28. Februar 1933: Verbot der sozialdemokratischen Tageszeitung „Volkswacht“

• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •

 

Wer am 28. Februar 1933 in Bielefeld die sozialdemokratische Tageszeitung „Volkswacht” kaufen wollte, wurde von den Händlern abgewiesen. Im Zeitungsformat und auf Zeitungspapier gedruckt, war an den Verkaufsstellen zu lesen: „Verboten! Das Erscheinen der Zeitung ‚Volkswacht’ ist infolge einer polizeilichen Maßnahme unmöglich”. Nur 29 Tage nach der Ernennung des Nationalsozialisten Adolf Hitler zum Reichskanzler wurde dem einzigen oppositionellen Presseorgan in Bielefeld die Lizenz entzogen. Das Tempo, mit dem die Nationalsozialisten im Zuge der „Machtergreifung” und Gleichschaltung diktatorische Verhältnisse in den Kommunen und nicht zuletzt in den sozialdemokratischen Hochburgen durchsetzten, musste auch jene Zeitgenossen überraschen, die jahrelang vor den Nazis gewarnt hatten.

Dabei war die Stimmung am 30. Januar 1933 noch optimistisch, das Unheil abwehren zu können. Nach dem Rücktritt des Kabinetts Kurt von Schleicher und vor der Ernennung Hitlers rief die Volkswacht zu einer Demonstration am 1. Februar auf: „Bielefeld marschiert gegen Staatsstreich und Diktatur, gegen Junkerkorruption und Generalsherrschaft gegen Kapitalismus und Massennot, für Sozialismus, Freiheit und Brot!” war der selbstbewusste Aufmacher im Lokalteil. Am darauf folgenden Tag stellte die Volkswacht auf ihrer Titelseite die rhetorische Frage: „Wollt Ihr Hitler Papen Hugenberg? Nein! Wir marschieren!” Die „Massenkundgebung und Demonstration”, zu der die Kampfleitung der Eisernen Front aufrief, wurde nun kurzerhand auf den frühen Abend des 31. Januar vorgezogen. „Seid einig, einig, einig!”, wandte sich die Volkswacht fasst flehentlich an ihre Klientel und rief zur Geschlossenheit der Arbeiterklasse auf, der „schwere Gefahren” drohten. Die Tageszeitung prophezeite, dass „die beabsichtigte Erklärung des Staatsnotstandes […] die Diktatur aus der Dunkelkammer des Herrenklubs zur Herrschaft bringen” sollte.

Der abendliche, mehr als zwei Stunden dauernde Protest machte Mut. „Das rote Bielefeld marschiert!”, war in der Volkswacht zu lesen. Obwohl „die Grippe gerade unter der Arbeiterschaft sehr wütet[e]” und „ganze Familien […] krank zu Bett” lagen, versammelten sich mehr als 5.000 Menschen auf dem Kesselbrink und marschierten durch die Stadt, begleitet von „Kapellen des Reichsbanners, der Arbeiterjugend und der Arbeitersportler”, die „unermüdlich ihre Weisen” und „alten Kampflieder” spielten. An der Wilhelmstraße, wo die NSDAP mit dem „Braunen Haus” ihre Parteizentrale unterhielt, drohte die Situation zu eskalieren. SA- und SS-Männer standen vor dem Haus, was auf die Demonstranten provozierend wirkte. Parolen wurden skandiert, manche „in der unflätigsten Weise” gegen die designierten Minister der neuen Regierung. Polizei nahm, nachdem „einzelne Rufer” von den uniformierten Parteisoldaten denunziert wurden, einzelne Verhaftungen vor. „Aber das kann uns nicht hemmen”, kommentierte anderntags die Volkswacht.

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Demonstrationsaufruf vom 31. Januar 1933. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Volkswacht

Allerdings waren auch Misstöne zu hören, die deutlich machten, dass sich der Protest zwar gegen Hitler richtete, die Teilnehmer der Demonstration aber alles andere als einig waren. Als Mitglieder der Eisernen Front sich an die Demonstranten wandten, versuchten Kommunisten „mit Sprechchören” zu stören, so dass „die Rede in einem wüsten Tohuwabohu” unterging und letztlich Polizei einschritt, um die „randalierenden Kommunisten” zurückzudrängen, berichtete die Westfälische Zeitung. Die Volkswacht sprach von einer „niederträchtigen Hetze” der Kommunisten und der nazistische Westfälische Beobachter lästerte über die „uneinige marxistische Einigungskundgebung”.

Erst einen Tag im Amt, hatte Hitler den Reichstag als „arbeitsunfähig” bezeichnet und ihn durch Reichspräsident Paul von Hindenburg auflösen lassen. Am 2. Februar stand bereits der anstehende Wahlkampf für den Reichstag im Mittelpunkt, der am 6. März neu gewählt werden sollte. Selbstbewusst verkündete Carl Schreck, Bezirksvorsitzender der SPD, dass sich Hitler, Papen und Hugenberg „nicht trauten, vor den Reichstag zu treten”. Er forderte die Partei auf, die Reihen zu schließen und sich zum Kampf zu rüsten. Dann sei auch „mit einem herrlichen März-Sieg […] der sturmerprobten Sozialdemokratie” zu rechnen. Von der KPD forderte er zwar, den „Bruderkampf” zu beenden, doch waren die Gräben zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten so tief und das Verhältnis zwischen den Parteiführungen derart vergiftet, dass wohl keiner so recht an eine kurzfristige Versöhnung glaubte. Im Gegenteil: Die Bielefelder SPD sah sich kaum eine Woche nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler für alle „kommenden Kämpfen und Stürmen wohlgerüstet”, meinte damit aber vor allem die „kommenden Wahlkämpfe”; die Gefahr drohender diktatorischer Verhältnisse gehörte nicht zum Krisenszenario der Partei. So stellte Carl Severing fest: „Mögen im Augenblick dunkle Wolken über der deutschen Arbeiterklasse, über der deutschen Republik sich drohend zusammenballen: die Sozialdemokratie ist da, sie lebt, weil hinter ihr das Herr der erprobten Kämpfer steht.”

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Carl Schreck (1873-1956). Er war 1933 Bezirksvorsitzender der SPD. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-19-160

Die „Notverordnungen zum Schutze des deutschen Volkes”, die am 6. Februar erlassen wurden, ließen auch in Bielefeld „das Ende des bürgerlichen Rechtsstaates” erahnen. Mit der Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit war der „Polizeiwillkür” letztlich Tür und Tor geöffnet. Die Herausgabe der Volkswacht war nun von einem möglichen Verbot überschattet. Aber noch berichtete sie über brutale Überfälle von „Rollkommandos der nationalsozialistischen Partei”, die in Berlin mit Pistolen bewaffnet missliebige Verlage überfielen, oder über politisch motivierte Morde in der Reichshauptstadt, Chemnitz und Breslau. In Bielefeld herrschte dagegen eine trügerische Ruhe. Am 5. Februar marschierte bei strömenden Regen die SA mit dem Stahlhelm und anderen „nationalen Verbänden” vom Kesselbrink durch das rote Kamphofviertel, die Innenstadt und die Wohngebiete der Textilarbeiterschaft rund um die Mechanische Weberei und Ravensberger Spinnerei. Etwa 1.300 Menschen zählte der Zug. Unter ihnen war auch der damals noch vielen unbekannte Gauleiter der NSDAP, Dr. Alfred Meyer, der auf dem Kesselbrink eine Rede hielt. Die Kundgebung verlief ohne Zwischenfälle, Gegendemonstrationen gab es selbst im Kamphof nicht.

Während es auf Bielefelder Straßen weitestgehend ruhig blieb, fochten die Redakteure der parteilichen Tageszeitungen der NSDAP und SPD ein Scharmützel aus. Der Westfälische Beobachter wollte auf die „Lügenmeldungen der SPD-Volkswacht” nicht mehr eingehen, hielt aber diesen Vorsatz kaum einen Tag durch. Die häufigen „Vergnügungs-Inserate” in der Westfälischen Zeitung waren dem „Beobachter” ein Dorn im Auge wie überhaupt die gesamte „bürgerlich-marxistische Presse Bielefelds”. Die Volkswacht ihrerseits sprach dem Nazi-Organ die „journalistischen Fähigkeiten” strikt ab und verglich die Qualität der Artikel mit schlecht geschriebenen Schüleraufsätzen: „anständiges Deutsch” und „logische Schlussfolgerungen” seien der Lokalredaktion des braunen Tageblattes fremd. Der Westfälischen Zeitung warf die Volkswacht vor, sich „augenblicklich so lebhaft für die ‚nationale Einheitsfront‘” einzusetzen und „mit den Nazis nicht genug liebäugeln” zu können, genauso wie die Westfälischen Neuesten Nachrichten, die dabei wären, sich „zum neuesten Hoforgan der Nazis” zu entwickeln. Die kritisierten bürgerlichen Zeitungen berichteten staatstragend über Hitlers außenpolitische Ziele („Versailles muss revidiert werden”), schürten die Angst vor einem kommunistischen Umsturz und ignorierten die Kritik der lokalen Mitbewerber.

Am 16. Februar 1933 rief die Eiserne Front erneut zu einer Demonstration gegen Nationalsozialismus auf. Unter dem Motto „Zeigt, dass Bielefeld rot ist und bleiben wird”, wurde am 20. Februar ein Sternmarsch organisiert, der vom Ostbahnhof, der Jakobuskirche, dem Siekerwall, dem Siegfriedplatz, von Droop und Rein und der Hallenstraße zum Kesselbrink führte. Von dort aus war dann ein gemeinsamer Marsch durch die Arbeiterviertel im Norden, Westen und Osten der Stadt geplant. Irritierend wirkte der Hinweis, dass an dieser Demonstration „nur Männer” teilnehmen sollten. Hintergrund war eine zeitgleiche Vorstellung der parteinahen „Freien Volksbühne”: Im Stadttheater wurde das „Dreimäderlhaus” aufgeführt, und „damit auch die Volksbühne ein vollbesetztes Haus erhält”, sollten die Frauen ins Theater gehen, während die Männer auf der Straße demonstrierten. Am 21. Februar berichtete die Volkswacht über den „Freiheitsmarsch des roten Bielefeld”, an dem „8000 Marxisten” teilnahmen und „im Fackelschein vier Stunden lang” marschierten. Nicht alle Frauen gingen ins Theater, sondern viele standen an den Straßenrändern, die „Freiheitspfeile” der Eisernen Front „auf der Brust”. Während die Volkswacht ganzseitig euphorisch berichtete, war der Westfälischen Zeitung die letzte Demonstration der Eisernen Front nur 28 Zeilen wert, die vor allem die Demonstrationsroute beschrieben. „Es kam zu keinen Zusammenstößen”, stellte die Tageszeitung fest, was nach ihrer Lesart weniger an der Disziplin der Demonstranten lag, als an der Schutzpolizei, die „umfassende Sicherheitsmaßnahmen und Absperrungen vorgenommen” hatte. Die Westfälischen Neuesten Nachrichten berichteten anderntags, dass sich bei der Abschlusskundgebung auf dem Kesselbrink die Versammlungsteilnehmer so zusammenballten, „was der Schutzpolizei Veranlassung bot, den Platz zu räumen und die Menge nach der Herforder Straße zu und über den Jahnplatz abzudrängen.” Der Westfälische Beobachter ignorierte die Kundgebung.

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Der Stein des Anstoßes: Der Abdruck des NSDAP-Plakats führte zum ersten Verbot der Volkswacht. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Volkswacht

Die Zuversicht der Bielefelder Sozialdemokraten war am Tag nach der Demonstration groß: „Mögen alle gegen uns anrennen”, war in der Volkswacht zu lesen, „nun wollen wir den Gegnern gerade zeigen, dass wir unüberwindlich sind.” Zwei Tage später wurde die Volkswacht das erste Mal verboten. Vordergründiger Anlass war der Abdruck eines NSDAP-Plakates zur Reichstagswahl 1932 in der Volkswacht vom 17. Februar 1933. Das Plakat stellte die Notverordnungen der Regierung von Papen an den Pranger und war mit dem Text versehen „Unser tägliches Brot nimmt uns Herr v. Papen”. Zu diesem Plakat schrieb die Volkswacht: „Dem Herrn Reichskanzler zur gefälligen Kenntnisnahme: Hier die Wiedergabe des großen Plakates, das im Novemberwahlkampf vor dem braunen Haus in Bielefeld stand. Es ist inzwischen sicherlich eingestampft wie das ganze Programm der NSDAP.” Auf Antrag des Regierungspräsidenten sprach der Oberpräsident der Provinz Westfalen ein befristetes Verbot der Volkswacht vom 23. bis zum 25. Februar 1933 aus. In der Begründung hieß es, dass das Plakat „eine böswillige Verächtlichmachung eines leitenden Beamten des Staates” darstelle.

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Bielefelder Zeitgeschichte”: Die Westfälische Zeitung berichtete am 1. März 1933 über das Verbot der Volkswacht. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Westfälische Zeitung

Am 27. Februar 1933 erschien die Volkswacht zum letzten Mal mit einer Schlagzeile, die wie ein Aufschrei, wie eine letzte, verzweifelte Warnung wirkte: „Bielefeld ist rot und bleibt rot! Ihr könnt das Wort verbieten, ihr tötet nicht den Geist.” Den Reichstagsbrand in der Nacht zum 28. Februar nahm die Regierung dann zum Anlass, reichsweit die sozialdemokratische und kommunistische Presse zu verbieten. Während sich an diesem Tag vor dem von Polizisten abgeriegelten Volkswachtgebäude eine große Menschenmenge versammelte, wurden „große Mengen politischer Druckschriften” beschlagnahmt. War sich im Februar 1933 die politische Opposition auch in Bielefeld sicher, mit einem entschlossenen Wahlkampf die Regierung Hitler wieder aus dem Amt zu fegen, waren bereits am 1. März für alle sichtbar die Weichen auf Diktatur gestellt. Die Westfälische Zeitung berichtete auf ihrer ersten Seite über die „Verordnung zum Schutz von Staat und Volk” und bezeichnete diese wohlwollend als „schärfstes Durchgreifen”, und im Lokalteil war zu lesen, dass 24 Kommunisten festgenommen und eine Wahlkundgebung mit Carl Severing, die am 2. März stattfinden sollte, verboten worden seien. Zudem wurde die Symmetrie der politischen Auseinandersetzung gebrochen: Auch in Bielefeld waren nun Mitglieder der SS, SA und des Stahlhelms als Polizeihilfskräfte einberufen worden. Mit Riesenschritten wurde die Freiheit zu Grabe getragen.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Volkswacht, Westfälische Zeitung, Westfälische Neueste Nachrichten, Westfälischer Beobachter (1933)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung

     

Literatur

  • George Homburg, Sozialdemokratie unterm Hakenkreuz. Ostwestfalen-Lippe 1933-1945, Hamburg 1988
  • Martin Löning, „Organ für das arbeitende Volk!” Die Volkswacht in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: „Demokratie: unser Weg! Demokratie: unser Ziel!” Aufbau und Ausbau der ostwestfälischen Sozialdemokratie. Zum 100jährigen Bestehen des SPD-Bezirkes Ostwestfalen-Lippe, hg. v. Bezirksvorstand der SPD Ostwestfalen-Lippe, Hamburg 1993, S. 69-84
  • Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 3: Von der Novemberrevolution bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005
  • Bernd J. Wagner, 90 Jahre Volkswacht-Gebäude in Bielefeld 1912-2002, in: Der Seher – Hommage à Laokoon. 90 Jahre Volkswacht-Gebäude, hg. v. Initiativkreis Kunst im öffentlichen Raum, Bielefeld 2002, S. 10-49

 

Erstveröffentlichung: 01.02.2013

Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd. J., 28. Februar 1933: Verbot der sozialdemokratischen Tageszeitung „Volkswacht“, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2013/02/01/01022013, Bielefeld 2013

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