30. September 1944: Ein Luftangriff zerstört das alte Bielefeld

• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

Es gibt wohl kaum einen Tag während des Zweiten Weltkriegs, der sich so stark ins kollektive Gedächtnis Bielefelds geschrieben hat, wie der 30. September 1944. An diesem Tag zerstörte ein Luftangriff mit anschließendem Feuersturm große Teile der Altstadt und forderte 649 Menschenleben. Es war weder die erste noch die letzte Bombardierung Bielefelds, aber das, was sich am 30. September ereignete, ließ wohl keine Zweifel darüber aufkommen, dass der von Goebbels apostrophierte „totale Krieg” in eine Katastrophe größten Ausmaßes führen musste.

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Die zerstörte Altstadt zwischen Welle, Am Bach und Waldhof (1945). Stadtarchiv Bielefeld, 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-2170-85

Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939, die ersten Bomben fielen in der Nacht zum 21. Juni 1940 auf Bielefeld. Getroffen wurden Wohnhäuser im Siedlungsgebiet Am Lehmstich und Stadtheider Straße. Zwei Menschen wurden getötet. Die lokale Presse wollte sich angesichts der Siegesmeldungen aus Frankreich nicht aus der euphorischen Feierlaune bringen lassen: „Der Materialschaden ist unerheblich”, hieß es lapidar. Während die Westfälische Zeitung rätselte, warum manche Menschen „völlig unbegründet […] an einer gewissen Kellerangst leiden”, war in den Westfälischen Neuesten Nachrichten zu lesen, dass die beiden „Volksgenossen” nur deshalb getötet worden seien, weil sie sich nicht in Schutzräumen aufgehalten hatten. Auf die Leser beruhigend sollte wohl die Aussage wirken, „daß die geworfenen Brandbomben mit Leichtigkeit abzulöschen” gewesen seien.

Anders sah es im September 1940 aus, als Bomben das Pflegeheim „Klein-Bethel” der von Bodelschwinghschen Anstalten zerstörten. In dem Haus waren schwerbehinderte Mädchen untergebracht, von denen fünf sofort starben und sechs weitere Mädchen noch am gleichen Tag ihren schweren Verletzungen erlagen. Die Stadt war fassungslos. Mehr als tausend Menschen nahmen an der feierlichen Beisetzung teil. Die NSDAP und in ihrem Gefolge auch die Presse zeigten sich wenig pietätvoll und schlachteten diese Tragödie propagandistisch aus. So wurde der britische Premierminister Winston Churchill kurzerhand als Kindermörder diffamiert. Als im April 1941 bei einem weiteren Luftangriff 18 Patienten der von Bodelschwinghschen Anstalten ums Leben kamen, war diese Nachricht den Tageszeitungen nur noch eine kurze Mitteilung wert. Seit Anfang des Jahres hatte der Staat im Rahmen der sogenannten Aktion T4 damit begonnen, Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten u.a. in der hessischen Landesheilanstalt Hadamar zu ermorden.

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Kriegspropaganda nach der Tragödie von Bethel. Westfälische Neueste Nachrichten vom 20.9.1940

Soviel Leid die Bomben auch verursacht haben, Bielefeld war bis ins Frühjahr 1941 wohl nicht der eigentliche Zielort eines Luftangriffes. Es ist wahrscheinlich, dass Bomber ihre „überzählige Fracht” über Bielefeld abgeworfen hatten, um das Gewicht der Flugzeuge für den Rückflug zu erleichtern. Der erste gezielte Luftangriff fand am 13. Juni 1941 statt. Schwer beschädigt wurden vor allem die Firmen Dürkopp und Gundlach. Ausgebrannte Wohnhäuser fand man im Westen der Stadt an der Dorotheen- und Große-Kurfürsten-Straße sowie im Osten an der Ravensberger, Hermann-, Bleich- und der heutigen August-Bebel-Straße. 27 Menschen verloren ihr Leben. Ihre Leichen wurden in einem öffentlichen Begräbnis auf dem Sennefriedhof feierlich beigesetzt. Ein Vater, der mit seiner Familie in einem Luftschutzkeller saß, berichtete: „Nachdem unter ungeheurem Krachen in einiger Entfernung Bomben gefallen waren, hörten wir die Flieger unmittelbar über uns, und es fiel dann eine Serie von 7 oder 8 Sprengbomben, die in nächster Nähe eingeschlagen haben mussten. Das ganze Haus erbebte. Von der Decke des Luftschutzkellers fiel der Kalk. Die Fenster meines Hauses erklirrten und fielen unter lautem Getöse heraus. Auch die Fenster des Luftschutzkellers waren sofort entzwei […] Aus dem Nachbarhause ertönte Geschrei […] Ich habe meine Kinder nie so ernst gesehen; sie fühlten, dass es hier nur eine Frage gab: Sein oder Nichtsein.” Der Eindruck sei entstanden, „dass es sich um einen Großangriff von ungeheurem Ausmaß handeln musste.”

Obwohl der Krieg nun schon fast zwei Jahre dauerte, zeigte der Luftschutz doch noch gravierende Mängel auf. In einem Bericht über die „Kriegserfahrungen der Feuerschutzpolizei” wies das Bielefelder Kommando im August 1941 darauf hin, dass es vor allem an fachkundigem Personal fehlte. Zudem war eine Wasserspritze in ihrer Handhabung so kompliziert, „dass sie vom Hilfsdienst nicht verwendet werden konnte und demzufolge ungeeignet war. Den Männern war es weder möglich, damit einen ausreichenden Sprühstrahl zu erzeugen noch den Brandherd sicher zu treffen.” Auch war in der ganzen Stadt keine schwere Drehleiter vorhanden und die Löschwasserversorgung wurde in allen Fällen als ungenügend bewertet.

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Bau eines Bunkers am Niedernwall (1942). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1525-186

Was 1941 auch noch fehlte, waren Bunker. Als Polen am 1. September 1939 von deutschen Truppen überfallen wurde, gab es in Bielefeld erst einen Bunker, der etwa 1.500 Menschen Platz bot. In der Regel waren die Menschen auf „private” Luftschutzkeller angewiesen, für die besondere Verordnungen galten. Ein regelrechtes Bunkerbauprogramm wurde erst 1941 vor dem Hintergrund der ersten lokalen Erfahrungen mit Bombardierungen ins Leben gerufen. Vor dem Hauptbahnhof und am Ulmenwall in Höhe des Landgerichts arbeiteten nun vor allem Kriegsgefangene, die den Boden für größere Bunker aushoben. Auch der Hochbunker an der Neustädter Straße wurde 1941 geplant, aber erst 1943 fertig gestellt, weil offenbar das Baumaterial fehlte. Weitere Hochbunker entstanden am Kamphof, Löllmannshof und an der Stadtheider Straße. Der Bunker an der Weißenburger Straße erhielt die Bezeichnung Sedanbunker und diente der Parteiführung der NSDAP bis 1945 als Kommandozentrale. Tief- und flachliegende Bunker und Splittergräben waren bereits seit 1940 am Oberntorwall, im Museumsgarten am Nebelswall, in der Nähe des Jahnplatzes und vor dem heutigen Rathaus gebaut worden. Noch vor der ersten Bewährungsprobe notierte der Museumsleiter Eduard Schoneweg in der städtischen Kriegschronik, dass es mittlerweile bekannt sei, dass die flachliegenden Bunker nicht sicher seien.

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Schüler mussten auch am Viadukt als Flakhelfer Dienst leisten (1943). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 91-10-53

Nach einem weiteren Luftangriff im Februar 1942 blieb es in Bielefeld bis Anfang 1944 verhältnismäßig ruhig. Zwar ertönten häufig die Sirenen, aber viele Menschen maßen ihnen nicht mehr den notwendigen Ernst zu. Manche glaubten sogar, dass Bielefeld wegen seiner Nähe zu Bethel und den Erfahrungen vom September 1940 gar nicht mehr Ziel eines schweren Luftangriffs werden sollte. Diesen Glauben teilten die Verantwortlichen im Rathaus nicht. Im Gegenteil: Seit Februar 1943 wurden Schüler des Helmholtz- und Ratsgymnasiums als Flakhelfer ausgebildet sowie Aufräumungs- und Hilfstrupps aus der Bevölkerung gebildet. Luftschutzübungen fanden nun regelmäßig statt, stets begleitet von der Mahnung, die Maßnahmen ernst zu nehmen und sich nicht von der trügerischen Ruhe blenden zu lassen. Das Friedhofsamt ließ sogar vorsorglich 200 Särge bereitstellen, um im Fall eines Luftangriffs die Leichen schnell beerdigen zu können. Die bis dahin auf freiwilliger Basis angebotene Kinderlandverschickung wurde im August 1943 generell angeordnet. So konnten allein im Oktober 1943 rund 600 Kinder aus Münster und Bielefeld nach Oberbayern in Sicherheit gebracht werden.

Die Zeit der vermeintlichen Ruhe war am 11. Januar 1944 vorbei. An diesem Tag erlebte Bielefeld seinen bisher schwersten Luftangriff, dem 114 Menschen zum Opfer fielen. Darunter waren auch 24 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor allem aus Polen und der Ukraine, die sich aus ideologischen Gründen nicht in Schutzräumen aufhalten durften. Die Zerstörungen reichten von den nördlichen Stadtteilen rund um den Hakenort und der Bleichstraße, über das Dürkoppviertel bis zur heutigen Alfred-Bozi-Straße, wo das Städtische Kunsthaus vollständig zerstört wurde. Bielefeld wurde erstmals mit Leichen konfrontiert, deren Identität kaum noch herausgefunden werden konnte. Von nun an gab es kaum noch einen Tag, an dem die Sirenen nicht vor einem Luftangriff warnten und die Zeit zwischen Fliegeralarm und Entwarnung für viele Menschen kaum zu ertragen war. Stets verbunden mit der anschließenden Erleichterung, noch einmal Glück gehabt zu haben. So war es auch im September 1944, als jeden Tag die Sirenen heulten, ohne dass etwas passierte.

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Bielefeld brennt! Das Foto wurde am 30. September 1944 von Carl Schröder aufgenommen, der Inhaber einer Kolonialwarenhandlung und Schenkwirtschaft an Detmolder Straße war. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 91-10-178

Als am 30. September 1944 der Voralarm um 12.57 Uhr ertönte, maßen ihm viele Menschen keine besondere Bedeutung bei. Auch der Fliegeralarm um 13.49 Uhr, der zum sofortigen Aufsuchen der Schutzräume aufrief, wurde eher ruhig aufgenommen. Hatte es nicht in den letzten Wochen fast täglich Fliegeralarm gegeben, ohne dass etwas passiert war, außer dass das Tagwerk unterbrochen wurde? Am 30. September war es anders. Schon wenige Minuten später konnte man eine sonst ruhige, jetzt aber fast sich überschlagene Stimme aus dem Radio hören: „Achtung! Höchste Alarmstufe! Feindliche Bomberverbände im direkten Anflug auf Bielefeld. Sie haben die Schächte geöffnet! Mit Bombenabwürfen ist zu rechnen!” Nur wenige Sekunden später fielen bereits die ersten Bomben auf die Stadt.

Der Angriff wurde von 300 Bombern der 3. US-amerikanischen „Bomb Division” geflogen, die von ihrem Stützpunkt im Südosten Englands gestartet waren. Das Ausmaß der Zerstörung und eine Opferzahl, die bis dahin beispiellos gewesen war, erweckten bei den Menschen den Eindruck, dass es sich um einen geplanten Flächenangriff auf die Innenstadt und auf die Zivilbevölkerung gehandelt haben musste. Alliierte Quellen nennen aber als Primärziele des Luftangriffs den „Verschiebebahnhof Bielefeld” und sogenannte „Ordnance Depots”, also Waffenlager. War die Katastrophe vom 30. September 1944 also ein militärischer Kollateralschaden, wie es in der kalten Sprache des Krieges heißt?

In mehreren Wellen wurden an diesem Nachmittag Angriffe geflogen und Tonnen von Brand- und Sprengbomben abgeworfen. Allein die erste Welle des Luftangriffs brachte Tod und Verderben. Dramatische Szenen spielten sich auf dem Betriebsgelände der Bentelerwerke ab, auf dem es das Gemeinschaftslager 13 für sogenannte Fremdarbeiter gab. Es handelte sich um Männer und Frauen aus der Ukraine, aus Russland, den Niederlanden, aus Frankreich, Belgien und Polen – Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Aus ideologischen Gründen war ihnen der Zugang zu Schutzräumen verboten. An der Weidenstraße wurden ausländische Arbeitskräfte von Sprengbomben regelrecht zerfetzt. Ehemalige Zwangsarbeiter aus der Ukraine berichteten: „Die Szenen, die sich abspielten, waren grauenhaft. Menschen mit abgerissenen Gliedmaßen schrien so lange, bis sie starben oder, sofern sie Glück hatten, nach dem Angriff von Rettern versorgt wurden.”

Nach der ersten Angriffswelle folgte eine zweite mit bis zu 2000 Pfund schweren Sprengbomben, deren Luftdruck im weiten Umkreis ihres Explosionszentrums Dächer abdeckten und Fenster eindrückten. Danach prasselten auf Bielefelds Dächer tausende Brandbomben, die alles Brennbare, das Holz des Dachstuhls, Möbel, Papier, entflammten. Auf diese Weise entstanden Tausende kleiner Brandherde, die in Windeseile zu einem großen Brand zusammenwuchsen. Der Luftangriff dauert etwa eine halbe Stunde. Bis auf wenige Maschinen, die von der Flak abgeschossen wurden, flogen die Bomber nach England zurück.

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Ausgebombt! Überlebende haben ihre neue Adresse an eine Hauswand in der Niedernstraße geschrieben (1944). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1523-127

Gegen 15 Uhr rückte die Feuerwehr unter größten Schwierigkeiten an. Krater machten Straßen unpassierbar, Wasserleitungen waren zerstört und in kürzester Zeit entwickelte sich ein regelrechter Feuersturm. In den noch unzerstörten Straßen sammelten sich Feuerwehren aus der gesamten Region, zu denen bald auch noch Feuerwehrbereitschaften aus Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Münster und sogar aus Wuppertal kamen. Dem Luftschutzkommando, das im Sedanbunker war, wuchsen wohl die Probleme über den Kopf, jedenfalls war es unfähig, die verschiedenen Hilfskräfte zu koordinieren. Schließlich rückten die Feuerwehren in Eigeninitiative in die Flammenhölle vor. Brandinspektor Erich Wilker schilderte seine Eindrücke: „Nur unter größten Schwierigkeiten konnten wir in das Feuermeer vordringen. Der Feuersturm riss uns fast von den Beinen, und um nicht selbst zu verbrennen, mussten wir regelrechte Wassergassen in die hitzedurchflutete Altstadt schlagen.”

Der Kampf gegen die Flammen dauerte vier Tage, in denen weite Teile der Altstadt vernichtet wurden. Tausende flohen aus der Stadt, selbst aus dem Bunker an der Neustädter Straße, in dessen direkter Nachbarschaft die Häuser in Flammen standen und zerstört wurden. Von der Promenade aus sahen sie entsetzt auf die Stadt hinunter. Für 649 Menschen kam jede Hilfe zu spät. Im Oktober 1944 war man noch von 563 Toten ausgegangen. Die entsetzlichen Überreste menschlichen Leidens, abgerissene Füße, bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper und Knochen, machten nicht nur eine Identifizierung schwierig, sie verhinderten auch lange Zeit eine genaue Ermittlung der Todesopfer.

Heinz Kerkhoff war 13 Jahre alt, als er den Luftangriff am Gehrenberg erlebte: „Bei dem wunderschönen Wetter waren [die Flugzeuge] ein imponierendes Bild. Als die ersten Bomben ausgeklinkt wurden und das Rauschen begann, liefen wir in den Luftschutzkeller unseres Hauses, wo schon Eltern und Mieter Schutz gesucht hatten. Als die erste Welle uns nicht getroffen hatte, sprach mein Vater beruhigend auf alle ein. Die zweite Welle war vorüber, ohne dass wir Schaden nahmen. Der dritte Abwurf traf uns voll. Überall im Keller Rauch und Qualm, der Phosphor lief durch die Kellerroste und entzündete einen Kohlehaufen. Alles raus aus dem Keller, da Phosphor nicht zu löschen war. Ich flüchtete durch das zersplitterte Schaufenster unseres Geschäftes […] Das Haus zu löschen war nicht möglich, da weder Wasser noch die Feuerwehr vorhanden waren. Dann lief ich den Ulmenwall hoch zum Neustädter Bunker. Es war wie ein starker Sturm, der Himmel war dunkel und voller Laub, Papier etc. Die ganze Altstadt stand in Flammen. Nach einiger Zeit verließen mein Vetter und ich den Bunker. Wir übergossen uns mit Löschwasser, damit unsere Kleidung kein Feuer fing […] Im Kindermannstift lagen die Leichen aufgereiht in den Fluren.” Kerkhoff machte sich noch am gleichen Tag nach Dornberg auf, kehrte aber zwei Tage später zu seinem elterlichen Wohnhaus zurück. „Aus dem 60 Grad heißen Keller bargen er und seine Schwester Habseligkeiten. Dann schrieben sie mit Kreide an das noch heil gebliebene Garagentor: „Alles im Arsch. Sind bei Tante Grete”.

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Margret Gehring (1926-1944). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,10/Militärgeschichtliche Sammlung, Nr. 76

Die achtzehnjährige Margret Gehring nahm sich am 1. Oktober 1944 die Zeit, ihrer Tante einen Brief zu schreiben: „Nach langer Zeit war dieses mal wieder für uns ein schrecklicher Tag. Wir können froh sein, daß wir haben diesesmal nichts verloren. Die Osnabrücker [Straße] ist wieder schwer davon getroffen worden. Die Bergungstruppen sind immer noch am Suchen, ob unter den Trümmern noch Menschen liegen. Die ganzen Fabriken, Betriebsamt, Kaufhäuser und noch wichtige Betriebe stehen noch in hellen Flammen. Ich kann auch nicht mehr arbeiten, unsere Firma brennt noch. Vater, der ist von Elverdissen (Herford) zu Fuß gekommen, er hatte von dort gesehn, daß Bielefeld es gelten sollte. Ich saß gerade beim Friseur unter dem Dauerwellenapparat, als dort alles einstürzte. An meinem Haar kann ja nun nichts weiter gemacht werden, denn wir haben kein Wasser und keinen Strom. Mit Mutter ist nichts anzufangen, die ist mit ihren Nerven so herunter gekommen. Du glaubst es gar nicht, was das schrecklich war. Hoffentlich war es das letzte Mal.” Am 18. Oktober kamen Margret Gehring und ihre Mutter bei einem weiteren Bombenangriff auf Bielefeld ums Leben.

Mit der Katastrophe vom 30. September 1944 wurde erstmals ein lokales Ereignis auf der Titelseite der Westfälischen Neuesten Nachrichten kommentiert. Und zwar von Wolfgang Thomas, dem stellvertretenden Chefredakteur der Zeitung, der einen kaum zu überbietenden Propaganda-Wortschatz über seine Leser ausschüttete: „Als sich das organisierte Gangstertum nach Chicagoer Unterweltmethoden nun am Sonnabend in ergiebigem Ausmaße auch auf Bielefeld gestürzt hat und mit Schauern von Spreng- und noch mehr Brandbomben das freundliche Antlitz der grünen Stadt am Teutoburger Walde in grässlicher Form missstaltete, als Staub und Rauch die Herbstsonne verfinsterten, da genügte nur ein flüchtiger Blick auf das Werk der amerikanischen Lufthunnen, um zu erkennen: nackter Terror, nichts als brutalste Form sinnloser Zerstörung und Menschenquälerei.” Diese Sprache verhinderte ein Innehalten nach fünf Jahren Krieg, ein stilles oder heftiges Trauern um die Menschen, die diesem Tag zum Opfer gefallen waren. Die Toten wurden am 6. Oktober nach einer Trauerfeier vor dem Rathaus auf dem Sennefriedhof beigesetzt. Am darauffolgenden Tag erlebte Bielefeld einen weiteren schweren Bombenangriff. Diesmal wurden die nördlichen Stadtteile rund um das Kamphofviertel, die Stadtwerke und die Herforder Straße in Mitleidenschaft gezogen. Und auch diesmal starben wieder 97 Menschen, unter ihnen der ehemalige Oberbürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst. Es war nicht der letzte Angriff: Bis März 1945 sollten noch weitere folgen. Erst am 4. April 1945 war der Krieg für Bielefeld nach dem Einmarsch amerikanischer Truppen beendet.

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Blick in die Breite Straße (1945). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-454-65

Die Bilanz des Krieges war für Bielefeld verheerend: Der Bombenkrieg hatte insgesamt 1349 Menschen das Leben gekostet. 15.688 Wohnungen waren teilweise oder ganz zerstört worden. Hinzu kamen zerstörte Versorgungsleitungen für Trinkwasser, Strom und Gas. Obdachlosigkeit, Zwangsraumbewirtschaftung von Wohnungen, Rationierung von Lebensmittel, Hungerwinter, Schwarzmarkt und Hamsterkäufe prägten noch lange Zeit das Leben in der Stadt.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,2/Hauptamt, Nr. 217: Maßnahmen nach Luftangriffen
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,2/Hauptamt, Nr. 285: Maßnahmen nach Luftangriffen
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,4/Feuerwehramt, Nr. 70: Berichte über Luftangriff auf Bielefeld am 13.6.1941
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,4/Feuerwehramt, Nr. 71: Berichte über Luftangriff auf Bielefeld (1941)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,4/Feuerwehramt, Nr. 72: Berichte über Luftangriff auf Bielefeld (1940-1945)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,4/Feuerwehramt, Nr. 73: Berichte über Luftangriff auf Bielefeld (1940-1942)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,4/Feuerwehramt, Nr. 74: Luftangriff im Stadtgebiet von Bielefeld (1940-1944)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,4/Feuerwehramt, Nr. 75: Berichte über Einsätze nach Luftangriffen (1944)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,14/Garten-, Forst- und Friedhofsamt, Nr. 296: Verzeichnis der Todesopfer des Luftangriffs vom 30.9.1944
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,14/Garten-, Forst- und Friedhofsamt, Nr. 303: Listen der bei Luftangriffen Getöteten (1942-1945)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,14/Garten-, Forst- und Friedhofsamt, Nr. 380: Kripolisten der Luftkriegsopfer
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 122: Luftkrieg in Bielefeld, aufgezeichnet und gesammelt von Dr. Gustav Engel
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,10/Militärgeschichtliche Sammlung, Nr. 76: Margret Gehring (1944)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung

Literatur

  • Eduard Füller, „Kriegsheimat”. Die Kinderlandverschickung aus dem nördlichen Westfalen im Zweiten Weltkrieg, Münster 2010, S. 204-229
  • Hans-Jörg Kühne, Der Tag, an dem Bielefeld unterging. 30. September 1944, Gudensberg-Gleichen, 2003
  • Hans-Jörg Kühne, Wir Kriegskinder. Zeitzeugen aus Ostwestfalen-Lippe erinnern sich, Gudensberg-Gleichen, 200
  • Waltraut Sax-Demuth, In jenen Tagen. Weiße Fahnen über Bielefeld. Untergang und Neubeginn 1945
  • Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘ 1890-1945, Göttingen 1987, S. 190-214
  • Reinhard Vogelsang, Der Bombenkrieg und seine Auswirkungen auf Bielefeld, in: Ravensberger Blätter 1994, Heft 1, S. 1-12
  • Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, S. 274-326
  • Bernd J. Wagner, Die Geschichte: Vom Jugendbunker zum Treffpunkt freier Jugendkultur, in: „These walls are soaked with music”. Bunker Ulmenwall Bielefeld – Geschichten von 56 bis morgen, hg. v. Wilfried Kley, Bielefeld 2013, S. 76-102

 

Erstveröffentlichung: 01.09.2014

Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd. J., 30. September 1944: Ein Luftangriff zerstört das alte Bielefeld, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2014/09/01/01092014, Bielefeld 2014

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