• Dagmar Giesecke, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
„Mit Aufbietung aller Kräfte ist es der Eisenbahnverwaltung gelungen, den festgesetzten Termin für die Überleitung des Verkehrs nach dem neuen Bahnhofsgebäude einzuhalten. […] Wenn man sich von der Düppelstraße her dem neuen Gebäude nähert, leuchten einem von weitem die deutlichen Ziffern der großen Stationsuhr entgegen, die vor einigen Tagen in Gang gesetzt worden ist. Sie weist zwei im Winkel zueinanderstehende Zifferblätter auf, so dass man auch von der Bahnhofstraße und der Kleinen Bahnhofstraße deutlich die Zeit erkennen kann. Vielleicht hätte sie etwas höher angebracht werden können, damit sie auch noch in unmittelbarer Nähe des Gebäudes sichtbar blieb, wo sie jetzt durch das über dem Portal befindliche Vordach verdeckt wird”, berichtet die Westfälische Zeitung am Samstag, den 30. April 1910.

Als am 15. Oktober 1847 die Köln-Mindener Eisenbahn ihren Betrieb aufnahm, standen an fast allen Bahnhöfen nur provisorische Bahnhofshallen. Auch Lokomotiv- schuppen, Koksmagazine, Schmieden und Wassertürme waren anfangs Behelfsbauten. So auch in Bielefeld. Hier sollte das vorläufige Gebäude erst zwei Jahre später durch ein endgültiges ersetzt werden. Die Lage des neu gebauten Bahnhofs war anfangs umstritten, da er „weit” außerhalb der Stadt auf „Crüwells Kamp” errichtet worden war. Das änderte sich durch die Ansiedlung der Bielefelder Industrie rund um das Bahnhofsgelände. Der Industrie folgten bald die ersten Wohnungen an der Bahnlinie.

Schon 1866 platzten die Räumlichkeiten für die Güterlagerung aus allen Nähten. Erste Stimmen wurden laut, den Bahnhof für den Güter- und Personenverkehr zu erweitern. Aber nichts passierte. Mitte der 1880er Jahre hielten täglich 64 Züge in Bielefeld und zirka 180 000 Tonnen Güterwaren wurden jährlich umgeschlagen. Der Bielefelder Bahnhof war hoffnungslos überfordert. Helfen und Entlastung bringen konnte nur eine umfangreiche Erweiterung des gesamten Bahnhofsgeländes. Dazu war die Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft aber nicht bereit. Mit ihren geringfügigen Umbaumaßnahmen fanden keine wesentlichen betrieblichen Entlastungen statt.
Ab 1879 konnten Privatbahnen durch Beschluss eines neuen Gesetzes verstaatlicht werden. Nachdem dieses auch in Bielefeld griff, fanden erste Veränderungen an der Empfangshalle 1885 statt. Das klassizistische Gebäude erhielt beidseitig symmetrisch angeordnete Anbauten, die größer als der eigentliche Bau waren. Darüber hinaus erfolgte die Verlegung des Güterschuppens. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert wurden Industrie- und Wohnungsbebauung weiter intensiviert. Im Bereich der Jöllenbecker Straße, Wertherstraße und der Bahnlinie entstand eine neues Viertel, das aber jenseits der Bahngleise lag. Wegen des starken Zugverkehrs kam es immer wieder zu Behinderungen beim Überqueren der Bahngleise. Der über Bielefeld führende Ost-West-Schienenverkehr hatte sich inzwischen zu einer der wichtigsten Bahnlinien im Reich entwickelt. Der Personen- und Güterverkehr hatte somit Mitte der 1890er Jahre seine Grenzen erreicht. Zu klein waren wieder die Räumlichkeiten zur Lagerung der Güter, zu kurz die Ablagegleise. Die Bahnübergänge waren oftmals mehr als eine Stunde blockiert.

1899 machte die Königlich-Preußische Eisenbahndirektion eine größere Summe für die Anlage eines neuen Güterbahnhofes zwischen Stadtholz und Eckendorfer Straße frei, da der ursprüngliche Bahnhof keinerlei Erweiterungskapazitäten mehr hatte. Zeitgleich war ein neuer Bahnhof auf dem Langen Kampe geplant, der Bielefeld mit Lage/Lippe verbinden sollte. 1903 konnte der Güterverkehr dort aufgenommen werden. Ein Jahr später fuhren etliche Züge über den neuen Ostbahnhof.
Die Eisenbahn hatte sich inzwischen zum wichtigsten Transportmittel für Personen und Güter entfaltet, so dass sich über viele Jahre weitere Umbaumaßnahmen anschlossen. Damit der Verkehr nicht allzu großen Störungen unterliegen musste, hatte man sich dazu entschieden, in Abschnitten zu bauen. Im Verwaltungsbericht der Stadt Bielefeld ist 1906 zu lesen: „Mit den baulichen Arbeiten, die infolge der Erweiterung des Hauptbahnhofes und des Neubaus des Empfangsgebäudes erforderlich werden, ist begonnen worden. […] Von neuen Gebäuden sind in Angriff genommen und werden im nächsten Jahr fertig: ein neuer Lokomotivschuppen, ein neuer Wasserturm, ein neues Ueberwachungsgebäude für Zugbegleitungspersonal, ein neuer Versandgüterschuppen und ein neues Abfertigungsgebäude. Mit dem Neubau des Hauptbahnhofsgebäude ist noch nicht begonnen.” Erst ein Jahr später – nach Fertigstellung u. a. von Reparaturwerkstatt, Dienstwohngebäude und Räumlichkeiten für die Bahnmeistereien – wurde der erste Spatenstich für den Bau der Empfangshalle getätigt. Vier Millionen Reichsmark waren für den Neubau bewilligt worden.

Als Erstes ist 1908 der östliche Flügel fertig gestellt und zur Aufnahme der Dienst- und Warteräume vorläufig eingerichtet worden. Auch das alte Gebäude war inzwischen dem Erdboden gleich gemacht. Übernommen hatte den Abbruch der Maurermeister und Inhaber einer Baumaterialienhandlung Fritz Niestrath aus der Kaiserstraße 145 (heute August-Bebel-Straße). Wegen der starken Staubentwicklung musste auf Anordnung der Baupolizei das Mauerwerk während des Abbruchs gewässert werden. „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit! Auch das alte Bahnhofsgebäude ist dem Sturze verfallen. Den Anforderungen der Jetztzeit und vor allem dem ständig zunehmenden Verkehr auf dem hiesigen Hauptbahnhofe war das alte Empfangsgebäude nicht mehr gewachsen: Das erst in den 80er Jahren errichtete Gebäude mußte durch ein geräumigeres ersetzt werde.”, schrieb am 9. März 1909 der Bielefelder General-Anzeiger in seinem Lokalteil. Um den Bau des neuen Gebäudes kümmerte sich ebenfalls eine Bielefelder Firma. Verantwortlich zeichnete der Maurermeister und Ziegeleibesitzer W. Klarhorst aus der Obernstraße 48. Die für den Bau verwendeten Tuff- und Basaltsteine lieferte die Firma J. Pickel & Co. aus dem rheinischen Kottenheim. Am 5. März 1910 verkündet die Westfälische Zeitung: „Der Bahnhofsbau geht seiner Vollendung entgegen, zu 1. Mai hofft man den ganzen Neubau des Bahnhofsgeländes mit der Empfangshalle dem Verkehr übergeben zu können.”

Das neue Empfangsgebäude – erbaut im Jugendstil – hatte eine Frontlänge von knapp 124 Meter. Im Ostflügel befanden sich von nun an Stationsdienst- und Wohnräume, im Erdgeschoss Räumlichkeiten für die Stationsvorsteher und die Telegraphie. Darüber hinaus konnten noch die Bahnpolizei und die Stationskasse dort untergebracht werden. Im Mittelbau gelangte man durch den Haupteingang in die Bahnhofshalle. Am Ende der Halle konnten jetzt Fahrkarten gekauft werden. Rechts und links der Ticketausgabe führten Treppen über einen Tunnel zu den einzelnen Bahngleisen. Ebenfalls im Hallenbereich befand sich die Gepäckannahmestelle, die durch einen besonderen Gepäcktunnel mit den Bahnsteigen verbunden war. Toiletten waren ebenfalls vorhanden. Den Westflügel nahmen die Wartesäle ein, in Richtung Bahnhofsplatz die der Klasse eins und zwei. Der Wartebereich für die dritte und vierte Klasse befand sich im hinteren Teil Richtung Bahngleise. An einen separaten Raum für Nichtraucher war ebenfalls gedacht worden.

Ende April waren alle Bauarbeiten beendet und wie geplant konnte am 1. Mai 1910 das repräsentative Empfangsgebäude der Öffentlichkeit übergeben werden. Lobend über die gelungene Gestaltung der neuen Bahnhofshalle äußerte sich am 30. April der Bielefelder General-Anzeiger: „Durch das an vier Oeffnungen aufweisende Portal tritt man in die große Empfangshalle. Dieselbe ist ein Meisterstück moderner Dekorationsmalerei. […] Die großen Hallenfenster sind in bunter Verglasung ausgeführt. […] Der Wartesaal 1. und 2. Klasse ist reich ausgestattet und macht mit der in einem grünen, stoffartigen Tapetentone gehaltenen Wandmalerei und den dunkelbraunen Eichenpanelen einen vornehmen, dabei doch anheimelnden Eindruck. Die drei Fenster weisen in ihrem oberen Teile ebenfalls bunte Kunstverglasung auf. In dem linken Fenster ist ein Bielefelder Leineweber dargestellt. […] Das rechte Fenster zeigt einen modernen Reisenden, der mit seinen Handkoffern in höchster Eile zum Bahnhof hastet, und im Mittelfenster ist das Bielefelder Stadtwappen in farbiger Ausführung angebracht.” Der Bahnhofsvorplatz musste allerdings noch eine Weile auf seine Umgestaltung warten.
Quelle
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,12/Geschäftsstelle XII, Nr. 516: Bauliche Veränderungen am Hauptbahnhof, Am Bahnhof 1
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Bd. 14: Verkehrswesen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-0341-013, 11-0341-022 und 23-004-014
Literatur
- Verwaltungsberichte der Stadt Bielefeld 1906 – 1910
- Jahresberichte der Handelskammer Bielefeld 1882 – 1890
- Böllhoff, Florian, Boström Jörg, Hey, Bernd (Hg.), Industriearchitektur in Bielefeld. Geschichte und Fotografie,1986
- Sunderbrink, Bärbel, Wagner, Bernd J., Das war das 20. Jahrhundert in Bielefeld, Wartberg-Verlag, 2001
- Beaugrand, Andreas (Hg.), Stadtbuch Bielefeld. Tradition und Fortschritt in der ostwestfälischen Metropole, 1996
Erstveröffentlichung: 01.05.2010
Hinweis zur Zitation:
Giesecke, Dagmar, 1. Mai 1910: Eröffnung des neu gebauten Empfangsgebäudes auf dem Hauptbahnhof, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2010/05/01/01052010/, Bielefeld 2010