6. Juni 1964: Paul Griesser, Architekt und Professor an der Werkkunstschule, stirbt in Bielefeld

• Dagmar Giesecke, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

„Nur wenige Minuten nach der Beendigung der Feier zur Stadtgründung am Sonnabendvormittag […] erreichte uns die Nachricht: Paul Griesser, 35 Jahre als Lehrer an der Werkkunstschule tätig und ebenfalls Träger des Bielefelder Kulturpreises (1958), ist nach schwerer Krankheit im Alter von fast 70 Jahren gestorben”, so zu lesen im Nachruf der Westfälischen Zeitung vom 8. Juni 1964.

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Kulturpreisträger Prof. Paul Griesser, Foto: Lohöfener, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-7-10

Am 6. September 1894 kam Paul Griesser im württembergischen Wasseralfingen bei Aalen zur Welt. Er absolvierte eine Tischlerlehre, arbeitete in einer Möbelfabrik und besuchte anschließend die Süddeutsche Schreinerfachschule in Nürnberg. Mit gerade erst 19 Jahren erhielt Griesser eine Anstellung als Zeichner bei den Raumkunst-Werkstätten in Dresden. Als weitere Ausbildung folgte ein Studium der Architektur, danach die Tätigkeit als Holzbildhauer an der Kunstgewerbeschule in Stuttgart. Ende 1924 kam Paul Griesser nach Bielefeld. Kurze Zeit zuvor war gerade Richard Woernle, ebenfalls gebürtiger Schwabe, nach dem Tod von Max Wrba als neuer Direktor der Werkkunstschule berufen worden. Griesser übernahm die Klassen für Innenarchitekten, Tischler und Bauhandwerker. Zur selben Zeit erhielten die künstlerischen Leiter der Fachklassen an Handwerker- und Kunstgewerbeschulen den Titel Professor, so auch Paul Griesser. Weitere Veränderung fand in der generellen Neuorganisation der Werkkunstschule statt. Durch die Verlagerung der Bauhandwerke in den Abendbetrieb konnte eine reine Innenarchitektur- und Tischlerfachklasse eingeführt werden. Mit der Konstellation Woernle – Griesser gewannen Architektur und Innenausbau wesentlich an Einfluss. Der Unterricht teilte sich fortan in Unter- und Oberstufe. Griesser übernahm die Oberstufe. Schon im Mai des nächsten Jahres präsentierte er eine Ausstellung zum Thema „Neuzeitliche Wohnräume” im Städtischen Museum. Möbel und Entwürfe wurden gleichzeitig beim reichsweiten Wettbewerb der Zeitschrift „Innenarchitektur” ausgezeichnet. Griesser entfernte sich mehr und mehr vom herkömmlichen Denken in „Garnituren” und zeigte freier kombinierbare Einzelmöbel. Der schon 1912 in Düsseldorf gegründete WK-Verband „Deutsche Werkstätten für Wohnungskunst” wurde bis zu dem 1926 von Professor Griesser entwickelten Möbelsystem im öffentlichen Raum kaum wahrgenommen. Über Nacht wurde der Verband zum Marktführer. Und Paul Griesser gilt bis heute als Erfinder der Anbaumöbel.

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Bürogebäude des Bankhauses Lampe, entworfen von Paul Griesser, ca. 1955; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-2170-193

1928 erhielt Griesser das Angebot, für die Stuttgarter Werkbundsiedlung als Innenarchitekt tätig zu sein. Ebenfalls war er an der Ausstellung „Deutsche Kunst Düsseldorf” im Bereich Raumkunst beteiligt. Paul Griesser, ursprünglich nur der Gestaltung des bewohnten Raumes verschrieben, entdeckte in der ersten Hälfte der 1930er Jahre eine neue Herausforderung für sich, die so genannte „große Architektur”. In Hameln baute er 1932 sein erstes Wohnhaus. „’Seitdem baute ich munter weiter‘, erzählt Prof. Griesser, ’nur leider nicht immer ganz unbehindert. Denn als ich gerade die Vorzüge des Flachdaches entdeckt hatte, brach die Zeit der Gleichschaltung herein, in der nur der deutsche Spitzgiebel als ‚völkisch artgemäß‘ galt”, berichtete die Westfälische Zeitung am 4. Januar 1962. Griesser war 1933 neben dem Tischlermeister August Peter einziges Parteimitglied in der Werkkunstschule.

Sein erster Großbau entstand 1935/36 an der Lutterstraße. Es war das Fabrik- und Bürogebäude der Firma Oetker. In derselben Zeit entwarf er weitere fünf Häuser u. a. in Brackwede und Steinhagen sowie diverse Inneneinrichtungen. 1937 wurde Paul Griesser zum Vertrauensarchitekten des Amtes „Schönheit der Arbeit” des Gaus Westfalen-Nord. In einem Brief vom 28. März 1939 schrieb er über diese Tätigkeit dem Regierungspräsidenten:„Die vom Amt Schönheit der Arbeit durchzuführenden Aufgaben Betriebsneubau, der Bau von Gefolgschaftshäusern und Feierabendstätten, Umbauten von Betriebsanlagen, kurz die Planungen aller Einrichtungen, die zum Wohle des deutschen Arbeiters und zur Steigerung seiner Leistung geschaffen werden sollen, werden von mir in Zusammenarbeit mit dem Amt Schönheit der Arbeit geprüft. Diese Tätigkeit ist ehrenamtlich. Ist eine Durchführung nach den gegebenen Richtlinien des Reichsamtes Schönheit der Arbeit durch die von den Auftraggebern, Betriebsführern beauftragten, meist ortsansässigen Architekten, nicht garantiert, so werde ich mit der Überarbeitung bzw. Neuplanung der betr. Bauaufgabe betraut.”

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Wohnzimmer mit Kommode (1930). Paul Griesser, Die neue Wohnung und ihre Möbel, Stuttgart 1930, S. 9.

Als erster Lehrer der Werkkunstschule wurde Paul Griesser Ende August 1939 zur Wehrmacht eingezogen und geriet 1945 kurz in Gefangenschaft. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches” sollte die Werkkunstschule 1946 wieder eröffnet werden. Bis auf die Paul Griesser erhielten alle vorgeschlagenen Lehrer von der Militärregierung ihre Lehrzulassung. Aber schon 1947 war auch er wieder an der Schule tätig. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitete er als freier Architekt im Bund Deutscher Architekten. Am Wiederaufbau der Stadt Bielefeld war Griesser an prominenter Stelle beteiligt. Er gewann den Wettbewerb für die Neugestaltung des Alten Marktes mit dem Crüwell-Haus, der ehemaligen Kupferschen Apotheke und Bankhaus Lampe. Verantwortlich zeichnete sich Griesser auch für das als Hochhaus gebaute Bürogebäude des Bankhauses Lampe an der Welle 8 und das Verwaltungsgebäude mit integrierter Tankstelle der früheren Firma Rückwarth in der Kreuzstraße/Ecke Siekerwall.

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Der von Paul Griesser neu gestaltete Alte Markt mit dem Crüwell-Haus, der ehemaligen Kupferschen Apotheke und dem Bankhaus Lampe; Stadtarchiv Bielefeld, 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-0045-033

Im April 1959 wurde Paul Griesser mit dem Kulturpreis 1958 der Stadt Bielefeld ausgezeichnet. Feierlich wurde ihm der Preis von Arthur Ladebeck, Bielefelder Oberbürgermeister, im Theater am Alten Markt überreicht. „Professor Griesser sagt, er wolle sich der großen Auszeichnung auch in Zukunft würdig erweisen. Er fühle sich als ein Bürger dieser Stadt, in der er die längste Zeit seines Lebens verbracht habe. In wenigen Worten, in denen Zurückhaltung und Humor mitschwangen, schilderte er seinen Zuhörern den Tag seiner ersten Begegnung mit Bielefeld vor 35 Jahren, als er unter Oberbürgermeister Dr. Stapenhorst das Amt eines Lehrers an der damaligen Handwerker- und Kunstgewerbeschule übernahm. Als er aus dem Bahnhof getreten sei, habe er bei sich gedacht: ‚Schön ist die Stadt nicht‘, und am liebsten wäre er sofort wieder abgefahren. Großen Eindruck aber habe die Sparrenburg und die Bekanntschaft mit dem warmherzigen Oberbürgermeister auf ihn gemacht, nicht zuletzt Gründe, die mich zum Bleiben bewogen”, berichtete das Westfalen-Blatt am 20. April 1959.

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Berichterstattung im Westfalen-Blatt über die Verleihung der Bielefelder Kulturpreises 1958 an Paul Griesser, 20. April 1959; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermannsammlung

Als „Altmeister der Innenarchitektur” wurde Paul Griesser im Juni 1960 – wiederum in Anwesenheit von Oberbürgermeister Ladebeck – in den Ruhestand verabschiedet. Direktor Hartmann ließ noch einmal das Wirken Griessers Revue passieren und dankte ihm für seine künstlerische und pädagogische Arbeit, mit der er zum guten Ruf der Schule wesentlich beigetragen habe.Griesser war inzwischen Witwer, seine Frau war im November 1957 verstorben. Seine verheiratete Tochter lebte außerhalb von Bielefeld. Nach schwerer Krankheit starb Paul Griesser am 6. Juni 1964 in Gadderbaum, kurz vor seinem 70. Geburtstag. Er wurde auf dem Johannisfriedhof beerdigt.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt PstR, Nr. 304, 1964
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 18, Nr. 19
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,7/Hochbauamt, Nr. 421
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,2/Schulverwaltungsamt, Nr. 870, Bd. 2
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermannsammlung
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung

Literatur

  • Andreas Beaugrand, Gerhard Renda (Hg.), Werk-Kunst. Kunst und Gestaltung in Bielefeld 1907 – 2007, Schriften der Historischen Museen der Stadt Bielefeld, Band 25, Bielefeld 2007
  • Das neue Möbel. Neuzeitliche Wohn-, Schlaf- und Arbeitsräume, in 93 Ansichten und 119 Maßzeichnungen von Paul Griesser, Baubücher Band 7, Stuttgart 1929
  • Die neue Wohnung und ihre Möbel, in 93 Ansichten und 90 Maßzeichnungen mit acht Tafel von Paul Griesser, Baubücher Band 9, Stuttgart 1930

 

Erstveröffentlichung: 01.06.2009

Hinweis zur Zitation:
Giesecke, Dagmar, 6. Juni 1964: Paul Griesser, Architekt und Professor an der Werkkunstschule, stirbt in Bielefeld, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2009/06/01/01062009/, Bielefeld 2009

 

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