• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
„Als Bielefeld-City, die Obern- und Niedernstraße, heute Morgen die Augen aufschlug, füllten sich die eben aufgeschlagenen Augen mit Tränen. Über Nacht war sie ihres liebsten Verkehrsmittels, der Straßenbahn, beraubt worden.” Mit diesen pathetischen, aber wohl nicht ernst gemeinten Worten kündigte die Westfälische Zeitung am 1. August 1928 den vorläufigen Höhepunkt eines Verkehrsprojektes an, wie es Bielefeld seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hatte: Eine vollständige Neuordnung der Bielefelder Straßenbahn, in deren Folge die Schienen in der Altstadt stillgelegt wurden.

Dabei war die Linienführung durch die Altstadt durchaus konsequent, als die „Elektrische”, wie die Straßenbahn anfangs genannt wurde, erstmals am 20. Dezember 1900 durch die Niedern- und Obernstraße fuhr. Hier hatten die wichtigsten Geschäfte ihr Domizil, hier pulsierte das Leben. Allerdings zeigte es sich bereits bei der Jungfernfahrt, dass die Straßenbahn durch ein Nadelöhr fuhr, wodurch Stockungen unvermeidlich waren. So legten beispielsweise Geschirrführer, die „vor der Elektrischen herfuhren, oftmals eine sehr unangebrachte Gleichgültigkeit an den Tag” und wichen der neuen Technik nicht aus. Während erwachsene Passanten auf die Klingelzeichen achteten und „mit neugierigen Blicken” die Bahnen an sich vorbeifahren ließen, machte „die liebe Jugend den Wagenführern das Leben recht sauer, indem sie, oft 20-30 an der Zahl, die Wagen vorn, hinten und an der Seite umkreisten”. Diese Mutproben gingen aber wahrscheinlich glimpflich vonstatten. Dagegen mussten manche Fahrgäste erst lernen, verletzungsfrei die „Elektrische” zu verlassen. „Das Abspringen in der verkehrten Richtung musste schon ein Fahrgast auf der Obernstraße spüren, der in voller Fahrt absprang und sich recht unsanft auf das Asphaltpflaster setzte”, wusste die Westfälische Zeitung zu berichten. „Auch eine Frau […] traute sich zu viel zu und fiel gleichfalls hin.” In den ersten Tagen stiegen auch manche Fahrgäste in die verkehrten Wagen, weil sie dachten, dass die Straßenbahn nur nach Brackwede führe. Sie mussten erst lernen, dass die „Elektrische” vom Rettungshaus in Schildesche, dem heutigen Johannesstift, über die Innenstadt nach Brackwede und wieder zurückfuhr.

Dass Bielefeld überhaupt eine Straßenbahn bekommen sollte, wurde bereits 1895 beschlossen, als sich die Stadt für den Bau eines Elektrizitätswerkes aussprach. Die Planungen nahmen aber erst 1898 konkrete Züge an, als Carl Brüggemann, ein Diplomingenieur und ausgewiesener Experte, zum Leiter des Elektrizitätswerkes und der projektierten Straßenbahn berufen wurde. Bei der Planung der Linienführung spielte das pulsierende Leben in der Bielefelder Altstadt nur eine untergeordnete Rolle. Die Straßenbahn sollte vielmehr Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem südlich gelegenen Brackwede in die Stadt bringen, wo sich rund um den Bahnhof und in einem nord-östlichen Gürtel um die Altstadt die großen Textil- und metallverarbeitenden Fabriken befanden. Und da bot es sich an, den Berufsverkehr mit den Wünschen des Einzelhandels zu verknüpfen und die Schienen von der alten Gütersloher Straße her kommend durch die Obern- und Niedernstraße zum Jahnplatz zu verlegen. Von dort aus fuhr sie durch die Bahnhofstraße weiter zum Bahnhof.
Die Tatsache, dass die Straßenbahn in den Morgen- und Abendstunden vor allem der Arbeiterschaft kostengünstig Mobilität ermöglichen sollte, hatte auch betriebswirtschaftliche Konsequenzen. Im „Jahresbericht über das Gaswerk, das Elektrizitätswerk und die Straßenbahn der Stadt Bielefeld für das Jahr 1901” wird auf diesen Zusammenhang besonders hingewiesen: „Sehr weitgehend sind die Vergünstigungen, welche der Arbeiterbevölkerung gewährt wurden. Dieselben sind so bedeutend, dass die aus der Arbeiterbeförderung entstehenden Kosten durch die Einnahmen nicht gedeckt werden; sie finden jedoch ihre Begründung darin, dass die Stadt selbst Unternehmerin und deshalb in der Lage ist, aus sozialpolitischen Gründen auf einen direkten finanziellen Vorteil aus dem Unternehmen zu Gunsten eines großen Teiles der Bevölkerung teilweise zu verzichten.” Während ein normaler Fahrschein zehn Pfennig kostete, konnten Arbeiter und Schüler eine sogenannte Nummernkarte mit zwanzig Fahrten erwerben, wodurch sich der Einzelpreis auf fünf Pfennig reduzierte. Vor dem sich daraus ergebenen strukturellen Defizit konnten die Verantwortlichen im Betriebsamt und Rathaus dennoch ihre Augen nicht verschließen. Überdies wurde beobachtet, „dass das sonst bar zahlende Publikum zu Zeiten des Arbeiterverkehrs die Bahn nicht benutzen konnte, weil die Arbeiter […] meist schon vor den Haupthaltestellen […] die Wagen besetzten.”

1905 wurden erstmals die Fahrpreise angehoben. Der Tarif unterschied bei den normalen Fahrkarten nun zwischen Teilstrecken und der Gesamtstrecke. So kostete beispielsweise ein Fahrschein von Brackwede nach Bethel weiterhin 10 Pfennig, von Brackwede bis zum Alten Markt 15 Pfennig und für die Gesamtstrecke 20 Pfennig. Anstelle der bisher zeitlich uneingeschränkt gültigen Nummernkarten wurden Wochenkarten eingeführt, wodurch sich der Preis je Fahrt um bis zu 33 Prozent auf 6 2/3 Pfennig erhöhte. Kostendeckende Mehreinnahmen konnten anfangs dennoch nicht erzielt werden, weil ein Teil der Arbeiterschaft ihre Fahrten reduzierte, während andere die Straßenbahn gleich boykottierten. Das wurde auch im Betriebsamt wahrgenommen. Als sich im Laufe des Jahres die Fahrgastzahlen wieder einpendelten, wies Carl Brüggemann nochmals auf die Notwendigkeit dieser Maßnahmen hin und betonte, dass auch beim jetzigen Tarif das Fahrgeld der Arbeiter „nur etwa 30 bis 60 Prozent der Selbstkosten” betrüge.
Zu diesem Zeitpunkt hatte eine zweite Linie längst ihren Betrieb aufgenommen. Im April 1902 wurde mit dem Bau der Linie 2 begonnen. Sie führte vom Bahnhof über die Düppel- (bzw. die heutige Herbert-Hinnendahl-Straße) und Herforder Straße zum Jahnplatz, über den Nieder- und Ulmenwall zum Landgericht und über die Detmolder Straße nach Sieker. Bereits am 31. Juli 1902 konnte die Strecke vom Bahnhof bis zur heutigen August-Bebel-Straße befahren und einen Monat später die Endstation Sieker erreicht werden. Fünf Jahre nach der Inbetriebnahme der Straßenbahn wurden innerhalb eines Jahres mehr als drei Millionen Fahrgäste befördert; und das bei einer Gesamtbevölkerung im Einflussgebiet von knapp 100.000 Menschen. Die gesamte Streckenlänge betrug etwas mehr als dreizehn Kilometer, von denen aber etwa 7,7 Kilometer eingleisig ausgeführt waren. Das hielt zwar die Kosten in überschaubaren Grenzen, schuf aber Probleme, als das Betriebsamt die Taktzeiten reduzieren wollte, um das hohe Fahrgastaufkommen bewältigen zu können.

Waren die Verantwortlichen in der Planungsphase von einem 30-Minuten-Takt ausgegangen, so wurde schon im ersten Betriebsjahr „eine zeitweise 7 ½ minütige Wagenfolge in Aussicht genommen” und 1906 über einen 5-Minuten-Takt im Stadtgebiet diskutiert. Dieses Ziel war nur mit einem zweigleisigen Ausbau der Gesamtstrecke erreichbar. Nach der Eröffnung des Sennefriedhofs (1912) musste aber dieser zunächst angeschlossen werden, wodurch die Streckenlänge auf etwa 15 Kilometer anwuchs. Als das Betriebsamt den zweigleisigen Ausbau endlich angepackte und überdies eine neue West-Ost-Linie von der Bosse- bis zur Oststraße realisieren wollte, stoppte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges dieses Vorhaben. Die neuen Gleise lagen im August 1914 bereit, wurden aber wieder fortgeschafft und wahrscheinlich für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen. Nach dem Krieg und in der darauffolgenden Inflationszeit konnte an eine Wiederaufnahme der Vorkriegspläne gar nicht erst gedacht werden. Ungeachtet dessen nahm auch in Bielefeld der Verkehr dramatisch zu. „Der Verkehr auf den Straßen Bielefelds hat seit Jahren vollkommen den Umfang und Charakter einer Großstadt angenommen”, war im Januar 1925 in der Westfälischen Zeitung zu lesen. „Während aber dort eine gewisse Straßendisziplin für die notwendige Verkehrsregelung sorgt, bleibt in unserer Stadt auf diesem Gebiete noch allerlei zu wünschen übrig.” Anlass dieser Rüge war die Gründung der Verkehrswacht mit Sitz in Bielefeld, die für den Bereich der Provinz Westfalen und des lippischen Freistaates das Ziel verfolgte, „den Kraftwagenverkehr dem übrigen Straßenverkehr” anzupassen „und an der Regelung des allgemeinen Straßenverkehrs zielbewußt” mitzuwirken. In einer öffentlichen Sitzung diskutierte die Verkehrswacht im März 1925 eingehend über die Verkehrssituation in der Obern- und Niedernstraße. Zum großen Ärgernis avancierten dabei Rad- und Motorradfahrer, die die einen ganz, andere zumindest zweitweise aus der Altstadt verbannen wollten. Auch Lastkraftwagen, die vor Geschäften be- und entladen wurden, gerieten ins Visier. Der Vorschlag, dass Fußgänger auf den jeweiligen Bürgersteigen nur noch in eine Richtung laufen sollen, wurde gewiss auch in den zwanziger Jahren kaum als taugliches Mittel gesehen, um die mitunter gefährliche drangvolle Enge auf den Gehwegen zu verhindern. Und letztlich wurde die Meinung vertreten, dass dieses Nadelöhr für die Straßenbahnlinie ungeeignet sei. Sie solle daher aus der Altstadt herausgenommen und westlich davon zur Gütersloher Straße verlegt werden.

Das große Verkehrsaufkommen ließ sich in Zahlen wiedergeben: Nach der Verkehrszählung vom 1. Juli 1926 gab es in Bielefeld rund 1.100 PKW, 300 LKW und 700 Motorräder. Die Zahl der Fahrradfahrer wird sich im höheren vierstelligen Bereich bewegt haben. Und alle Beteiligten waren sich sicher, dass jedes Jahr mehr Verkehrsteilnehmer auf die Straßen drängten. Erwähnenswert für die Zeitgenossen war der Hinweis, dass unter den „Herrenfahrern”, gemeint waren die Besitzer eines PKW-Führerscheins, „sich etwa dreißig Damen” gefunden haben.
Nach Krieg und Inflation war das städtische Betriebsamt 1924/25 in der Lage, wieder größere Investitionen zu tätigen. Die geplante West-Ost-Verbindung wurde dahingehend modifiziert, dass die Straßenbahnlinie nun von der Oststraße über den Kesselbrink und Jahnplatz kommend über die Jöllenbecker Straße bis zur Langen Straße geführt werden sollte. Auf der Strecke der neuen Linie 3 fuhren zu dieser Zeit Busse, die meistens voll ausgelastet waren. Indem das Betriebsamt die Linienführung vom Bürgerweg (der späteren Stapenhorststraße) zur Jöllenbecker Straße verlegte, trug es dem sich dort entwickelten gemischten Wohn- und Gewerbegebiet Rechnung. Alsdann sollte die Linie 2 vom Bahnhof über die Herforder Straße bis zum Walkenweg verlängert und vor allem die eingleisige Streckenführung nach Brackwede durch ein zweites Gleis ergänzt werden. Dass der öffentliche Personennahverkehr ein Wachstumsmarkt war, der sich stets den neuen Anforderungen anzupassen hatte, zeigte auch die Anzahl der beförderten Fahrgäste: 1925 wurde mehr als elf Millionen Fahrgäste gezählt. Und weil, wie der Geschäftsbericht für das Jahr 1927 betonte, die „Besserung der gesamten Wirtschaftslage […] nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung der Straßenbahn” blieb, griffen das Betriebsamt und der Magistrat auch den Vorschlag der Verkehrswacht auf, die Straßenbahn westlich der Altstadt zu verlegen.

Die „Entfernung der Straßenbahn aus den Hauptgeschäftsstraßen” rief allerdings Proteststürme hervor. So sehr auch über den Verkehrskollaps in Bielefelds Altstadt geklagt wurde, eine Entfernung der Straßenbahn würde letztlich „eine schwere materielle Schädigung der Geschäfte an der Obern- und Niedernstraße bedeuten, die doch als Steuerzahler ein wesentlicher Faktor im städtischen Finanzhaushalt sind”, klagten die betroffenen Anlieger, und sie drohten, dass über diese Angelegenheit noch „nicht das letzte Wort” gesprochen sei. Zwar wurde im Rathaus noch ausgiebig darüber diskutiert, aber auch die Mehrheit der Stadtverordneten sprach sich für eine Neuordnung der Bielefelder Straßenbahn aus.
Bereits am 1. Februar 1928 konnte die neue Linie 3 in Betrieb genommen werden. Es folgte der zweigleisige Ausbau „im Dorf Brackwede” und der Eisenbahnunterführung an der Schildescher Straße. Die Linie 2 wurde um gut 2,8 Kilometer über die Kleine Bahnhofstraße bis zum Walkenweg verlängert, und am 1. August 1928 fuhr die Linie 1 erstmals an der Altstadt vorbei. Die bis dahin schmale Hindenburgstraße wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer 10,50 Meter breiten „Hauptverkehrsstraße” ausgebaut, in deren Mitte die beiden Straßenbahngleise verlegt wurden. Während die sozialdemokratische Volkswacht nüchtern, aber angemessen und die Westfälischen Neuesten Nachrichten sehr ausführlich über den ersten „Tag auf neuen Verkehrswegen” berichteten, hob sich die Berichterstattung der Westfälischen Zeitung von den anderen Tageszeitungen ab. Sie hatte sich seit 1927 besonders kritisch mit dem Straßenbahnprojekt auseinandergesetzt und stets ihre Sympathie für die Anlieger der Altstadt bekundet. Von daher schwang in dem eingangs zitierten Pathos wohl doch wehmütiger Ernst mit, der schnell in Polemik umschlug. Dass nun ein Omnibus durch die Altstadt fahren sollte, war für die Zeitung kein Ersatz für die Straßenbahn: „Das grollende Herz der Innenstadt empfindet diesen Ersatz als einen schlechten Scherz über das bittere Unrecht, das ihm wiederfuhr.” Und der Artikel zog abschließend alle Register: „Jene Straßenbahnen aber, die vom Jahnplatz und der Koblenzer Straße in die Hindenburgstraße einzufahren gezwungen sind und den altvertrauten Weg nicht einschlagen dürfen, schleichen sich um das Zentrum am hellichten Tag, wie ein Dieb in der Nacht herum”.

Gegen diese Polemik halfen nur noch nüchterne Zahlen: Ende 1928 betrug die Gesamtstreckenlänge 23 Kilometer, von denen 19 Kilometer doppelgleisig ausgeführt waren. 58 Triebwagen und 44 Anhänger garantierten zur Hauptverkehrszeit einen 5-Minuten-Takt. Mehr als 14 Millionen Fahrgäste wurden gezählt. Die Straßenbahn als wichtigster Bestandteil des öffentlichen Personennahverkehrs war dem innerstädtischen Verkehr gewachsen. Der nächste Verkehrsinfarkt drohte in den 1950er Jahren und führte zum Umbau des Jahnplatzes. Aber das ist ein anderes Thema.
Quellen
- Jahresbericht über das Gaswerk, das Elektrizitätswerk und die Straßenbahn der Stadt Bielefeld (1901-1928)
- Jahresberichte über den Stand und die Verwaltung der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt Bielefeld (1895-1928)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 37
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Volkswacht, Bielefelder Generalanzeiger, Westfälische Neueste Nachrichten, Westfälische Zeitung (1901-1928)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
Literatur
- Jürgen Büschenfeld, Wolfgang Klee, Rüdiger Uffmann, Bahnen in Bielefeld, Nordhorn 1997, S. 104- 115
- Jürgen Büschenfeld, Netz/Werk/Stadt. Aufbruch in ein neues Zeitalter, Bielefeld 2000
- Rainer Kotte, Die Bielefelder Straßenbahn im Wandel der Zeit, Lübbecke 1989.
- Peter Stuckhard, Heinrich Gräfenstein, Damit es hell und warm ist. Geschichte der Stadtwerke Bielefeld, Bielefeld 2000
- Verlagsgesellschaft Flamm Druck (Hg.), Bielefeld – Die Stadtbahn. Freie Bahn auf der ganzen Linie, Waldbröl 1991
Erstveröffentlichung: 01.08.2013
Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J. , 1. August 1928: Die Straßenbahn fährt nicht mehr durch die Bielefelder Altstadt, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2013/08/01/01082013, Bielefeld 2013