• Dagmar Giesecke, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
„Die feierliche Einweihung der neuen Herberge fand am Mittwoch in dem festlich geschmückten Hause statt. Der Vorstand der Ortgruppe des Deutsch-Ev. Frauenbundes, Vertreter der städtischen Behörden, die Geistlichen der verschiedenen ev. Gemeinden sowie diejenigen Damen, die durch ihre Arbeit mit der Herberge Fühlung haben, nahmen Teil an der Feier”. Mit diesen Worten beginnt am 6. Juni 1913 im Bielefelder Generalanzeiger die Berichterstattung zur Eröffnung des neuen Hauses.

1903 gründete sich in Bielefeld die Ortsgruppe des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes und schon ein Jahr später konnte sie die Türen einer Zufluchtsstätte für Frauen am Siekerwall 2 öffnen. Zur Verfügung gestellt hatte das Wohnhaus die Stadt. Dort sollten in Not geratene Frauen mit und ohne Kinder, schwangere ledige Frauen und Obdachlose vorübergehend Unterkunft finden, bis eine weiterführende Lösung in Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden gefunden werden konnte. Die Einrichtung kann als erstes Frauenhaus in Bielefeld bezeichnet werden, wenn auch die Hilfsmaßnahmen andere waren als die von heute. Die Richtsätze für die Frauenherberge besagten u. a., dass die Finanzierung dieser Einrichtung vom Deutsch-Evangelischen Frauenbund getragen würde, falls nicht das „Arbeitseinkommen der Pfleglinge zur Unterhaltung ausreicht, oder Dritte für die Verpflegung aufzukommen haben”. Neben den schon genannten gefährdeten Frauen sollten aber auch „geistig Beschränkte und bösartig Veranlagte” zur Beobachtung eingewiesen werden, um von dort für sie eine geeignete Dauerunterkunft zu suchen. Die Aufsicht über das Heim hatten eine eigens dafür angestellte Leiterin und ein Vorstandsmitglied. Wie lange der Aufenthalt dauern sollte, bestimmte allein die Leiterin. Zielsetzung war aber immer, dass die Frauen wieder selbständig einer Arbeit nachgehen konnten bzw. „sittlich nicht gefestigte Mädchen” stabilisiert werden sollten.
Erste Leiterin wurde Maria Schaeffer. Nicht nur sie hat sich in kurzer Zeit einen Namen gemacht. Auch das Engagement von Klara Hermelbracht führte dazu, dass die Einrichtung über die Grenzen von Bielefeld bekannt wurde. Beide arbeiteten eng zusammen. Von der Stadt seit 1907 als Polizei-Assistentin angestellt, hatte „Fräulein Hermelbracht” in Zusammenarbeit mit der Sittenpolizei dafür Sorge zu tragen, früh genug sich der jungen Mädchen und Frauen anzunehmen, die auf die schiefe Bahn oder in die Prostitution anzugleiten drohten. Sie entwickelte später das „Bielefelder System zur Bekämpfung der Unsittlichkeit”, welches schnell Verbreitung in anderen Städten fand. Die Arbeit der Frauenherberge erforderte sowohl eine enge Zusammenarbeit mit der städtischen Fürsorge als auch sich gleichzeitig der ehrenamtlichen Arbeit zu bedienen. Diese Kombination erwies sich als gelungene Verbindung. Aus dieser seit Jahren geleisteten Tätigkeit entwickelte sich eine Dienstanweisung für Fürsorgerinnen, die in anderen Städten nicht nur Anerkennung sondern auch Nachahmung fand.

Schon 1912 war das Gebäude am Siekerwall für die Arbeit nicht mehr ausreichend. So beschloss die Stadtverordnetenversammlung auf ihrer Sitzung am 30. Mai 1912 den Bau einer neuen größeren Einrichtung. „Wir können die Herberge nicht entbehren. Da müssen wir aber auch für eine ausreichende Unterkunft sorgen”, ist im Protokoll zu lesen. Eine Kommission hatte zuvor die alten Räumlichkeiten inspiziert und musste feststellen, dass diese unzulänglich und baufällig waren. „Die Fußböden sind ganz ungeeignet und die Wohn- und Wirtschaftsräume befinden sich in einem derartigen Zustande, daß unbedingt Abhilfe geschaffen werden muß”. Die neuen Räumlichkeiten sollten 18 Betten in Einzel- und Familienzimmer bieten, für die Leiterin und deren Unterstützung passende Zimmer sowie ein Wach- und Arbeitszimmer. Ebenfalls geplant war ein gemeinsamer Esssaal. Wie notwendig die Vergrößerung war, zeigten die Belegungszahlen. 1905 waren 16 Frauen gemeldet, 1910 schon 147 Frauen und 28 Kinder im Jahr. Gewählt wurde ein Grundstück in der Spindelstraße, das den Vorteil hatte, nahe am Krankenhaus und an der Polizeistation zu liegen. Außerdem war der Bauplatz so groß, dass auch noch Platz für weiteren Ausbau möglich war. Allerding waren die Bewohner der Straße mit dem geplanten Projekt nicht einverstanden. In einer Petition machten sie darauf aufmerksam, dass sie durch die Herberge etlichen Belästigungen ausgesetzt seien. Dem setzte man die große Zucht und Ordnung, die in einer solchen Einrichtung herrsche, entgegen und verwies auf die kurze Dauer der Eingewiesenen an diesem Ort. Kritisiert wurde auf der Sitzung allerdings der späte Zeitpunkt des Antrages und es wurde empfohlen, „derartige wichtige Vorlagen nicht im Laufe des Jahres, sondern zu Anfang desselben einzubringen und sie mit der allgemeinen Etatberatung zu vereinen. Dadurch würde in der Bürgerschaft Aufregungen und Beunruhigungen vermieden”. Der Stadtverordnete Heinrich Lütkemeyer wies ebenfalls darauf hin, dass „bezüglich des Zweckes und der Wirksamkeit der Herberge eine irrige Auffassung Platz gegriffen hatte, die auch in der letzten Stadtverordnetensitzung zum Ausdruck gekommen ist. Aus mehreren Reden ging hervor, daß man der Ansicht war, es solle lediglich ein Erholungsheim für moralisch Verkommene geschaffen werden”. Weiter wies er darauf hin, dass diese Einrichtung „vorübergehend Obdachlosen Aufenthalt, ferner zeitweilig Arbeitslosen aus dem Krankenhause oder Gefängnisse entlassenen Frauenpersonen, des weiteren Frauen, die von Familienangehörigen verlassen sind oder deren Männer im Krankenhause oder Gefängnis weilen” zur Verfügung stehen würde. Mit der Durchführung des Neubaus wurde Stadtbaurat Friedrich Schulz beauftragt.

In dem Hausbuch Spindelstraße 7 des Einwohnermeldeamtes sind alle Bewohnerinnen bei Ein- und Auszug eingetragen, auch mit kurzer Verweildauer.
Anfängliche Überlegungen der Stadt, das Haus in Eigenregie zu führen, wurden nach reiflichen Überlegungen wieder verworfen, weil die Arbeit mit gefährdeten Mädchen und Frauen vornehmlich in weibliche Hände gehörte. Schließlich hatte der Deutsch-Evangelische Frauenbund auch bisher diese Arbeit zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt. „Bei 2600 jährlichen Pflegetagen, welche einen Kostenaufwand von 2400 Mark darstellen, sind durch Behörden und Armenverwaltung nur 600 Mark […] bestritten, das übrige haben die Herberge und die Pfleglinge selbst zu tragen, so daß […] der Neubau als ein Dankeschön der Stadtverwaltung dem Deutsch-Ev. Frauen-Bund gegenüber bezeichnet [werden] könne”, waren Worte des Bürgermeisters Max Ruscher am Tag der Eröffnung, verbunden damit der ausdrückliche Dank an Helene Bunnemann und Martha Stapenhorst für den Vorstand sowie an Emy Wied und Klara Hermelbracht, die mit der täglichen Arbeit und Leitung betraut waren. Anschließend wurden die Gäste durch die neuen Räumlichkeiten geführt. Die Berichterstattung des Bielefelder General-Anzeigers zur Eröffnung endete mit den Worten: „So ist Bielefeld auch mit dieser sozialen Einrichtung anderen Städten als gutes Beispiel vorausgegangen; es ist nicht zu zweifeln, daß man anderswo bald in gleicher Weise vorgehen wird, zumal die bisherigen praktischen Erfolge in Bielefeld mit aller Deutlichkeit erkennen lassen, das der beschrittene Weg der rechte ist”. 1935 endete aus Altersgründen die Tätigkeit von Emy Wied. Sie verließ Bielefeld und ging zurück in ihre süddeutsche Heimat. In all den Jahren hatte sie sich in besonders einfühlsamer Weise der Probleme der Mädchen und Frauen angenommen. Vier Jahre zuvor hatte die Ortsgruppe des Frauenbundes Pläne für einen Erweiterungsbau der Frauenherberge beim Oberbürgermeister eingereicht. Geplant war ein dreigeschossiges Gebäude, in dem im Erdgeschoss eine Säuglingsstation Platz für 30 Kinder bieten sollte, im ersten Stock sollten gefährdete Minderjährige untergebracht werden und im Obergeschoss die jungen Mütter wohnen. Alles sollte hell und sonnig gestaltet werden. Im Keller waren Wirtschaftsräume vorgesehen. Erreicht werden sollte damit eine Entlastung in der eigentlichen Herberge, indem die Säuglinge und stillenden Mütter separiert würden. Auch die Krippe des städtischen Krankenhauses könnte durch die Herausnahme der gesunden Kinder entspannter geführt werden. Alles hatte ein Kostenvolumen von 116 000 Mark, allerdings ohne Inventar. Finanziert werden sollte der Neubau durch das Vermögen des 1900 gestorbenen Kaufmanns Friedrich Wilhelm von Laer, Sohn einer alten und angesehenen Bielefelder Familie. Er vermachte der Stadt 600 000 Mark, mit der Maßgabe, dass die Zinsen daraus an seine beiden Schwestern Emilie und Frieda fließen sollten. Nach dem Tod der beiden war festgelegt, dass 50 000 Mark für die Verschönerung der Stadt und ihrer Umgebung Verwendung finden sollten. Der übrige Teil war für eine wohltätige Stiftung mit dem Namen „von Laer-Stiftung” vorgesehen.

Bis 1942 verblieb die Einrichtung in den Händen des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, der nicht der evangelischen Kirche unterstand, sondern sich ausschließlich den christlichen Werten verpflichtet fühlte. Bis zum Ende der NS-Zeit übernahm die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) die Herrschaft über das Haus. 1946 fand die Frauenhilfe Asyl in Bethel in der „Villa Sack” am Kantensiek. Allerdings war diese Stätte für die Ausmaße der Arbeit viel zu klein. Trotzdem fanden dort im Laufe der Jahre bis zur Rückkehr 1955 in die Spindelstraße mehr als 2000 Frauen und Kinder Betreuung. Leiterin war inzwischen Schwester Elisabeth Wagner, die auch für die Eröffnung im Hause verantwortlich war und mit großer Freude durch die Räumlichkeiten führte. „Mit der Versicherung, sich der Verantwortung immer bewußt zu sein, Not zu lindern und zu helfen, dankte Frau Kisker [im Namen des Ortsverbandes Bielefeld des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes] besonders dem Rat der Stadt für die Wiederinstandsetzung und Rückgabe des Heims”, schrieb am 17. Mai 1955 die Westfälische Zeitung. Jetzt fanden 25 Frauen und Mädchen in Ein- und Zweibettzimmern gleichzeitig Unterkunft. Dem Haus war neben modernen Wasch- und Toilettenräumen und einem Speisesaal auch ein Leseraum angegliedert. Pläne für die nächsten Erweiterungen standen aber auch schon fest. Ein Kleinstkinderheim für 60 Babys sollte in nächster Zukunft in unmittelbarer Nachbarschaft entstehen.

Noch heute befinden sich weiterhin in der Spindelstraße 5 und 7 Einrichtungen der „Von Laer-Stiftung”. Der Deutsche Evangelische Frauenbund, wie er sich ab 1969 nannte, gab 1987 Trägerschaft an den „Evangelischen Verein von Laer Stiftung” ab. Dieser entwickelte die „von Laer Stiftung” zu einem fortschrittlichen und vielfältigen Träger der Jugendhilfe. Seit 2003 wird die „von Laer Stiftung” in der Rechtsform einer Stiftung geführt. Die alte Villa steht unter Denkmalschutz.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,3/Magistrat Verschiedenes, Nr. 416
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 854
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotos
Literatur
- Büsemeyer, Heinrich, Von Bielefeld nach Java und zurück. Friedrich Wilhelm von Laer und die Gründung der von-Laer-Stiftung, in: Ravensberger Blätter 2007, Heft 1, S. 42–55
- Das Bielefelder System zu Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit, nach 1916
- Festschrift 100 Jahre Deutscher Evangelischer Frauenbund – Ortsverband Bielefeld, Bielefeld 2003
- Götting, Dirk, Das Aufbegehren der bürgerlichen Frauenbewegung gegen die Sittenpolizei des Kaiserreichs und der erste Versuch weiblicher Polizeiarbeit in Deutschland (1875–1914) (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V., Bd. 9), Frankfurt/M. 2010
- Sunderbrink, Bärbel/Bernd J. Wagner, Das war das 20. Jahrhundert in Bielefeld, Gudensberg-Gleichen 2001, S. 17
Erstveröffentlichung: 01.06.2013
Hinweis zur Zitation:
Giesecke, Dagmar, 4. Juni 1913: Die Frauenherberge in der Spindelstraße 7 wird eingeweiht, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2013/06/01/01062013, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Bielefeld 2013