11. September 1887: Das Herbstrennen des Bielefelder Velociped-Klubs

• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

„Warum die Radfahrer von weit und breit sich wohl immer so gern und in solcher Menge zu dem von dem B-V-K veranstalteten Festen einfinden mögen?”, fragte m August 1887 die Westfälische Zeitung ihre Leserschaft. Am 11. September veranstaltete der Bielefelder Velociped-Klub (B-V-K) sein jährliches Herbstrennen und bekannte „Renner”, aber auch neue „Jugendfahrer” hatten ihr Kommen zugesagt. Wenn das Wetter „günstig bleibt”, verspreche das Radrennen „ein hochinteressantes” zu werden, hoffte die Tageszeitung.

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Anzeige des Bielefelder Velocipedclubs in der Westfälischen Zeitung vom 10. September 1887. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen

Vor 125 Jahren dominierten vor allem zwei Fahrradtypen den noch überschaubaren Markt. Zum einen das Zweirad, das 1887 überwiegend als Hochrad gebaut wurde; das moderne Niederrad war noch recht selten zu sehen. Zum anderen das Dreirad, das sich weniger gefährlich fahren ließ und daher Frauen und älteren Männern empfohlen wurde. Was alle Fahrräder in den späten 1880er Jahren verband, war ihr sehr hoher Preis. Ein modernes Hochrad konnte 400 bis 500 Mark kosten, also etwa sieben bis acht Monatslöhne eines gut ausgebildeten Facharbeiters in der Bielefelder Metallindustrie. Entsprechend selten waren Fahrräder zu sehen, deren Besitzer auch angehalten waren, besondere Rücksicht auf Fußgänger, Reiter oder Pferdefuhrwerke zu nehmen. Damit diese nicht erschraken, empfahl Wilhelm Wolf in einem 1890 erschienen Ratgeber, dass „jeder Radfahrer die von ihm eingeholten” Verkehrsteilnehmer „durch Glocken oder Pfeifenzeichen auf seine Annäherung aufmerksam zu machen” habe.

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Ein Dreirad der Bielefelder Firma Dürkopp & Co. (1888). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-37-67

Bevor sie sich allerdings auf die oft notdürftig befestigten Chausseen oder abseitigen Straßen und Wegen wagten, sollten sie, dem Ratgeber zufolge, erst einmal das Radfahren lernen. Und da dieses nicht so einfach war, sollte der Radfahrer die Öffentlichkeit meiden, „da er sonst sehr bald durch eine Anzahl neugieriger Zuschauer belästigt werden würde, von denen manche mit höhnischen Bemerkungen nicht hinter dem Berg halten würden.” Dass von den angehenden „Velocipeden” auch artistisches Geschick erwartet wurde, zeigt eine Anleitung zum „Erlernen des Radfahrens” aus dem Jahr 1890: „Besondere Übung erfordert das Auf- und Absteigen. Will man das Niedere Zweirad besteigen, so stelle man sich an seine linke Seite ergreife mit der linken Hand die Lenkstange und halte diese in ihrer richtigen Lage fest, lege die rechte Hand nun ebenfalls auf die Lenkstange, setze das Rad dadurch in Bewegung, dass man dasselbe nach vorn schiebt, mache hierauf mit Hilfe der gestützten Hände, dabei den linken Fuß auf den an der Hinterradnabe befestigten Auftritt setzend, einen Sprung wie beim Überspringen einer Barriere und lasse sich leicht auf den Sattel fallen. Hierauf bringt man die Füße mit den Tretern in Verbindung und setzt den Lauf fort.” Wer danach nicht vom Sattel fiel, der hatte es fast geschafft. Überschätzte man aber sein Können und fuhr zu schnell in die Kurven, dann war ein Sturz unvermeidbar, „und man hat dann von Glück zu sagen, wenn man sich selbst oder die Maschine nicht beschädigt”, belehrte Wilhelm Wolf.

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Plakat für das legendäre Fahrrad Dürkopp Diana (um 1900). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,9/Plakate, Nr. 4100

Doch zurück nach Bielefeld. Dort hatte die Nähmaschinenfabrik Dürkopp & Co. 1885 die Produktion von Fahrrädern aufgenommen. In den ersten vier Jahren musste sie allerdings noch die meisten Einzelteile aus England importieren. Als Dürkopp 1889 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde und damit Kapital zur Verfügung stand, war die vollständige Fahrradproduktion in Bielefeld sichergestellt. Die herausragenden Verkaufserfolge der Dürkoppfahrräder, die vor allem auf den Siegeszug der Niederfahrräder seit etwa 1890 zurückzuführen waren, ermutigten auch andere Bielefelder Nähmaschinenfabriken, Fahrräder herzustellen. 1893 nahm die Firma Hengstenberg (die späteren Ankerwerke), 1897 Koch & Co und ein Jahr später Baer & Rempel, die nach einem Brand in „Phoenix” umbenannt wurde, die Fahrradproduktion auf. 1900 hatte sich Bielefeld längst zu einem wichtigen Zentrum der deutschen Fahrradindustrie entwickelt.

In den 1880er Jahren hatten wohl nur die kühnsten Optimisten von dieser Entwicklung träumen können. Fahrräder waren exklusiv, mehr Sport- als Gebrauchsgegenstände und erregten vor allem Aufsehen. Genauso wie die Männer, die diesen Sport betrieben und Berühmtheit erlangten; wie zum Beispiel ein gewisser Hartmann aus Hannover, den man seinerzeit besser unter seinem verwegenen Pseudonym „schwarzer Teufel” kannte. Daher waren Radrennen auch besondere Ereignisse, die viele Menschen an die Straßen lockten. So auch am 11. September 1887 beim Herbstrennen des Bielefelder Velociped-Clubs, das natürlich an einem Sonntag stattfand, dem einzigen arbeitsfreien Tag in der Woche. Obwohl das Wetter durchwachsen war, besuchten rund 2.600 Menschen Bollbrinkers Rennbahn in Gadderbaum, und die Westfälische Zeitung wies darauf hin, dass „die schöne Damenwelt unserer Stadt […] besonders stark vertreten war”.

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Die Gaststätte Modersohn an der Niedernstraße Ecke Altstädter Kirchstraße (1924). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1523-63

Für die teilnehmenden Radrennfahrer hatte das Großereignis bereits einen Tag zuvor begonnen. Am Samstagabend versammelten sich die angemeldeten Gäste im Restaurant Modersohn, das als Clublokal der Bielefelder Fahrradfreunde fungierte, und tauschten bei einem „gemütlichen Zusammensein” Informationen über die neueste Entwicklung auf dem Radmarkt aus. Am Sonntagmorgen fand für die Rennfahrer im Hotel Boucher am Alten Markt ein offizieller Empfang statt und anschließend eine Besichtigung von „gewerblichen Etablissements”, unter denen die Fahrradproduktion der Firma Dürkopp & Co. bestimmt die größte Aufmerksamkeit erregte.

Um 12 Uhr startete ein Fahrradkorso vom Neumarkt über die Marktstraße, Kaiser- (der heutigen August-Bebel-Straße) und Viktoriastraße sowie die Niedern- und Oberstraße zu dem außerhalb der Stadt gelegenen Bollbrinkers Rennplatz. Obwohl Frauen als potentielle Radfahrerinnen von der noch jungen Fahrradindustrie gesehen wurden, nahmen an dem Herbstrennen ausschließlich Jungen und Männer teil, die beim Korso durch die Stadt Kniehosen und Mützen tragen mussten. Nach dem Reglement des Bielefelder Velocipedclubs waren ausschließlich „Herrenfahrer” zugelassen, was die Teilnahme von professionellen Fahrern ausschloss.

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„Sicherheitsrad” der Firma Dürkopp & Co. (1888). Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 31-37-85

Nachdem die Teilnehmer pro Einsatz 3 Mark Startgeld entrichtet hatten, begannen pünktlich um 15 Uhr die Rennen. Zuerst stand das „Gauverbandsfahren” über 5.000 Meter auf dem Programm, an dem nur Vereinsmitglieder teilnehmen durften. Der Sieger kam vom Radfahrerverein Bochum, der die Distanz in 11 Minuten und 32 ¾ Sekunden zurücklegte. Wenn man bedenkt, dass die Vorderradnabe direkt mit der Pedale verbunden war, dann nötigt die erzielte Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 25 km/h noch heute Respekt ab. Dann folgte das „Große Dreiradfahren” über 3.000 Meter, das Carl Deilmann vom Radfahrerverein Dortmund in 7 Minuten und 8 Sekunden gewann. Immerhin erzielte er mit dem schweren Gerät eine Durchschnittgeschwindigkeit von etwas mehr als 20 Stundenkilometern. Beim anschließenden „Erst-Fahren” über 2.000 Meter, an dem alle „Herrenfahrer” teilnehmen durften, die bisher noch nicht auf einer Rennbahn gewonnen hatten, konnte endlich ein Mitglied des gastgebenden Bielefelder Velocipedclubs das Siegertreppchen besteigen: Heinrich Kralemann bezwang die Distanz in 4 Minuten und 27 2/5 Sekunden. Kralemann war bis dahin am schnellsten unterwegs. Wie die Sekundenbruchteile 1887 gemessen wurden, bleibt allerdings ein Geheimnis.

Von besonderem Interesse war ein Rennen, das mit so genannten Sicherheitsfahrrädern gefahren wurde. Mit diesem Terminus wurden Fahrräder bezeichnet, bei denen die Pedale nicht mit der Vorderradnabe verbunden, sondern bei denen sie im Rahmen eingearbeitet worden war und die Kraft mit einer Kette – einem Transmissionsriemen gleich – an das Vorder- oder Hinterrad übertragen wurde. Diese Innovation sollte einige Jahre später Standard in der Fahrradherstellung werden. Am 11. September 1887 bot sich den Teilnehmern und Gästen des Herbstrennens die „Gelegenheit, die neuen von der hiesigen Firma Dürkopp & Co. konstruierten Sicherheitsmaschinen kennen zu lernen.” Zwei Fahrer aus Krefeld namens Dörkenbrecher und Zaunbrecher gingen bei diesem Rennen als Sieger hervor, ihre Zeiten konnten aber noch nicht überzeugen. Mit 6 Minuten 33 bzw. 6 Minuten 38 Sekunden erreichten sie noch nicht einmal eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 km/h. Das sollte sich aber wenige Jahre später durch verbesserte Technik ändern. Weitere Rennen für „Herrenfahrer”, Verbandsmitglieder und acht Jugendfahrten für „Knaben unter 15 Jahren” über Distanzen zwischen 1.000 und 5.000 Meter wurden von dem Publikum begeistert begleitet.

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Fahrradkorso am Niederwall anlässlich eines Radrennens im Mai 1893. Die Teilnehmer fahren an der Villa von Nikolaus Dürkopp vorbei. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 57-4-65

Als am späten Nachmittag auf dem „Bollbrinker” die Sieger geehrt wurden, gab es nicht nur Medaillen, sondern auch zahlreiche Sachpreise. Dazu gehörten eine goldene Uhrenkette und ein Zigarrenschrank, Bowlenservice und Rauchservice, Reisedecke und selbst ein Brillantring, der als „Ehrenpreis” für Dreiradfahrten über 1.000 Meter vergeben wurde. Die jugendlichen Rennfahrer konnten eine Brieftasche oder eine „Kugelpedale” für ihre Räder gewinnen. Der Wert des technischen Zubehörs machte noch einmal deutlich, dass in den 1880er Jahren Fahrradfahren ein Sport für Wohlhabende war: Eine Brownsche Kugelpedale kostete etwa 27 Mark oder anderthalb Wochenlöhne eines gut ausgebildeten Metallfacharbeiters.

Für die Besucher des Bielefelder Herbstrennens bot sich 1887 die Chance, das breite Spektrum des Fahrrades kurz vor seinem großen Durchbruch in einem spannenden Wettkampf zu erleben. Mit der Erfindung der Luftbereifung 1888 durch den in Schottland geborenen Tierarzt John Boyd Dunlop und dem Siegeszug des Niederrades verschwanden die Hoch- und Dreiräder bald von der Bildfläche. Das Fahrrad wurde allerorten zum beliebten und bald auch preiswerten Fortbewegungsmittel. Um an Radrennen teilnehmen zu können, musste man keine „dicke Brieftasche” mehr haben, Kondition und sportlicher Wagemut reichten aus. Die wohlhabenden „Herrenfahrer” fanden bald einen neuen exklusiven Sport: Das erste Autorennen fand 1894 statt und führte von Paris nach Rouen. Die 126 Kilometer lange Strecke legten die Rennfahrer mit einer atemberaubenden Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 km/h zurück – aber auch Autos sollten bald schneller fahren.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung

Literatur

  • Volker Briese/Wilhelm Matthies/Gerhard Renda (Hg.), Wegbereiter des Fahrrads. Beiträge der 2. Fahrradhistorischen Tagung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs im Historischen Museum Bielefeld, Bielefeld 1997
  • Karl Ditt, Industrialisierung, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Bielefeld, Dortmund 1982
  • Jutta Franke, Illustrierte Fahrradgeschichte, Berlin 1987
  • Gegenwind. Zur Geschichte des Radfahrens, Hg. v. Sekretariat für kulturelle Zusammenarbeit nichttheatertragender Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, Bielefeld 1995
  • Wilhelm Wolf, Fahrrad und Radfahrer, Leipzig 1890, ND 1979

 

Erstveröffentlichung: 01.09.2012

Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 11. September 1887: Das Herbstrennen des Bielefelder Velociped-Klubs, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2012/09/01/01092012/, Bielefeld 2012

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