• Dagmar Giesecke, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
Vor 25 Jahren, im Januar 1989, war Erich Honecker, Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), noch überzeugt, dass die Mauer in 50 und 100 Jahren weiterhin stehen werde, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt würden. Auch für die meisten DDR-Bürger und Bürgerinnen schien die Welt halbwegs noch in Ordnung, obwohl wirtschaftliche Missstände kaum noch zu übersehen waren und sich mehr und mehr oppositionelle Vereinigungen, zu diesem Zeitpunkt noch illegal, gebildet hatten. Nachdem im Februar der Jugendliche Chris Gueffroy bei einem Fluchtversuch an der Mauer in Berlin erschossen worden war, nahm die Unzufriedenheit in der breiten Bevölkerung zu und der Wunsch nach Ausreise ebenso. Zu ersten Demonstrationen von Ausreisewilligen kam es im März in Leipzig, die gewaltsam mit Verhaftungen endeten.

Als erstes kommunistisches Land baute Ungarn die Grenzzäune ab. Sie waren marode und hätten repariert oder erneuert werden müssen, was u. a. mit enormen Kosten verbunden gewesen wäre. Im Beisein internationaler Presse und vieler Schaulustiger sowohl auf ungarischer als auch österreichischer Seite wurden am 2. Mai in dem Grenzort Hegyeshalom die ersten Pfähle entfernt. Jetzt sahen die Bürger und Bürgerinnen in der DDR die Chance, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Massenurlaube in Ungarn waren im Sommer die Folge, damit verbunden die Besetzung der deutschen Botschaft in Budapest, später auch u. a. die in Prag und die Ständige Vertretung in Ost-Berlin. Schnell waren die Einrichtungen mehr als überfüllt und der Druck auf die Politik enorm. Am 2. September 1989 berichtete das Westfalen-Blatt über den Bielefelder Regionalvikar Heinz Koch, der einige Wochen, zusammen mit dem Malteser Hilfsdienst des Erzbistums Paderborn, nach Budapest gefahren war, um mit Medikamenten, Essgeschirr und auch Sonnenschirmen – wegen der sommerlichen Temperaturen – zu helfen. „Die Ostwestfalen setzten sich in die bepackten Kleinlaster und machten sich auf den Weg Richtung Osten: Sie fahren 20 Stunden lang ohne Pause bis in die magyarische Hauptstadt, erwartet von 250 Flüchtlingen, die auf einem Hof, einem Sportplatz campieren und einem ungewissen Schicksal entgegen sehen. ‚Die Angst ist überall zu spüren‘, sagte Pastor Koch. ‚Ihre Angst, ob sie über die Grenze kommen, Angst davor, was sie erwartet, wenn sie es nicht schaffen.‘ […] Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven haben die Menschen dazu getrieben, das ganze bisherige Leben hinter sich zu lassen. Überwiegend Familien mit Kindern warten auf die richtige Gelegenheit. […] Das Durchgangslager macht seinem Namen alle Ehre. Viele kommen, erkundigen sich nach ihren Chancen. Einige bleiben, andere verschwinden wieder – mit der festen Absicht, die Grenze auf eigene Faust zu überwinden […]”. Die zugespitzte Situation führte am 11. September 1989 dazu, dass die ungarische Regierung die DDR-Flüchtlinge legal in die Bundesrepublik ausreisen ließ. Etliche Menschen kamen auch nach Bielefeld, fanden erst einmal Unterkunft bei Verwandten oder in spontan zur Verfügung gestellten Einrichtungen. Hilfen aus privater und öffentlicher Hand setzten sofort ein. Allerdings brauchten die Ausgereisten auf Dauer eine Perspektive mit fester Arbeit und eigenen Wohnungen. Etliche Bielefelder Firmen boten unbürokratisch Beschäftigung an und schickten zudem Personalchefs in das Aufnahmelager Schöppingen bei Coesfeld.

Am 30. September schließlich verkündete Hans Dietrich Genscher, damaliger Außenminister der Bundesrepublik, dass auch die Flüchtlinge, die sich in der überfüllten Prager Botschaft aufhielten, in den Westen Deutschlands ausreisen dürfen. Erledigt war das Problem mit der ersten Ausreisewelle allerdings nicht. Kaum waren die Botschaften leer, kamen die nächsten Menschen, die außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik ihre Zukunft sahen. Anfang Oktober konnten auch sie Prag gen Westen verlassen. Wie aus Ungarn, trafen auch aus Prag wieder Flüchtlinge in Bielefeld ein, die einen nur vorübergehend, die anderen mit dem festen Vorsatz zu bleiben. Und wieder setzte eine Welle großer Hilfsbereitschaft ein. Seit Anfang desselben Jahres kamen vermehrt deutschstämmige Aussiedler und Aussiedlerinnen aus der Sowjetunion nach Deutschland, aber auch Flüchtlinge aus anderen Krisengebieten der Welt. Viele von ihnen fanden Unterkunft in Bielefeld. So lange an Menschen aus der DDR nicht zu denken war, erfuhren sie Hilfsbereitschaft und freundliche Aufnahme. Mehr und mehr traten sie mit der Ankunft der ersten DDR-Flüchtlinge allerdings in Konkurrenz mit diesen und es wurde mit zweierlei Maß gemessen. Das drückt sich u. a. auch in Leserbriefen an die Zeitungen aus. So beklagt der Bielefelder Flüchtlingsrat am 9. Oktober 1989 in der Neuen Westfälischen: „Ohne auf die politischen Verhältnisse in der DDR und die Gründe für die Massenflucht einzugehen, wollen wir die Diskussion von einer anderen Seite beleuchten. Wir sind überrascht über die Möglichkeiten in diesem Staat, unbürokratisch und spontan Zehntausende von Flüchtlingen aufzunehmen. Bielefeld schiebt die Flüchtlinge aus dem jugoslawischen Kosovo nach Bayern ab, wo sie erwiesenermaßen unter unmenschlichen Bedingungen in Sammellagern untergebracht sind. Die DDR-Flüchtlinge dagegen werden mit Sekt und Blumen empfangen, und auch Regierungsvertreter geben sich die Ehre. Die NW berichtet über zwei Flüchtlingsfrauen aus der DDR, und am nächsten Tag haben beide eine Arbeit. Andere Flüchtlinge dürfen lange Zeit überhaupt keine Arbeit aufnehmen und werden danach vielfach von den Arbeitgebern aufgrund ihrer Nationalität abgelehnt. Auf dem Wohnungsmarkt verhält es sich nicht anders. Die Anzeigen häufen sich, in denen ausdrücklich nur an Deutsche vermietet wird. […] Es ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden Flüchtlings, der hier gegen die Vorurteile wie ‚Wirtschaftsasylanten‘, ‚Überfremdung‘ und ‚Grenzen der Aufnahmefähigkeit‘ ankämpfen muß, wenn er sieht, wie anders dieser Staat in der Lage ist zu handeln. Wir wollen mit dieser Stellungnahme keine Feindschaft gegenüber den Menschen aus der DDR schüren. Aber wir fordern die Gleichbehandlung aller Migranten/-innen und Flüchtlinge, unabhängig von ihrer Herkunft. […] Nicht Deutschtümelei ist der Verfassungsauftrag, sondern das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl und das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Nationalität, des Geschlechts oder der Religion”.

Ungeachtet dieser und auch anderer kritischer Worte wurden weiterhin alle in Bielefeld neu eintreffenden DDR-Bürger und Bürgerinnen mit „Sekt und Blumen” begrüßt. Selbst Politiker wie der Steinhäger Willy Kriszun übernahmen für Familien Patenschaften. „Er fuhr nach Unna-Massen, sprach mit dem Heimleiter und bot seine persönliche Hilfestellung an. Als langjähriger Generalvertreter einer Firma für Gastronomieausstattung interessierte ihn vor allem eine Familie mit Erfahrungen aus dieser Branche. In den Eheleuten Toebes mit drei Kindern fand er sie”, erzählte er der Neuen Westfälischen am 22. September1989. Weitere Politiker setzten sich im September auf dem CDU-Bundesparteitag in Bremen dafür ein, dass jetzt handeln und nicht nur reden angesagt sei. Acht Mitglieder erklärten sich spontan bereit, ebenfalls Paten für DDR-Familien zu werden.
All diese Ereignisse fanden täglich breiten Raum in der Presse, so dass die Bielefelder spontan ihre Hilfsbereitschaft anboten. Im Westfalen-Blatt vom 9. Oktober war ein halbseitiger Bericht über die Familie Vogel aus Leipzig zu lesen, die über Prag den Weg nach Bielefeld gefunden hatte und trotz Eigenheim in der DDR, ihre Zukunft frei gestalten wollte. Größter Wunsch war eine kleine Wohnung. „Der Aufbau eines neuen Lebens kann beginnen. Leicht wird’s nicht. Das wissen die Eltern, das weiß auch der Sohn Markus. ‚Man ist immer noch ziemlich verängstigt‘, sagt Bärbel Vogel. ‚So insgesamt, meine ich.‘ Doch das wird sich bald legen, sagt sie. Für sie ist die Fahrt ins Ungewisse zu Ende. Abgeschlossen gerade dort, wo man wieder von vorne anfangen kann.” Die Neue Westfälische berichtete am 11. Oktober 1989 über das Ehepaar Hauke, deren neunjährige Tochter in der DDR zurückbleiben musste. Ihr war die Ausreise verwehrt worden. „Der Start in der neuen Heimat Bielefeld ist den Flüchtlingen inzwischen gelungen. Sie haben eine Wohnung und Rainer Hauke hat inzwischen einen Arbeitsplatz als Elektriker gefunden. Zur Anschaffung eines Kühlschrankes, einer Waschmaschine und für Kohle überreichte ihnen gestern die DRK-Kreisvorsitzende Gisela Schwerdt einen Scheck.” Wegen der Familienzusammenführung war inzwischen ebenfalls der Internationale Suchdienst eingeschaltet. Nicht alle wollten dauerhaft in Bielefeld bleiben, viele aber einfach einmal „Westluft” schnuppern.
In der DDR positionierten sich indessen weitere oppositionelle Gruppen und immer mehr Menschen beteiligten sich an den so genannten Montagsdemonstrationen, die ab dem 4. September regelmäßig in Leipzig stattfanden. Aber auch in anderen Städten der DDR blieb man nicht untätig. Noch in Erinnerung sollten die Worte sein: „Wir sind das Volk.” Die wichtigste dieser Demonstrationen ereignete sich am 16. Oktober 1989in Leipzig. 120 000 Menschen nahmen daran teil. Ob diese friedlich verlaufen sollte oder nicht, war anfangs nicht klar. Einer der wichtigsten Menschen, die Einfluss auf die Ereignisse in Leipzig hatten, war Kurt Masur, langjähriger Dirigent des Leipziger Gewandthaus-Orchesters. Von dem Dach eines Hochhauses wurde diese Demonstration gefilmt und über Ostberliner Kontakte des Spiegels nach West-Berlin gebracht. Die Tagesschau sendete die Bilder. Die friedliche Revolution war nicht mehr aufzuhalten.

Am 9. November 1989 beschloss der Ministerrat der DDR die allgemeine Reisefreiheit, allerdings nicht freiwillig, sondern unter dem Druck der Ereignisse der letzten Monate. Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, verkündete am späten Abend den Beschluss. Die Worte „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich” gültig, klingen noch heute in den Ohren der meisten Deutschen. Am selben Abend traten die ersten Menschen aus der DDR in Berlin an der Bornholmer Brücke in den Westen der Stadt. In Bielefeld holten sich einen Tag später als Erste drei Leipziger das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM ab. Am Montag wollten sie aber wieder zu Hause sein, um die nächste Montagsdemonstration nicht zu verpassen. Am Samstag konnten die Bielefelder die ersten „Trabbis” buchstäblich riechen. „Trabis, Ladas und Wartburgs erreichten am Samstagmorgen die freundliche Stadt am Teuto. Übernächtigt, aber glücklich: 537 Besucher aus der DDR”. Mit diesen Worten begann die Berichterstattung im Westfalen-Blatt am 13. November. „Sie kamen aus Dessau, Leipzig, Magdeburg, Ostberlin und vielen anderen Städten der DDR, um in der freundlichen Stadt am Teutoburger Wald Rast zu machen und Bekannte, Freunde oder Verwandte zu besuchen. Die [Autos] standen schon am frühen Samstagmorgen vor dem Rathaus Schlange, denn die übernächtigten Autofahrer, die Kind und Kegel mitgebracht hatten, wollten ihr Begrüßungsgeld in Empfang nehmen. Die völlig überraschten Mitarbeiter der Bürgerberatung reagierten unbürokratisch schnell: Sie öffneten die sonst geschlossenen Räumlichkeiten und gaben zunächst Schecks in Höhe von 100 Mark aus. Wenig später half die Sparkasse Bielefeld mit Bargeld aus. Auch am Sonntag meldeten sich noch zahlreiche DDR-Bürger. […] Zahlreiche Geschäfte kamen den Gästen entgegen. Horten-Geschäftsführer Heinz Dickhaut: ‘Wir haben alles an Zahlungsmitteln angenommen. Ob nun Schecks der Stadt, D-Mark oder Ostmark. […] Überall an der Autobahn wurde gewunken. Unbeschreibbar ist das‘, meinte Jürgen Oemke am Samstag noch sichtlich bewegt. Auf die Frage, wie er denn seinen Wagen mit Sprit versorge, meinte er nur lächelnd: ‚Ein paar Tropfen Öl in den Tank, dann Benzin drauf. Schüttelt man dann den Trabi richtig durch, vermengen sich der Schuß Öl und der Sprit und schon läuft der Zweitakter‘. Die Torturen der Reise wollen auch sie bald wieder auf sich nehmen”, berichtete die Zeitung weiter. Auch die Neue Westfälische berichtete darüber.
Sie titelte ihre Berichterstattung mit den Worten „Bürgerberatung mußte Bargeld für die Gäste aus der DDR erst besorgen.” Noch am Freitag hatte der Leiter der Bürgerberatung darauf hingewiesen, dass sie auf den Ansturm vorbereitet seien und alles Erdenkliche möglich machen werden. „Die Hilfsbereitschaft der Bielefelder dokumentierte sich in mehrfacher Weise. Da wurden DDR-Bürger zum Stadtbummel eingeladen oder auch von wildfremden Menschen gerade mal bei der Bürgerberatung vorbeigebracht. Bei der Telefonzentrale im Rathaus gingen sogar Wohnungs- und Zimmerangebote ein. […] Das DRK hatte schon ab Donnerstagabend über Hilfen für DDR-Bürger nachgedacht. Ab Freitagmorgen war seine Zentrale rund um die Uhr besetzt. […] Die Polizei mußte im Zusammenhang mit dem Besucherstrom aus dem Osten nur einen besonderen Zwischenfall vermeiden. Ein Trabi machte mitten auf dem Jahnplatz schlapp – wegen eines Defektes der Lichtmaschine”, berichtete die NW weiter.
In Berlin herrschte unterdessen seit Donnerstagnacht Ausnahmezustand. Die Besuchermassen waren nicht mehr allein zu bewältigen. So ging sofort am Freitagmittag der Hilferuf nach mehr Bussen zur Beförderung der Menschenmassen in die gesamte westliche Republik. Auch Bielefeld erreichte diese Nachricht. Noch am Freitagabend um 22 Uhr machte sich der Busfahrer Heinz Albin, dienstältester Fahrer der Bielefelder Stadtwerke, mit seinem Bus auf den Weg gen Osten. Auf dem Betriebshof der Berliner BVG angekommen, konnte allerdings niemand sagen, ob und wann der Bielefelder Bus zum Einsatz kommen sollte. Auch die Fragen nach der Länge solcher Einsätze und einem Schlafplatz blieben erst einmal unbeantwortet. Ein Bett fand sich schnell, die erste Fahrt sollte bis Montagmorgen, 6 Uhr, auf sich warten lassen. Aus der gesamten Bundesrepublik rollten lange Zeit Busse durch den Westen und Osten von Berlin.

Bielefeld hatte jetzt nicht nur Aussiedler aus der Sowjetunion und Polen sowie Flüchtlinge aus Ungarn und der Tschechoslowakei zu betreuen, ihnen Arbeit und Wohnungen zu vermitteln, sondern ebenfalls für die Integration der Menschen zu sorgen, die die DDR dauerhaft verlassen wollten und in Bielefeld ihre neue Heimat sahen. 484 DDR-Übersiedler waren Ende November schon „Bielefelder” geworden. Längst war ein Zuzugsstopp ausgesprochen, genügend Wohnraum stand nicht mehr zur Verfügung, nur Übergangsheime und Notunterkünfte konnten noch belegt werden. Der Zuzugsstopp galt allerdings nur für Menschen, die vorher in Aufnahmeeinrichtungen registriert worden waren. Wer auf eigene Faust kam, konnte sich frei niederlassen. 4000 Wohnungssuchende waren inzwischen in Bielefeld registriert und hofften, das nächste Weihnachtsfest in den eigenen vier Wänden feiern zu können. Wie viele andere Städte und Kommunen stand auch Bielefeld vor großen Herausforderungen. Oberbürgermeister Eberhard David rief schon Mitte November dazu auf, Aus- und Übersiedler zu integrieren. Er appellierte an die gemeinsame Verantwortung und solidarische Hilfe aller Bielefelder. Jetzt, wo die Berliner Mauer gefallen war, sollte keine menschliche Mauer aus Vorurteilen und sozialen Ängsten errichtet werden. Die anfangs grenzenlose Euphorie schwächte sich schon im Laufe des Monats November ab. Die Feststimmung war schleichend verstummt und der „Alltag” eingezogen. Um diesen in den Griff zu bekommen, rief Oberbürgermeister David einen „Runden Tisch” ins Leben, am dem u. a. gesellschaftliche Organisationen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Kirchen und Institutionen der Wohlfahrtsverbände Platz nehmen sollten.

Hilfe erfolgte nun auch nicht mehr nur vor Ort, sondern verlagerte sich mit Hilfsaktionen in die DDR. Nach groß angelegten Spendenaktionen wurden nicht mehr benötigte Maschinen und Gerätschaften in den Osten gebracht. Verwaltungsfachleute „verlegten” ihren Arbeitsplatz zum Aufbau neuer Strukturen, zum Beispiel im Bereich Arbeitsvermittlung, temporär in die DDR. Städte und Kommunen suchten nach Partnerschaften mit DDR-Orten. Bielefeld nahm mit etlichen Städten Kontakt auf, darunter Bautzen, Bitterfeld, Görlitz und Prenzlau. An einer Partnerschaft waren ebenfalls Nordhausen, Glauchau, Quedlinburg und Schönebeck interessiert. Mit keiner kamen partnerschaftliche Beziehungen zustande. Einzig mit Glauchau wurde eine Städtefreundschaft geschlossen, maßgeblich durch die Initiative des Stadtbezirks Jöllenbeck. Nicht verbunden sein sollten damit finanzielle Vorteile, mit anderen Worten: Es sollte nichts kosten.

So riet Dr. Alfred Zubler im Januar 1990, seinerzeit wirtschaftspolitischer Sprecher der Bürgergemeinschaft für Bielefeld (BfB) e. V. und 20 Jahre lang Vorstandschef der früheren Kochs Adler AG, eine Partnerschaft mit einer DDR-Stadt einzugehen, sorgfältig zu prüfen. Er war gerade von einer Reise in die DDR zurückgekommen, im „Gepäck” ein Kooperationsvertrag mit einem ostdeutschen Betrieb. „Natürlich gibt es viele Möglichkeiten der DDR und ihren Menschen zu helfen. Ich halte von einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Unternehmen der DDR natürlich mehr als von Städtepartnerschaften, die keine Devisen ins Land bringen können. Gerade darauf ist die DDR am allernötigsten angewiesen”, sagte Dr. Zubler dem Westfalen-Blatt am 10. Januar 1990. Ebenfalls im Januar hatte die Industrie- und Handelskammer eine Kooperationsbörse für Unternehmen eingerichtet.
Ostwestfälische Wirtschaftsjunioren hatten auch ihre Aktivitäten angeboten, mit dem Ziel, den Aufbau der sozialen Marktwirtschaft in der DDR mit voran zu bringen und durch Wettbewerb unter den Betrieben das Land wieder aufzubauen. Allerdings warnte die IHK Ostwestfalen gleichzeitig, die vorherrschende Euphorie in den Wirtschaftsbeziehungen mit der DDR zu hoch zu bewerten und empfahl seinen Mitgliedsunternehmen mögliche teure „Schnellschüsse” nicht zu zulassen.
Ende Februar 1990 waren zwar die Zeitungen noch immer voll mit Berichterstattungen zur deutsch-deutschen Situation. Aber die Realität hatte die Meisten wieder eingeholt. Inzwischen waren Überschriften wie „Bürgerproteste gegen neue Übergangsheime”, „Begrüßungsgeld. Nebenan gab’s mehr” oder „Wir brauchen Hilfe, sonst laufen und die Menschen in Scharen weg” zu lesen.
Willy Brandts Satz „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“ ist auch heute noch nicht, 25 Jahre nach Mauerfall, überall Realität geworden.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,1/Oberbürgermeister, Nr. 787
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,5/Presse – und Verkehrsamt, Nr. 463
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,1/Sozialamt, Nr. 5540
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,5/Dürkopp/Adler, Nr. 2276
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermannsammlung, Nr. 171, Nr. 280
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen
Literatur
- Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Informationen zur politischen Bildung. Geschichte der DDR, Nr. 231, Bonn, 1991
- Hermann Weber, DDR. Grundriss der Geschichte 1945 – 1990, Hannover, 1991
- Hans Georg Lehmann, Deutschland-Chronik 1945 – 2000; Schriftenreihe Band 366, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000
Erstveröffentlichung: 01.11.2014
Hinweis zur Zitation:
Giesecke, Dagmar, 10. November 1989: Der erste Trabi rollt aus der DDR in Bielefeld ein, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2014/11/01/01112014, Bielefeld 2014