachweisen. Zu einer Aufkündigung ist es freilich nicht gekommen und die Arbeit der Kreisgemeinschaft ist heute weit von jeglichem Revanchismus entfernt.

Eine weithin sichtbare Erinnerung an den ehemaligen Kreis Gumbinnen schreitet seit 1961 durch den Bürgerpark: Der „Gumbinner Elch”. Eine erste Initiative für dieses Denkmal startete im Januar 1958 Dr. Wilhelm Niemeyer vom Bielefelder Vertriebenenamt, das die Patenschaft Bielefelds über Gumbinnen verwaltete. Die Finanzierung des Monuments wurde u.a. durch einen „Elchgroschen” gesichert, den die Kreisgemeinschaft seit Mitte 1958 sammelte. Verschiedene Standorte wurden vorgeschlagen, so an der Obernstraße bei der Bavink-Schule, bei der Jungenberufsschule an der Heeper Straße oder bei der Mädchenberufsschule an der Huberstraße. Der Vertriebenenausschuss plädierte für den Heimat-Tierpark Olderdissen, der Rat wollte dem in einer nur 26minütigen Sitzung jedoch nicht folgen, schließlich sollte das Standbild „keine zoologische, sondern eine politische Funktion erfüllen”, wie die Freie Presse am 25. Februar 1960 berichtete. Am 26. Februar 1960 brachte ein mit „H.K.” (Hans Kuntze?) gezeichneter Leserbrief im Westfalen-Blatt den Bürgerpark in die Diskussion. Nachdem eine liegende Darstellung des Elches verworfen wurde („Nur tote Elche legen sich”), konnte das vom Bildhauer Prof. Hans Ruwoldt aus Hamburg gefertigte, 600 Kilogramm schwere Bronzedenkmal am 24. September 1961 eingeweiht werden. Seitdem wird der lebensgroße Elch bei den Gumbinner Heimattreffen in Bielefeld immer wieder aufgesucht.

Bis heute hält die Kreisgemeinschaft Gumbinnen diese Versammlungen jährlich in Stieghorst ab. Und wer dem Bielefelder Oberbürgermeister bei einer festlichen Gelegenheit begegnet, wird an dessen Amtskette auch das Wappen der Stadt Gumbinnen erkennen, das neben neun anderen Wappen und Emblemen von Paten- und Partnerstädten als Zeichen der Völkerverständigung glänzt. Das 1722 verliehene schräglinks geteilte Wappen zeigt oben den schwarzen preußischen Adler mit seinen Attributen und unten einen steigenden, schwarzen Pfeil. Die russische Stadt Gusev hat das Wappen freilich verändert, indem es aus nachvollziehbaren Gründen den Preußenadler durch den unpolitisch daherschreitenden Elch ersetzt hat.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse- und Verkehrsamt, Nr. 62: Patenschaft Gumbinnen (1954-1961)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse- und Verkehrsamt, Nr. 288: Patenschaft Gumbinnen (1953-1972)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse- und Verkehrsamt, Nr. 289: Patenschaft Gumbinnen (1953-1968)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse- und Verkehrsamt, Nr. 291: Patenschaft Gumbinnen (1953-1971)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 140/Protokolle, Nr. 1452: Kreisausschuss Bielefeld (1950-1954)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 270,10/Kreisarchiv Gumbinnen, Nr. C 7 E, 15: Bilder aus dem Kreis und der Stadt Gumbinnen (Fotoalbum)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 270,10/Kreisarchiv Gumbinnen: Patenschaftsurkunde Bielefeld-Gumbinnen (1954)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 72-1-252
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,4/Fotoalben, Nr. 81: Wiederaufbau Bielefeld (1948-1953)
Literatur
- Gebauer, Otto, Gumbinnen. Stadt, Kreis, Regierungsbezirk (Gumbinner Heimatbuch), Leer 1958
- Grenz, Rudolf, Stadt und Kreis Gumbinnen. Eine ostpreußische Dokumentation, Marburg 1971
- Pütz, Hans-Georg, Gumbinnen heißt heute Gusev. Bielefelds Patenschaft mit Gumbinnen – Ein Kind des Revanchismus, Bielefeld 1986
- Sticklies, Herbert/Dietrich Goldbeck, Gumbinnen – Stadt und Land. Bilddokumentation eines ostpreußischen Landkreises, 2 Bde., Bielefeld 1985
- Stüttgen, Dieter, Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Gumbinnen 1871–1920, Köln 1980
Erstveröffentlichung: 01.05.2009
Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 15. Mai 1954: Bielefeld übernimmt die Patenschaft für Stadt und Kreis Gumbinnen in Ostpreußen, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2009/05/01/01052009/, Bielefeld 2009