15. August 1912: Der Sennefriedhof wird offiziell seiner Bestimmung übergeben

• Dagmar Giesecke, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

„Verehrte Anwesende! Der heutige Tag, an dem der Sennefriedhof eröffnet werden soll, wird ein bemerkenswerter Gedenktag in der Geschichte unserer Stadt werden. Viele Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte hindurch wird der neue Gottesacker der Bestattungsort für die Bürger unserer Stadt sein. Neben müden Erdenpilgern, die die Last der Jahre drückt und die sich nach der Ruhe sehen, wird er auch viel irdisches Glück in seinen Schoß fortnehmen und viele junge Hoffnungen werden auf ihm zu Grabe getragen werden, […] Wohl aber können und sollen wir den Schmerz über den Heimgang unserer lieben Toten lindern, indem wir ihnen eine friedliche und freundliche, würdige Ruhestätte bereiten. […] Indem ich den Sennefriedhof zur Benutzung nach Maßgabe der dafür erlassenen Ordnung überweise, lade ich zugleich zur Teilnahme an der ersten Trauerfeier ein, die gleich um 5 Uhr stattfinden soll.” Mit diesen Worten übergab der Oberbürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst den Friedhof der Öffentlichkeit. Darüber hinaus berichtete am 16. August 1912 der Bielefelder Generalanzeiger in seiner Beilage ausführlich über den gesamten feierlichen Akt.

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Nachträglich kolorierter Übersichtsplan vom Sennefriedhof, ca. 1912. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V, Nr. 33

Friedhöfe, wie sie heute vorhanden sind, gibt es seit gerade etwas mehr als 200 Jahren. Neue Gesetzgebungen in der Zeit der Aufklärung führten zur Schließung der davor innerorts existierenden Friedhöfe. Einher gingen damit starke rechtliche Einschränkungen der Kirchen, die bis dahin die Gottesacker bzw. Kirchhöfe unter sich hatten. Vor den Toren der Städte und Dörfer entstanden um 1800 neue Friedhöfe, und viele um die Kirche gelegenen Begräbnisstätten mussten geschlossen werden. Repräsentativ, hygienisch und ökonomisch sollten die neuen in erster Linie sein. Die politischen Machthaber glaubten im Sinne ihrer Untertanen zu handeln. Die Zustände auf den bisherigen Gräberfeldern waren mehr als unerträglich. Die aus Platzmangel oftmals übereinander bestatteten Leichen stanken im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel. Noch nicht verweste Überreste versuchte man immer wieder in so genannten Beinhäusern nachzubestatten.

Bielefeld legte unter diesen Gesichtspunkten 1808 den Alten Friedhof am Jahnplatz an. Die mehr als schnelle Belegung, auch bedingt durch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung und damit stark anwachsende Bevölkerung in den Städten, führte schon 1900 wieder zu dessen Schließung. Auch auf den anderen Bielefelder Begräbnisstätten wurde es bald eng. „Die beiden städtischen Friedhöfe hier – Johannis- und Nikolaifriedhof – sind nahezu belegt. Es ist berechnet, dass der noch verfügbare Raum nur noch bis Ende des nächsten Jahres ausreichen wird. Die Stadt sieht sich in die Notwendigkeit gestellt, entweder die älteren Teile der Friedhöfe wieder zu belegen oder neue Begräbnisplätze zu schaffen. Die kreisärztliche Begutachtung über die Wiederbelegbarkeit der älteren Teile der beiden genannten Friedhöfe hat ergeben, daß die Verwesung der dort bestatteten Leichen, trotz 25 – 30 Jahre seit der Bestattung verflossen sind, noch nicht weit genug vorgeschritten ist”, ist im Ratsprotokoll von 1910 zu lesen. Also wurden die Überlegungen, die vorhandenen Friedhöfe wieder zu belegen oder zu erweitern, doch verworfen. Dazu kamen finanzielle Aspekte, innerstädtischer Raum war teuer. So traf der Rat den Entschluss, einen neuen „Centralfriedhof” außerhalb der Stadt in Brackwede anzulegen. Das südlich von Brackwede gelegene Areal umfasste eine Größe von ca. 60 Hektar, wovon 32 Hektar den ersten Bauabschnitt bilden sollten. Auch wenn damals Brackwede weit außerhalb der Stadt lag und für die Hinterbliebenen einen weiten Weg bedeutete, so war der große Pluspunkt die nach dort fahrende Straßenbahn. Sie ließ diesen Ort innerhalb einer halben Stunde erreichen. Um direkt bis zum Friedhof fahren zu können, mussten die Schienen nur um 150 m verlängert werden.

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Straßenbahnpersonal an der Endhaltestelle Sennefriedhof, um 1916. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 23-005-037

Ein weiterer Aspekt war die Möglichkeit, einen Park- bzw. Waldfriedhof anzulegen. Diese neue Friedhofsart, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde geleitet von der Vorstellung, mit dem Wald und seiner eigenen Bepflanzung dem Tod seinen Schrecken zu nehmen. Damit verbunden war eine seit der Aufklärung einhergehende Verdrängung des Todes aus dem alltäglichen Leben.

Die Stadt bestellte noch vor Genehmigung durch die Stadtverordnetenversammlung beim Königlichen Kreisarzt Medizinalrat Dr. Julius Nünninghoff ein Gutachten über die potentielle neue Friedhofsanlage, das er im Mai 1910 fertig gestellt hatte. „Dieses Gelände, […], liegt am Südabhange des Teutoburger Waldes auf langsam abfallendem Terrain, ist in seinem südlichen und mittleren Teil ziemlich eben und in seinem nördlichen Teil durch eine längliche Talsenkung vertieft, in derem Grunde sich eine Quelle befindet, die evtl. zu einem Teich umgestaltet und deren Umgebung zu gärtnerischen Anlagen benutzt werden soll. […] Die Zuwege sind günstig, da sowohl von der West- als auch von der Ostseite breite, gut gepflegte Kreisstraßen […] vorbeiführen. […] Das angekaufte Terrain reicht also mindestens für 60 Jahre. Da bis dahin mit großer Wahrscheinlichkeit die Leichenverbrennung, wenigstens facultativ, eingeführt sein wird, so dürfte das Grundstück für einen noch viel längeren Zeitraum ausreichen. Das von der Stadt Bielefeld angekaufte Terrain eignet sich hierdurch zu Begräbniszwecken, […] 3)weil der Grundwasserstand ein verhältnismäßig tiefer ist, und das Grundwasser auch beim höchsten Stande kaum die Grabessohle erreichen wird […].”

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Freies Waldgelände auf dem Sennefriedhof, ca. 1932. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 83-003-003

Nach dem Beschluss des Bielefelder Rates erörterte die Gemeinde Brackwede im Mai desselben Jahres den Antrag und genehmigte diesen, allerdings unter einer Bedingung: „Der Leichentransport zum Friedhof darf nur in den Abendstunden und zwar nur nach 10 Uhr abends erfolgen und muß möglichst unauffällig und ohne wesentliche Belästigung der hiesigen Einwohnerschaft mit der elektrischen Straßenbahn und in besonderen, gut verschlossenen Wagen geschehen.” Auf diese Art der Leichenbeförderung ging auch Dr. Nünninghoff in seinem Gutachten ein und bemerkte, dass die Stadt sich wohl überlegen könne, ob ein Transport mit der Bahn statt mit einem Leichenwagen sinnvoll wäre. Aus hygienischen Gründen würde nichts dagegen sprechen. Drei Tage vor der Eröffnung kam es diesbezüglich zu einer Auseinandersetzung zwischen der Gemeinde Brackwede und der Stadt. Sie hatte inzwischen festgelegt, den Leichentransport nicht mehr gesammelt per Straßenbahn durchzuführen, sondern die Toten in Leichenwagen zum Beerdigungsort zu bringen, geschlossen und unauffällig.

Um die Anlegung eines neuen Gottesackers überhaupt entstehen zu lassen, mussten zuvor Grundstücke der Gemeinden Brackwede und Senne I sowie 37 privater Eigentümer angekauft werden. Ebenfalls erforderlich wurde ein Grundstückstausch zwischen Brackwede und Senne I. Die polizeiliche Genehmigung durch das Amt Brackwede zum Bau einer Friedhofsanlage ging bei der Stadt Bielefeld am 1. Juli 1910 ein.

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Verweilen auf dem Sennefriedhof am Schöpfbrunnen, ohne Datum. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 83-003-011

Mit der Planung und Durchführung wurde Baustadtrat Friedrich Schultz, unter maßgeblicher Beteiligung der Gartenbaudirektors Paul Meyerkamp, beauftragt. Neben der Anlegung der Grabstätten sollten eine Kapelle nebst Leichenhalle, Eingangsgebäude und ein Wirtshaus, wo nach Beerdigungen Trauerfeiern stattfinden konnten, erbaut werden. Am 6. Februar 1911 genehmtigte der Magistrat 30 000 RM und mit der Freigabe der ersten 15 000 RM durch den Finanzausschuss für die Vorarbeiten und Wegebauten konnte mit der Umsetzung begonnen werden. Die ursprünglich geplante Finanzierung musste später mehrmals korrigiert werden.

Verbunden mit der neuen Idee eines Waldfriedhofes war eine strenge Reglementierung der Grabgestaltung. So sollten nur waldgerechte Pflanzen Verwendung finden und die Ausschmückungen der Gräber ebenso naturnah sein. Das hieß, auffällig gestaltete Grabsteine sollten in einer solchen Anlage keinen Platz finden. Eigens aus diesem Grunde wurde ein Wettbewerb ausgelobt. Bildende Künstler sollten Grabmale entwerfen, die nach der Eröffnung der Grabanlagen nach Preiskategorien von den Hinterbliebenen ausgewählt werden könnten. Sehr teure Grabsteine sollten nicht angeboten werden, „weil sie infolge des hohen Preises schon von selbst Gegenstand künstlerischer Betätigung zu sein pflegen”, geht aus den Vorschlägen zu Wettbewerb hervor. Das Preisgericht setzte sich aus Oberbürgermeister Rudolf Stapenhorst, Stadtrat und Vorsitzender des Friedhofsausschusses Georg Kisker, Gartenbaudirektor Paul Meyerkamp, Stadtverordneter und Fabrikant Otto Nordmeyer, Bildhauer Hans Perathoner und Stadtbaurat Schultz zusammen. Als Vorsitzender sollte Professor Emil Högg aus Dresden bestimmt werden. Högg zu dieser Zeit schon anerkannter Friedhofsexperte. Termin für die Einreichung der Entwürfe war der 1. Februar 1912 im Rathaus.

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Stadtoberbaurat Friedrich Schultz, geboren am 30. Juni 1876 in Stettin, gestorben am 6. Januar 1945 in Bielefeld, ohne Datum. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-019-099

Baustadtrat Schultz teilte am 2. Februar 1912 mit, dass um die 230 Wettbewerbsentwürfe im Sitzungssaal der Stadtverordneten aufgestellt seien. Da die Räume nur bis zum 21. des Monats zur Verfügung ständen, müsse das Preisgericht vorher tagen. Weil aber Professor Högg erst am 25. nach Bielefeld kommen konnte, musste der Termin doch verschoben werden. Die eigentlich anberaumte Stadtratssitzung fiel deswegen aus. „Bei dem Wettbewerb für Grabkunst sind 34 gute Entwürfe zu billigen Grabsteinen etc. in den Besitz der Stadt übergegangen. Ausserdem war noch eine größere Zahl brauchbarer Arbeiten vorhanden, welche ebenfalls für unser Publikum Interesse haben würde. Um dieses gesammelte Material für die Öffentlichkeit brauchbar zu machen, halten wir es für notwendig, es in einer Broschüre in Taschenformat herauszugeben. Das Druckheft soll aus[s]erdem eine kurze Beschreibung des Friedhofs mit Lageplan und Illustration über die geplante Bestattungsart erhalten”, berichtete am 8. Juni Baustadtrat Schultz der Stadtverordnetenversammlung, verbunden mit der Bitte um Kostenübernahme. Der Magistrat bewilligte die Summe von 2400 Mark für 3000 Exemplare Ein Jahr später stellte die Stadt Bielefeld die prämierten Entwürfe und Friedhofspläne in Düsseldorf auf der Städteausstellung unter großer Anerkennung aus.

Am 20. Juni 1911 berichtete Der Bielefelder Generalanzeiger mit wenigen Sätzen über den Stand der Bauarbeiten: ”Die Arbeiten auf dem Sennefriedhof schreiten rüstig fort. Es sind augenblicklich 40 – 50 Arbeiter mit der Herstellung der Hauptwege beschäftigt. Fertiggestellt ist an der Ostseite ein etwa 900 Meter langer Weg, der die Chaussee mit dem früheren `Kohlenweg´ verbindet. Dieser neue Weg hat eine Breite von 6 Metern. […]. Durch die Herstellung dieses Weges sind die früheren Verbindungswege über das Gelände des Sennefriedhofes aufgehoben. Augenblicklich ist man mit der Anschüttung der Hauptallee, welche eine Breite von 16 Metern erhält, beschäftigt. […] Der Platz für die Aussegnungs- und Leichenhalle […] ist abgesteckt und in der Höhe der Kapelle durch eine Stange mit einer kleinen Fahne markiert. Der Sennefriedhof macht mit seinem frisch-grünen Heidekraut und seinen mit grünen Sprossen getriebenen Fichten einen freundlichen Ausdruck.” Die Rohbauabnahme für die Leichenhalle erfolgte allerdings erst im Januar 1912, da immer wieder Verzögerungen beim Bau auftraten. Entweder fehlte es an Material oder Arbeitern oder es wurde einfach nicht vorschriftsmäßig gearbeitet.

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010820126b  Nach der Traueranzeige sollte die Beerdigung von Henriette Ziemann eigentlich am 14. August auf dem Johannisfriedhof stattfinden. Einen Tag später erschien die Berichtigung in der Zeitung, 1912. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400, 1/Westermannsammlung, Nr. 8

Kurzfristige Änderungen von Einbauarbeiten – wie z. B. der eines Fahrstuhls zur Beförderung der Leichen vom Keller in den Einsegnungsplatz und noch nicht eingebaute Fenster – führten schließlich dazu, dass die Kapelle mit Leichenhalle am Eröffnungstermin nur zur Hälfte fertig gestellt war.

Gar nicht erst in Gang kam die künstlerische Ausschmückung des Giebelfeldes an der Eingangshalle. Im Mai 1912 hatte der Stadtrat Georg Kisker zusammen mit seiner Ehefrau anlässlich ihrer Silberhochzeit 10 000 RM dafür gestiftet. Mit der Umsetzung hatte man den Bildhauer Hans Perathoner beauftragt. Aber die Lieferung der Steinblöcke für seine Arbeiten verzögerte sich bis zum Oktober und erst mit Abänderung der Maße der anzufertigenden Skulptur konnte Perathoner beginnen.

Mitte Juli 1912 erreichte den Magistrat ein Schreiben von Pfarrer und Kreis-Schulinspektor Friedrich Wilhelm Vorster, in dem er darauf aufmerksam machte, dass bei der Eröffnung eine kirchliche Weihe nicht fehlen dürfe und schlug vor, dass einer der Pfarrer zur Schriftenlesung heran gezogen werden solle. Zu Beginn oder zum Schluss könne ein Choralvers gesungen werden. Zum 40-jährigen Bestehen des Bestehens wusste das Westfalen-Blatt Folgendes zu berichten: „Als es dann im Sommer des Jahres 1912 so weit war, daß für die erste Beerdigung alles bereit stand, ergaben sich noch einmal Schwierigkeiten; denn – niemand wollte seine Angehörigen da draußen beerdigen lassen. Bis Oberbürgermeister Stapenhorst ein Machtwort sprach: `Der nächste, der jetzt stirbt, wird auf dem Sennefriedhof beerdigt´” Als nächste verstarb die Witwe Henriette Ziemann und ihre Bestattung wurde auf den 15. August festgelegt. Ihr Grab wurde am 5. August 1949 zum Ehrengrab bestimmt. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurden die Tore des Sennefriedhofes nachmittags um 16.00 Uhr geöffnet.

Die Verkaufshalle für Särge und Grabsteine hatte der Bildhauer Karl Eggert gepachtet. Als erster Pächter für die Gastwirtschaft mit Außengastronomie, die schnell den Namen „Tränenkrug” trug, unterschrieb August Landwehr im Juni 1912 den Vertrag. Allerdings durfte er sich nicht selber um die Außenbepflanzung kümmern. Auch für diesen Bereich galten die neuen gärtnerischen Reglementierungen.

Der Haupteingang, versehen mit zwei gleichen Gebäuden, beherbergte einst den Bestattungsordner, zuständig für alle Belange der Hinterbliebenen und den Friedhofsverwalter. Da die Särge in der ersten Jahren mit eigenen Pferden von den Sterbehäusern zum Friedhof gebracht wurden, durften auch Stallungen und ein Kutscherhaus nicht fehlen. Ebenfalls wohnte der Gärtner in einem eigens dafür erbauten Haus mit Gärtnerei auf dem Gelände. War es bisher üblich, dass private Gärtnereien die Bepflanzungen auf den Friedhöfen vornahmen, verbot die im April 1912 verabschiedete Friedhofsordnung ungenehmigte Pflanzungen. Die privaten Gärtner waren darüber so erbost, dass sie sich – allerdings erfolglos – darüber öffentlich beschwerten.

Nach der Eröffnung des Friedhofs trieb man die Fertigstellung der Trauer- und Leichenhalle voran. Der geplante Einweihungstag war auf den 1. Juni 1913 datiert worden. Da aber Hans Perathoner mit seinem Relief nicht rechtzeitig fertig wurde, verschob sich der Termin auf den 17. Juni 1913. Um 18.00 Uhr konnte Oberbürgermeister Stapenhorst die Kapelle der Öffentlichkeit übergeben. Zu den geladenen Gästen gehörten neben der politischen Prominenz sämtliche protestantische und katholische Geistliche, Rabbiner Dr. Felix Coblenz von der Synagogengemeinde und aus dem Wirtschaftsleben u. a. Kommerzienrat Rudolf Oetker, Kommerzienrat Johannes Klasing und Kommerzienrat Wilhelm Kisker. Die kirchliche Weihe vollzog Superintendent Lappe. Das von Perathoner angefertigte Relief oberhalb des Eingangs, das die Figuren Tod, Trauer und Vergänglichkeit allegorisch abbildete, fand in der Öffentlichkeit keine Zustimmung und es entbrannte eine lange und heftige Diskussion darum, denn die Figuren waren allesamt nackt. Das Relief hat den Streit überlebt. Hans Perathoner hatte danach Bielefeld verlassen und sich in Berlin als Bildhauer niedergelassen.

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Gaststätte am Sennefriedhof, genannt „Tränenkrug”, 1912. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 83-003-032

Für Unmut sorgte die neue Orgel. Im November beschwerte sich der Organist Ernst Nacken, dass diese ”augenblicklich Gefahr läuft, zu verderben. Es haben schon einige Töne ausgesetzt, verschiedene Bälge werden undicht.” Schuld daran waren die Temperaturschwankungen. Baurat Schultz ordnete zur Abhilfe ein stetes Heizen von nicht allzu hoher Temperatur an.

Noch vor der Eröffnung des Sennefriedhofes stellte im April 1912 der Bielefelder Kampfgenossen-Verein einen Antrag an den Magistrat auf eine zusammenhängende Begräbnisstätte für Veteranen aus den Krieg 1864, 1866 und 1870/71. Karl Hoffmann, Leiter des Sennefriedhofs und selbst alter Kämpfer, unterstützte das Vorhaben. Dem Antrag wurde stattgegeben. Die dafür zur Verfügung gestellte Fläche sollte 90 Gräber fassen, nach Auffassung des Vereins zu wenig. Die Überlegung, einen größeren Platz zu suchen, wurde verworfen und stattdessen vom Friedhof der Vorschlag gemacht, „ein würdiges Denkmal für seine Mitglieder, in der Mitte des Platzes aufzustellen, etwa in Form eines Feldaltars, um den sich die alten Krieger versammeln, und von dem aus auch die Begräbnisfeierlichkeiten durch den Geistlichen geleitet werden können.” Der Vorschlag fand keine Akzeptanz, da befürchtet wurde, dass andere Kriegervereine den zentralen Platz auch für sich in Anspruch nehmen könnten. Im Januar 1913 wurde dem Kriegerverein zugesagt, ausschließlich ihre Mitglieder dort zu beerdigen und in nächster Nähe ein Feld freizuhalten für Mitglieder anderer Kriegervereine bzw. alte Kämpfer ohne Mitgliedschaft. Mit dieser Regelung erklärte man sich einverstanden. Zwei Jahre später enthüllte der Kampfgenossen-Verein ein vom Bildhauer Eggert entworfenes Ehrenmal. 1963 wurden die Einzelgräber des Kampfgenossen-Vereins, da es sich nicht um Sondernutzungsrechte handelte, eingeebnet. Stehen blieb nur das Ehrenmal.

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Grabstätten von Altveteranen aus den Kriegen 1864, 1866 und 1870/71 auf dem Sonderfeld des Sennefriedhofs. Das Feld wurde 1963 eingeebnet, 1934. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 83-003-185

Nach Ende des Ersten Weltkrieges bis hin zum Untergang der Weimarer Republik schossen fast allerorts Ehrenmale, Gedenksteine und -tafeln wie Pilze aus dem Boden. Zu keiner Zeit vorher waren Krieg und Denkmal sowie Ereignis und Erinnerung so eng miteinander verwoben. Vielfältig waren die Gruppierungen, die sich für die Erinnerungskultur einsetzten. Allein im Landkreis Bielefeld konnte an mehr als zwanzig Plätzen der Toten des Ersten Weltkrieges gedacht werden. In der Stadt selbst hielt man sich allerdings lange Zeit zurück. Schuld daran war keinesfalls mangelnde Beachtung der Thematik, vielmehr ließ die politische Bandbreite einen Konsens nicht zu. Zwar hatte die Stadtverordnetenversammlung, zusammengesetzt aus fast gleichstarken bürgerlichen Parteien und Sozialdemokraten, stets den Gedanken eines Ehrenmales in Hinterkopf. Auch der Ort stand schon fest: Auf dem Ehrenfeld des Sennefriedhofs sollte er sein. Es wurde damit begonnen, für 304 an der Front Gefallene ein Sonderfeld zwischen den Eingangsgebäuden und der Kapelle anzulegen, deren Grabgestaltung einen einheitlichen Charakter erhalten sollte. An Entwürfen für ein Ehrenmal mangelte es nicht, aber keiner genügte den Vorstellungen und Ansprüchen der Stadt. Selbst der prämierte Entwurf von Franz Guntermann, Lehrer an der Bielefelder Kunstgewerbeschule, fand keine Umsetzung und erfuhr 1926 sein endgültiges Aus.

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Einer der beiden eingereichten Entwürfe für ein Kriegerehrenmal in Bielefeld für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Das Modell stand bei Franz Guntermall in seinem Atelier in der Handwerkerschule, 1925. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,2/Magistratsbauamt, Nr. 96

Die Einführung der modernen Feuerbestattung im 19. Jahrhundert und der damit verbundene Bau zahlreicher Krematorien muss noch heute als eine der bedeutendsten Zäsuren in der Bestattungskultur zu sehen sein. 1878 wurde das erste Krematorium in Deutschland erbaut. Damit verbunden waren heftige Diskussionen. Galt diese Form doch als ultramodern und rief somit ganz neue Formen der Bestattungs- und Trauerkultur hervor. Erstmalig unter einem Dach waren nun Leichenverwahrung, Einäscherung, Trauerfeier und die Beisetzung der Urne. Der preußische Militärarzt Johann Peter Trusen setzte sich 1855 aus hygienischen Gründen vehement für die Leichenverbrennung aller Toten ein. Ein Jahr später gab es den ersten Verbrennungsapparat. Eine Einäscherung durch offenes Feuer wie in der Antike schied aber von Anfang an aus. Dem schon lange herrschenden Platzmangel auf den städtischen Friedhöfen sollte mit den Verbrennungen Abhilfe geschaffen werden. Zudem sollte mit der Feuerbestattung das gesamte Bestattungswesen wirtschaftlicher gestaltet werden. Die Technisierung des Todes lief parallel mit der allgemeinen Industrialisierung im 19. Jahrhundert.

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Längsschnitt durch den Leichen-Einäscherungs-Ofen der Firma Topf & Söhne aus Erfurt, 1925. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,14/Garten-, Forst- und Friedhofsamt, Nr. 381

Seit 1925 beschäftigte sich die Stadt Bielefeld mit dem Bau eines Krematoriums. Inzwischen hatten sich in der Stadt zwei Feuerbestattungsvereine gegründet, die intensiv für Feuerbestattungen warben. Der Verein für Feuerbestattung Hannover e. V., Zweigverein Bielefeld, stellte schon 1923 erstmals einen Antrag zum Bau einen Krematoriums. Allerdings lehnte der Magistrat diesen ab. Trotzdem erneuerten 1925, dieses Mal beide Vereine (der andere war der Verein der Freidenker für Feuerbestattung Berlin) die Forderung nach einer Feuerbestattung. Ein weiterer folgte 1926. Im Protokoll des Park- und Friedhofsausschusses vom 25. Februar ist zu lesen, dass dieser eine Verbrennungsstätte befürwortet. Stadtoberbaurat Schultz ist 1926 mit der Prüfung, ob eine solche Einrichtung für Bielefeld sinnvoll sei, vom Magistrat beauftragt worden. Nach seiner Stellungnahme kam das grundsätzliche Einverständnis durch die Stadt und im Juni 1927 der endgültige Beschluss dazu. Als möglicher Standort kamen sowohl der Johannisfriedhof als auch der Sennefriedhof in Frage. Die Wahl fiel aus Kostengründen auf den Friedhof außerhalb der Stadt. Noch vor der entscheidenden Stadtverordnetenversammlung drängten die Verantwortlichen für den Sennefriedhof darauf, nochmals über den Standort des Verbrennungshauses nachzudenken. Vorgesehen war ein Platz, der fast einen Kilometer entfernt von der Leichenhalle lag. Gewünscht wurde ein Ort in unmittelbarer Nähe. Dem wurde statt gegeben und im Oktober beschlossen, dass das Krematorium an der Westseite der Leichenhalle als seitliche Verlängerung gebaut wird. Als Verbrennungsofen wurde der der Firma Topf & Söhne, ansässig in Erfurt, gewählt und mit Koks befeuert. Diese Firma entwickelte in der NS-Zeit spezielle Verbrennungsöfen für die Konzentrationslager und machte sich damit einen unrühmlichen Namen.

Am 4. April 1929 nahm das Krematorium mit seiner ersten Einäscherung seinen Betrieb auf. Es war das 90. in Deutschland und schmückte die Titelseite des Organs des Volks-Feuerbestattungs-Vereins V.V.a.G vom Mai desselben Jahres. Mit der Eröffnung einher ging auch eine Veränderung der Personalstruktur, da für diese Tätigkeiten spezialisiertes Personal eingestellt werden musste. Die Feuerbestattungen wurden von der Bevölkerung gut angenommen, auch über die Grenzen von Bielefeld hinweg. Im ersten Jahr wurden 35 Särge verbrannt. Schon 1933 hatte sich die Anzahl mehr als verdoppelt.

 

Quellen

  • 101,13/Geschäftsstelle XIII, Nr. 325
  • 105,5/Liegenschaftsamt, Nr. 194
  • 108,2/Magistratsbauamt, Nr. 96
  • 108,14/Garten-, Forst- und Friedhofsamt, Nr. 342, , 382, 383, 287, 432, 436
  • 400,1/Westermannsammlung, Nr. 8
  • 400,3/Fotosammlung

Literatur

  • Sörries, Reiner, Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur, Bd. 1; Hg. Zentralinstitut für Sepulkralkultur, 2002, Kassel
  • Sörries, Reiner, Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur, Bd. 2; Hg. Zentralinstitut für Sepulkralkultur, 2002, Kassel
  • Sörries, Rainer, Raum für Tote, Hg. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e. V., Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur, 2003
  • 60 Jahre Sennefriedhof, Heft 5, Hg. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. Kassel, 1972
  • Gälzer, Ralph, Sechzig Jahre Sennefriedhof der Stadt Bielefeld, Sonderdruck aus: Das Gartenamt, Heft 9, 1972
  • Engelhardt, W. v., Der Sennefriedhof in Bielefeld, aus: Architektonische Rundschau, 1913

 

Erstveröffentlichung: 01.08.2012

Hinweis zur Zitation:
Giesecke, Dagmar, 15. August 1912: Der Sennefriedhof wird offiziell seiner Bestimmung übergeben, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2012/08/01/01082012/, Bielefeld 2012

 

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