• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

Im August 1914 rief Kaiser Wilhelm II. in Berlin den ausrückenden Soldaten zu, dass sie Weihnachten wieder zu Hause seien. Viele Kriegsfreiwillige, euphorisiert von dem so genannten Augusterlebnis, nahmen den Kaiser wohl beim Wort, aber nicht nur Militärs hatten ihre Zweifel. Anlässlich der Abiturprüfungen im August 1914 mussten Oberprimaner des Bielefelder Gymnasiums im Fach Deutsch eine Erörterung zum Thema „Die Gegenwart – eine ernste, aber schöne Zeit für Deutschland” schreiben, in deren Mittelpunkt natürlich der Krieg stand. Ein Schüler stellte vorsichtig die Frage, ob Deutschland „materiell für ein so großes Unternehmen gerüstet” sei, da zum Krieg drei Dinge gehörten: „erstens Geld, zweitens Geld und drittens wiederum Geld”. Ein anderer Schüler zog gar eine Niederlage ins Kalkül und phantasierte über mögliche Konsequenzen, die der Realität von 1918 sehr nahe kamen: Verlust von Elsaß-Lothringen und der „Ostseeprovinzen”, „ungeheure” Kontributionen, die Deutschlands Wirtschaft über viele Jahre belasten würden, und letztlich der Aufstieg Russlands zur Großmacht.

Weihnachten 1914 war der Optimismus der ersten Tage längst verflogen. Hans-Michael Kloth stellt fest: „Am Heiligen Abend im Jahre des Herrn 1914 verläuft die Front, entlang derer sich junge Männer aus Frankreich, England und Deutschland […] als Todfeinde gegenüberstehen, über 600 Kilometer von der Nordsee bis an die Alpen. Die Kampfzone beginnt im flandrischen Nieuwport an der Yser-Mündung, zieht sich den kleinen Fluss entlang nach Süden, schlägt einen Bogen westwärts um Ypern und an Arras vorbei, schwenkt im großen Bogen durch Picardie und Champagne westwärts nach Verdun und dann weiter Richtung Südwest bis an die Schweizer Grenze: Die Front gleicht einem Schnitt quer über das Gesicht des Kontinents, gezogen wie mit einem rostigen, alten Messer.”
Der Front im Westen stand eine weitere im Osten gegenüber, an der ebenfalls hunderttausende junger Männer kämpften und viele von ihnen starben. Wie zum Beispiel der junge und hoch talentierte Künstler Hermann Stenner, der sich zusammen mit Oskar Schlemmer am 7. August 1914 in Stuttgart als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte und nach zwei Monaten an der Westfront im November mit seinem Regiment an die Ostfront verlegt wurde. Aus Wloclawek schrieb er am 30. November an seine in Bielefeld wohnenden Eltern: „Im Gegenteil zu Frankreich ists schmutzig und kalt hier. Die Kälte ist schon jetzt empfindlich. Hoffentlich werde ich auch diese Strapazen überstehen und gesund zurückkehren dürfen.” Kaum eine Woche später fiel er am 5. Dezember bei einem Angriff auf die damals russische und heute polnische Stadt Ilow.

Rückblickend betrachtet, war Hermann Stenner im Dezember 1914 sicher das bekannteste Opfer des Krieges, aber täglich konnte man in den Bielefelder Zeitungen lesen, dass „mein innigstgeliebter Bräutigam”, der „treusorgende Vater meiner vier kleinen Kinder”, „mein heißgeliebter, herzensguter Mann” oder „unser unvergesslicher, hoffnungsvoller Sohn” für Kaiser und Vaterland gefallen waren. Wenige Tage vor Weihnachten verkündete der stadtbekannte Gymnasiallehrer und Vorsitzende des Historischen Vereins Professor Hermann Tümpel (1857-1923), dass er seit Beginn des Krieges bereits seinen „lieben zweiten Sohn” verloren hatte. „Größere Opfer für das Vaterland konnten wir nicht bringen”, ließ er die Trauergemeinde per Anzeige wissen. Zeitgleich wurde die 107. Verlustliste mit den Gefallenen aus dem östlichen Westfalen und Lippe veröffentlicht, die auch Namen von leicht und schwer verwundeten sowie vermissten Soldaten enthielt. Auch wenn die Zeitungen keine Zweifel an der Notwendigkeit des Krieges aufkommen ließen, der für Deutschland nur siegreich enden konnte, war das unsägliche Leid in vielen Bielefelder Familien tagtäglich spürbar.
Dessen ungeachtet strömten im Dezember 1914 noch zahlreiche ältere Schüler und junge Männer in die Jugendwehr, zu der im Oktober aufgerufen worden war und die „eine unmittelbare Vorschule für den Dienst im Heere und in der Marine sein” sollte. Mehr als tausend Jugendliche trafen sich regelmäßig auf Schulhöfen, in Turnhallen, auf der Ochsenheide oder dem neuen Exerzierplatz an der Königbrügge, um an den Übungen teilzunehmen. Einige Monate später brach ihre Anzahl ein, und die Leiter der Jugendkompanien klagten über mangelndes Interesse.

Auch im Bielefelder Rathaus zeigte des Kaisers Losung, dass er keine Parteien mehr kenne, sondern nur noch Deutsche, ihre Wirkung. Am 3. Dezember wurden mit Carl Severing (1875-1952) erstmals ein Sozialdemokrat in die Schuldeputation gewählt sowie die Sozialdemokraten Karl Eilers (1865-1951) und Carl Hoffmann (1857-1917) für die Wahl als unbesoldete Stadträte auf sechs Jahre vorgeschlagen. In konservativen Kreisen war diese Wahl allerdings nur den kriegerischen Zeiten geschuldet. Zähneknirschend kommentierte die Westfälische Zeitung am 3. Dezember: „Also auch zwei Sozialdemokraten gehören nunmehr dem Magistrat an, denn die Regierung wird um des lieben ‚Burgfriedens‘ willen ihre Zustimmung den Wahlen sicherlich nicht versagen. Ja, der ‚Burgfrieden‘.” Das Stöhnen und Seufzen im Blätterwald war unüberhörbar.
Wie sah der Alltag im Dezember 1914 in Bielefeld aus? Für kurzweilige Unterhaltung sorgten die vier Lichtspielhäuser wie das Biotophon-Theater an der Niedernstraße, wo „erstklassige Schlager” auf dem Programm standen: „Goethes Meisterwerk Torquato Tasso” oder „Die Indianerbraut”, beide in vier Akten, sowie der Weltstar der noch jungen Kinematographie Asta Nielsen (1881-1972) in „Engelchen” wurden neben weiteren Liebesdramen und Komödien angepriesen. Der Ernst der Lage spiegelte sich aber auch in unterhaltenden Filmen wie die „Goldenen Herzen in eiserner Zeit” wider, einer masurischen Novelle in drei Akten, „In Feindesland” oder „Todesrauschen”, einem Kriegsdrama in drei Akten von Franz Hofer, das, wie die Werbung ausdrücklich bemerkte, in der Gegenwart spielte. Das Tonbildtheater zeigte mit „Lumpenbaron” eine „lustige Kinoposse” und im „Theater zur alten Post” konnten spannende Filme wie das Schmugglerepos „Das Mädchen vom Hidalgofeuer” oder „Die Katastrophe im Tunnel” gesehen werden. Alle Lichtspielhäuser boten ihren Besuchern medial bearbeitete „neue Bilder vom Kriegsschauplatz” an, die von der Propaganda in Kriegs- und Wochenschauen zusammengestellt worden waren und stets mit dem unterhaltenden Programm gezeigt wurden.

Kriegspropaganda stand auch bei einer „vaterländischen Veranstaltung” im großen Saal der Gesellschaft Eintracht auf dem Programm, als zu einem Vortrag über die „Kruppschen Kanonen” mit Lichtbildern eingeladen wurde. Die Einnahmen kamen der Bevölkerung Ostpreußens zugute, die besonders unter dem Krieg zwischen Deutschland und Russland zu leiden hatte. Zum „Besten der Notleidenden in Ostpreußen” veranstaltete auch der Bielefelder Musikverein unter der Leitung von Wilhelm Lamping (1861-1929) am 20. Dezember ein Konzert „in der Eintracht” am Klosterplatz. Stargast des Abends war die berühmte Schweizer Sängerin Maria Philippi (1875-1944), die den Musikverein auf ein Benefizkonzert angesprochen und auf eine besondere Gage verzichtet hatte.
Die Unterstützung für Notleidende an der „Heimatfront” und für Soldaten war groß in jenen Dezembertagen. Bielefelder Geschäfte boten an, Taschenlampen oder Tabak, Pullover, Strümpfe oder Handschuhe direkt in die Kriegsgebiete zu senden und sogar das Verpackungsmaterial gratis zur Verfügung zu stellen. Auch in Bielefeld deuteten sich im Dezember 1914 Notlagen und Versorgungskrisen an, die bereits 1915/16 den Mittelstand erfassen sollten. So gaben Zeitungen Ratschläge, „was man in der Kriegszeit verzehren soll”. Das Schuhgeschäft Zuckerberg an der Niedernstraße sah „schwere Zeiten” auf Verbraucher zukommen, weil der Ledervorrat schon bald zu Ende gehe. Am 16. Dezember fuhren Feuerwehrleute mit einem „Wollwagen” durch Bielefeld und sammelten alte Wollsachen ein. Die „Hausfrauen” wurden aufgefordert, „alle Kisten und Kästen, Schränke und Schubladen, Kammern und Böden” nach Verwertbarem zu untersuchen. „Nichts Entbehrliches darf in den Häusern bleiben”, mahnte ein Aufruf. Kaum zwei Jahre später wurde Sammeln zur Obsession: Gold und Kupfer, Metalle und Papier, Frauenkleidung und Säuglingswäsche, Vogel- und Holunderbeeren sowie Hagebutten, Obstkerne und Bucheckern, Eicheln und Kastanien und vieles mehr wurden vor allem von Kindern und Jugendlichen zugunsten der Kriegswirtschaft gesammelt.

Ein Vierteljahr nach dem Beginn des Krieges gerieten vor allem Kriegerwitwen mit ihren oft noch sehr jungen Kindern, aber auch Familien von unvermögenden Soldaten in große Not. Für sie waren schon am 7. September 1914 sieben Volksküchen eingerichtet worden, die täglich warme Speisen zu 15 oder 30 Pfennigen anboten. An den Weihnachtstagen und am Neujahrstag blieben sie allerdings geschlossen. Von der Stadt erhielten die Witwen und Waisen eine Familienunterstützung, die bis 1918 zwar regelmäßig erhöht wurde, aber aufgrund der Versorgungskrise nur ein Leben in der Grauzone des Existenzminimums ermöglichte. Das stellvertretende Generalkommando des 7. Armeekorps in Münster rief die Bevölkerung daher auf, sich Weihnachten besonders um diese Menschen zu kümmern: „Das Christfest naht. ‚Friede auf Erden‘? Wer könnte es sagen! Inzwischen fordert der große Krieg seine Opfer, und Tausende daheim bedürfen des Trostes, der erbarmenden Hilfe. Das sind all die notleidenden Witwen, deren Männer ihr Leben für das Vaterland gelassen, das sind all die armen Kinder, den die Kugel den Vater, den Ernährer geraubt. Auch die Familien bedürftiger verwundeter Krieger sollten nicht vergessen sein. Ihnen allen zum Christfeste ein Lichtlein helfenden Trostes anzustecken, bei Gott, es ist heilige Pflicht!” Mit einem dramatischen Appell sprach der Aufruf den Menschen ins Gewissen: „Lasst es euch gesagt sein. Alle Zeiten und Völker haben Ehrfurcht gehegt vor der Träne der bedrängten Witwe, vor dem Schrei vaterloser Kinder. Nie vor allem soll man aber sagen, dass wir Deutsche unsere Pflicht gegen die Gefallenen vergäßen; wehe den Lebenden, die angeklagt werden von den Toten! Also wer irgend hat, der tue Herz und Hand auf und spende! Aber reichlich, reichlich!”

Kirchengemeinden, Vereine und Organisationen richteten für Witwen und Waisen, für Frauen und Kinder von Kriegsteilnehmern sowie für verwundete Soldaten, die in den Lazaretten Bielefelds und des Landkreises gepflegt wurden, Weihnachtsfeiern aus. Der Christliche Verein junger Männer lud gemeinsam mit dem Bruderverein Jakobus am 25. Dezember in die Volkshalle ein, die „bis auf den letzten Platz besetzt” war. Pastor Michaelis hielt die Festansprache, seine Ehefrau gab für die rund 700 Gäste ein Solokonzert, es folgten Deklamationen, Chorgesang und Laienspiele zum Weihnachtsfest. Die Soldaten erhielten Kuchen und Zigarren. An den verschiedenen Feierlichkeiten der Gewerkschaften, die in der Eisenhütte, der Centralhalle am Kesselbrink und zahlreichen Gaststätten stattfanden, nahmen mehr als 6.000 Menschen teil. Bei Kaffee und Kuchen sangen Arbeiterchöre und die Kinder erhielten „eine gefüllte Tüte”. In festlichen Ansprachen wurde die „bewundernswürdige Entschlossenheit unserer kämpfenden Freunde” betont und die „Daheimgebliebenen” aufgefordert, „stark und einmütig die sozialen Pflichten (zu) erfüllen, die uns stark hinüber bringen in die so heiß herbeigesehnte Zeit des Friedens.”
Und was fanden die Bielefelder unter dem Tannenbaum? In der Bevölkerung herrschte die Stimmung vor, dass die Ausgaben für die Weihnachtsbescherung angesichts des Krieges äußerst beschränkt sein sollten. Erwachsene wollten sich nur Kleinigkeiten schenken, vielleicht ein Buch oder ein Bild. Dementsprechend klagte der Einzelhandel. Am letzten Wochenende vor Weihnachten hieß es, dass sich die Erwartungen nicht nur nicht erfüllt hätten, sondern „noch unter dem bescheidensten Maß zurückgeblieben” seien. Nur in den Spielwarengeschäften machte sich „ein etwas lebhafterer Geschäftsgang” bemerkbar. In den Schaufenstern der Geschäfte an der Niedern- und Obernstraße lagen Spielwaren aus, die „dem kriegerischen Geiste Rechnung” trugen. „Fast die ganze Kriegsausrüstung zu Lande, zu Wasser und in der Luft ist auf dem Weihnachtsmarkt im Kleinen vertreten und als Spielzeug zu haben”, berichtete die Westfälische Zeitung am 18. Dezember und stellte die rhetorische Frage, ob das eigentlich zum „Christkind, das den Frieden” bringe, passe. Fast schon trotzig teilte sie ihren Lesern mit, dass es 1914 „ein kriegerisches Weihnachten” geben werde, und resümierte: „Je härter die Rüstung ist, die unser Volk gegenwärtig gegenüber einer Welt von Feinden trägt, umso inniger das Band, das jeden mit den Seinen und die Armee, die uns den Frieden am heimischen Herd gesichert hat, mit dem Volke verbindet.”
Diese Logik wollte der Bezirksbildungsausschuss der Bielefelder SPD nicht teilen: „Die Phantasie der Jugend ist durch die gewaltigen Ereignisse der letzten Monate äußerst stark aufgeregt worden, es ist daher durchaus angebracht, einer Erhitzung vorzubeugen. Die Jugend muss empfinden lernen, dass Gewalttaten nur ausnahmsweise einem größeren Zwecke dienen können und dass Grausamkeit kein sittliches Gebot ist. Der Verrohung und Verwilderung, die durch den Krieg und dessen Schrecken allzu leicht aufkommen, gilt es geschickt zu begegnen. Statt Bleisoldaten und Waffen gebe man unterhaltsame und anregende Spiele, statt blutrünstige Bilder und schaurige Schriften gebe man jene prächtigen Bilderbücher und Unterhaltungsliteratur, die das Auge erfreuen und Gemüt und Verstand für alles Edle begeistern.”

Wer Weihnachten 1914 unter dem Tannenbaum einen Schlitten fand, der konnte ihn getrost in den Keller stellen. Zwar hatte die Volkswacht Anfang Dezember berichtet, dass auf verschiedenen Straßen – von der Waldstraße und Spiegelstraße, der Loebell- und Sparrenstraße bis zur Hoch- und Dornberger Straße – das Rodeln wie in jedem Jahr verboten sei. Angesichts des milden Wetters erntete sie für diese Meldung vom Generalanzeiger allerdings nur Spott. Das Wetter blieb mild und zeitweise regnerisch und änderte sich bis in den Februar 1915 kaum. Die wenigen Frosttage und Schneeflocken reichten für eine Rodelpartie im Bielefelder Winter 1914/15 nicht aus.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Bielefelder Generalanzeiger, Volkwacht, Westfälische Zeitung (1914)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
- Bericht über den Stand und die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Bielefeld für 1914 (Landesgeschichtliche Bibliothek, Z 40, Bie 6)
Literatur
- Johannes Altenberend: „Mars regierte die Stunde”. Der Kriegsausbruch 1914 im Bielefelder Gymnasium zwischen Euphorie, Skepsis und Ernüchterung, in: Ravensberger Blätter Heft 1 (2014), S. 9-21.
- Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumreich/Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009.
- Hans Michael Kloth: Weihnachten 1914: Ein bisschen Frieden mitten im Gemetzel, unter:
www.spiegel.de
- Bernd J. Wagner: Zwischen vaterloser Familie und vaterländischen Pflichten. Kindheit und Jugend in Bielefeld während des Ersten Weltkriegs, in¨ Ravensberger Blätter Heft 1 (2014), S.30-46.
- Der Maler Hermann Stenner im Spiegel seiner Korrespondenz. Briefe 1909-1914, wissenschaftlich bearbeitet von Karin von Maur und Markus Pöhlmann, hg. von Karin von Maur und dem Freundeskreis Hermann Stenner e.V., München 2006.
Erstveröffentlichung: 01.12.2014
Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd. J., 24. Dezember 1914: Erste Kriegsweihnacht in Bielefeld, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2014/12/01/01122014, Bielefeld 2014