1. September 1939: Bielefelds Bevölkerung erlebt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

Am 1. September 1939 las die Bevölkerung Bielefelds in den „Westfälischen Neuesten Nachrichten” (WNN) über den angeblich wiederholt bekundeten Friedenswillen des Deutschen Reiches: „Hoffen wir im Interesse einer friedlichen Entwicklung in Europa, daß der September des Jahres 1939 auch auf der Gegenseite dieses friedliche Wollen schafft, dann wird vielleicht der heurige September in die Geschichte eingehen als der September des Weltfriedens. Die deutsche Staatsführung und das deutsche Volk haben keinen friedlicheren Wunsch.” Während die Zeitungen in den Bielefelder Briefkästen eingeworfen wurden, war die Wehrmacht in den frühen Morgenstunden in Polen einmarschiert, waren die ersten Soldaten beider Seiten gefallen, hatte Deutschland einen Vernichtungskrieg eröffnet.

010920091
Aufmacher der Westfälischen Zeitung über den Kriegsbeginn; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Westfälische Zeitung v. 2. September 1939

Seit dem Versailler Vertrag von 1918 hatten vor allem nationalistische Kreise in Deutschland auf eine Rückgewinnung u.a. an Polen verlorener Gebiete und außenpolitischer Handlungsfähigkeit gedrängt, selten aber mit Kriegsdrohungen. Hitler dagegen formulierte unmittelbar nach seiner Machtübernahme bereits im Februar 1933 vor Reichswehroffizieren eine „Eroberung neuen Lebensraums im Osten” und dessen „rücksichtslose Germanisierung”. Um die außenpolitische Isolation nach dem Völkerbundaustritt aufzubrechen, entwickelte Hitler zunächst eine taktische Verständigungsbereitschaft mit Polen. Der deutsch-polnische Nichtangriffspakt von 1934 enthielt aber keinen Verzicht auf Gebietsansprüche. 1939 erhob Hitler massive politische Forderungen gegen Polen und vereinbarte wiederum mit der Sowjetunion heimlich eine Aufteilung Polens. Seit Sommer 1939 druckten auch die Bielefelder Zeitungen vermehrt ausgedehnte antipolnische Artikel, die über angebliche Ausschreitungen und Terrorakte der Polen gegen Volksdeutsche berichteten. Die Bielefelder erhielten nur einseitige Informationen. Gleichwohl glaubten große Teile der Bevölkerung an einen weiteren gewaltarmen, aber mit riskantem Vorgehen erzielten Erfolg Hitlers ohne Krieg.

010920092
Das in Bielefeld stationierte 3. Bataillon des Infanterieregiments 18 wurde am 25. August 1939 zur Sicherung des Westwalls in die Saarpfalz verlegt; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt, Nr. 1: Kriegschronik 1939-1940, Teil 1

Teile der Bielefelder Garnison wurden jedoch am 25. August 1939 mobil gemacht: Das Infanterieregiment 18 rückte von den Standorten Bielefeld und Detmold in die Saarpfalz am „Westwall” aus, da das NS-Regime und die Wehrmachtsführung mit einer militärischen Reaktion Frankreichs rechneten, das im Frühjahr 1939 für Polen eine Garantieerklärung abgegeben hatte. Am Gesellschaftshaus „Eintracht” am Klosterplatz wiederum sammelte sich das Landesschützenbataillon XXIV, dem der Offizier Wilhelm Kurzhahn (1895-1960) angehörte. Seine in Polen später hinter der Front eingesetzte Kompanie bestand „fast ausschließlich aus zähen Ravensbergern, alten Marschierern, die schon Pulver gerochen hatten.”, wie er in einem 1943 zusammengestellten Fotoalbum schrieb. Kurzhahns einleitenden Bemerkungen atmen die allgegenwärtige NS-Propaganda: „´Seit heute morgen 545 wird wiedergeschossen.´ Mit diesen Worten gab am 1. September 1939 der Führer dem deutschen Volke und der Welt Kunde davon, daß die deutschen Waffen zu sprechen begonnen hatten. Seit Monaten schon Plänkeleien an der polnischen Grenze, seit Jahren die Einkesselungsmanöver der alten Gegner von 1914-1918. Jetzt mußte Schluß damit gemacht werden. So kam der 1. September 1939. Der ´Blitzkrieg´ gegen Polen war der Auftakt, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Wer wußte, wie lange er dauern würde”.

010920093
Am Klosterplatz sammelten sich Kompanien eines Landesschützenbataillons; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,4/Fotoalben, Nr. 77: Fotoalbum des Hauptmanns Wilhelm Kurzhahn über das Landesschützen-Bataillon XXIV/VI, 1939-1943

Am 1. September 1939 startete „Fall Weiß” – der Überfall auf Polen. Um 4.45 Uhr eröffnete das Linienschiff „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf polnische Befestigungen auf der Westerplatte vor Danzig. Begleitet wurde die Invasion von fingierten Überfällen auf deutsche Einrichtungen (u.a. Sender Gleiwitz), die die SS vorbereitet hatte und die den propagandistischen Vorwand für einen deutschen „Gegenschlag” liefern sollten. Zwei deutsche Heeresgruppen mit über 1,5 Million Soldaten rückten in einer Zangenbewegung gegen die strategisch ungünstig postierte polnische Armee vor. Am 17. September 1939 marschierten die Sowjets in Ostpolen ein. Warschau kapitulierte am 27. September 1939 bedingungslos vor der Wehrmacht. Polen existierte nicht mehr, Verbrechen der Wehrmacht und der polizeilichen Einsatzgruppen gaben eine Vorahnung der nun einsetzenden brutalen Besatzungsherrschaft: Abseits der Kampfhandlungen waren 3.000 polnische Soldaten ums Leben gekommen, etwa 12.000 Zivilisten hingerichtet und eine unbekannte Zahl polnischer Juden ermordet worden. Das Deutsche Reich hatte sich nicht als der erwartete zivilisierte Gegner erwiesen, sondern als Feind mit dem Willen zur Vernichtung. Im September 1939 dominierten die Titelseiten und im Mantelteil der Bielefelder Zeitungen irreführende Kriegsschuldzuweisungen („Polen griff an!”), Reden Hitlers und ausgedehnte Artikel über den deutschen Vormarsch und den Zusammenbruch der polnischen Armee. Berichte über Exzesse gegen Volksdeutsche schürten die Stimmung, die in drastischen Darstellungen des „Bromberger Blutsonntags” kulminierten, als die nicht zuletzt der Auflösung einer geordneten polnischen Verwaltung und einer Überraktion auf die deutsche Aggression geschuldeten Ermordung von etwa 1000 Volksdeutschen propagandisiert wurde.

010920094
Karten beider Zeitungen zeigten die zu tilgenden Grenzen im Osten; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Westfälische Neueste Nachrichten v. 2. September 1939

Großformatige Karten zeigten die zu tilgenden Grenzen Polens, kleinere Kartenausschnitte und Fotostrecken illustrierten die aktuelle militärische Lage, die sich am Frühstückstisch rekonstruieren ließ. In Zeitungsannoncen bewarb die Buchhandlung Küster in der Niedernstraße neueste Kartenwerke „Der deutsche Osten und Polen” („Jetzt wieder vorrätig”) oder das Lexikon „Schlag nach über Polen”, so dass in der Heimat das Vordringen der Wehrmacht akribisch nachverfolgt und das Wissen über das vor der Zerschlagung stehende Nachbarland erweitert werden konnte. Schon am 9. September 1939 warben die Bielefelder Kinos Capitol und Gloria für Wochenschauen mit angekündigter Überlänge mit „ersten Aufnahmen von den Kämpfen in Polen”, so u.a. der Beschießung der Westerplatte und Einahme der Danziger Post oder der Kämpfe um Girschau: „Die Heimat wird auf diese Weise in den Filmtheatern einen unmittelbaren Eindruck erhalten von dem heroischen Einsatz unserer Soldaten und darin bestärkt, alle wirtschaftlichen, physischen u. geistigen Kräfte einzusetzen, damit diesem Kampf gegen die Einkreisungspolitik Englands ein siegreiches Ende beschieden wird.” In den Folgewochen liefen die inzwischen in doppelter Stückzahl produzierten und wesentlich ausgedehnten Wochenschauen im Vorprogramm zu Heinz-Rühmann-Komödien oder Liebesfilmen.

010920095
In den Kinos liefen Wochenschauen mit Frontaufnahmen im Vorprogramm; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Westfälische Zeitung v. 9. September 1939

Zuvor hatte die Bevölkerung die Front-Nachrichten über den Volksempfänger gehört, die „Goebbelsharfe”. Angeblich waren 75 % der Haushalte in Bielefeld mit einem Radio ausgestattet, hatten über 26.000 Bielefelder die Hitler-Rede am 1. September 1939 („Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen”) gehört. Angesichts der Rasanz der deutschen Attacke war dieses Medium wesentlich schneller und damit auch attraktiver als die Zeitungen, die freilich Lokalkolorit vermittelten u.a. mit dem „Husarenstück eines Bielefelders” – den ehemaligen Ratsgymnasiasten Justus Trüber –, der Fliegerkameraden gerettet hatte, oder mit anderen Fronterlebnissen und Feldpostbriefen von Bielefeldern. Gleichzeitig verhöhnten Karikaturen und Kommentare den polnischen Gegner und die Diplomatie vor allem Englands. Belustigt fragte eine Glosse über die polnische Sprache („Polnisch auf gut deutsch” auch am Beispiel Rzeszóws, das seit 1991 Partnerstadt Bielefelds ist: „das erste Sch weich und das zweite Sch zischend zu sprechen”) abschließend: „Und wie spricht man Inowrazlaw aus, wie Poznan, wie Gniezno, Gdynia, Grudziadz? Nun, das spricht man überhaupt nicht mehr aus: Dafür sagen wir wie früher: Hohensalza, Posen, Gnesen, Edingen, Graudenz …” Den Kontakt zur Front, zu Ehemännern, Vätern und Söhnen bei der Wehrmacht hielt im Wesentlichen die Feldpost aufrecht. Frühzeitig informierten Artikel im Lokalteil über zu erwartende Verzögerungen im Postverkehr, da dieser mit dem rasanten Vormarsch der Truppen kaum mithalten konnte. Gleichzeitig erhielten die Absender die Mahnung, nicht zu nachlässig im Umgang mit sensiblen Informationen zu sein.

010920096
Bezugsscheine regelten bereits seit Ende 1939 große Teile des Konsums, um Hamsterkäufe zu verhindern; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/ Zeitungen, Westfälische Zeitung v. 5. September 1939

Der Alltag in Bielefeld erfuhr früh erste Einschränkungen: Seit dem 27. August 1939 waren zahlreiche Produkte und insbesondere Lebensmittel nur noch über Bezugsscheine erhältlich. Um Hamsterkäufe zu unterbinden und damit die Versorgung für die gesamte Bevölkerung zu sichern, wurde die Bezugsscheinwirtschaft ausgeweitet. „Hamsterer” wurden öffentlich bekannt gemacht. Hinweise auf den Luftschutz gegen erwartete Fliegerangriffe nahmen erheblich zu, Malermeister bewarben Verdunkelungsfarbe, Glaser dagegen bruchsicheres Glas. In Bielefeld erlebte die Bevölkerung den eigentlichen Krieg zunächst als eine Abfolge von Alarmen und Entwarnungen. Am 4. September 1939 gab es einen ersten (Übungs)Alarm.  In der deutschen Bevölkerung war von einer Kriegseuphorie zunächst freilich wenig zu spüren, wenn auch der Sicherheitsdienst (SD) berichtete, dass die Bielefelder Bevölkerung „ruhig und gefaßt” reagiere. Die Ende August 1939 noch festgestellte Nervosität und „leichte Panikstimmung wirtschaftlicher Art”, die sich in Hamsterkäufen, erheblichen Geldabhebungen bei den Bielefelder Sparkassen und in Gerüchten niederschlug, wich angesichts der Erfolgsmeldungen von der Front zügig, wenn es auch an der „patriotischen Begeisterung” von 1914 mangelte. Gleichwohl erkannte der SD Zustimmung und Vertrauen der Bielefelder Bevölkerung für das Regimes und sein Vorgehen.

010920097
Der gebürtige Bielefelder Fritz Dingerdissen fiel als Panzerkommandant am 1. September 1939 im polnischen Mokra III, Foto etwa 1937; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung

Allgemeine Appelle, Berichte über Parteiveranstaltungen und heroische Gedichte schworen die Heimatfront zusätzlich auf Geschlossenheit ein – und das war angesichts der seit Mitte September erscheinenden Todesanzeigen für Gefallene aus Bielefeld notwendig. Bereits am 1. September 1939 fielen in Polen die beiden ersten Bielefelder: Der Panzerkommandant Fritz Dingerdissen in Mokra III, Friedrich Willhelm Gärner traf bei Königlich Dombrowken ein Artilleriegeschoss tödlich. Im Juni 1940 schrieb der Bielefelder Kriegschronist Dr. Eduard Schoneweg: „In den Bielefelder Zeitungen liest man in immer steigender Zahl die schwarzgeränderten Todesanzeigen gefallener Offiziere und Mannschaften. Ob Arm oder Reich, jeder bekommt eine Todesanzeige gleicher Grösse.”

010920098
Die WNN veröffentlichten Todesanzeigen für die ersten gefallenen Bielefelder; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen; Westfälische Neueste Nachrichten v. 13. September 1939

Noch während des Überfalls auf Polen berichteten die WNN über den bevorstehenden Einsatz polnischer Kriegsgefangener im Reich. Im September 1939 kamen die ersten von etwa 300.000 polnischen Kriegsgefangenen nach Deutschland, 90 % wurden in der Landwirtschaft eingesetzt. Am 23. Oktober 1939 titelten die WNN „Soldaten ohne Gewehr” über das Eintreffen polnischer Kriegsgefangener: „Sie gehören nicht in unsere Gemeinschaft und bleiben von uns geschieden. Wir pflegen mit ihnen keinen persönlichen Verkehr und halten uns von Mißachtung wie von Verbrüderung gleichermaßen fern.” Die Stadt hatte Anfang Oktober 1939 bei der Gaststätte Ertel ein erstes Kriegsgefangenenlager für 30 Polen errichtet, die auf Höfen in Vilsendorf und Bielefeld eingesetzt wurden. Der SD Bielefeld beanstandete später einen zu rücksichtsvollen Umgang mit polnischen Kriegsgefangenen, der auf „konfessionelles Verbundenheitsgefühl, unangebrachtes Mitleid, mitunter aber auch ganz klar ehrlose Gesinnung” zurückgeführt wurde. Das NS-Regime wollte die Polen nicht unter den Deutschen sehen, sondern unter ihnen.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt, Nr. 1: Kriegschronik 1939-1940, Teil 1
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Westfälische Neueste Nachrichten und Westfälische Zeitung, August – Oktober 1939
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,4/Fotoalben, Nr. 77: Fotoalbum des Hauptmanns Wilhelm Kurzhahn über das Landesschützen-Bataillon XXIV/VI, 1939-1943

Literatur

 

Erstveröffentlichung: 01.09.2009

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, 1. September 1939: Bielefelds Bevölkerung erlebt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2009/09/01/01092009/, Bielefeld 2009

 

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..