• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
Am 6. März 1933 läutete eine scheinbar harmlose Provokation das Ende des Parlamentarismus in Bielefeld ein. Um 14.30 Uhr hissten acht SA-Leute und Stahlhelmer aus den Fenstern des Sitzungssaales der Stadtverordneten-Versammlung die schwarz-weiß-rote Fahne des 1918 im Ersten Weltkrieg untergegangenen Deutschen Reiches und die Hakenkreuzfahne. Diese Aktion war gut organisiert. Am frühen Nachmittag suchten zahlreiche Menschen den Schillerplatz vor dem Rathaus auf, weil ein Gerücht die Runde machte, dass etwas „im Gange sei”. Kurze Zeit später trafen drei SA-Züge, ein halber Zug Stahlhelm und Mitglieder des Deutschnationalen Kampfrings ein. Sie hatten zwei mit Flaggen umwickelte Fahnenstangen dabei, die ins Rathaus getragen wurden.

Die „nationalen Verbände”, wie es anderntags in der Zeitung zu lesen war, wollten mit dieser Aktion das Ergebnis der Reichs- und Landtagswahl am 5. März feiern, die die NSDAP als stärkste Partei gewonnnen hatte. Während im Reich die NSDAP 43,9 Prozent, die SPD 18,3 Prozent und die KPD 12,1 Prozent verbuchten, waren die Mehrheitsverhältnisse in Bielefeld nicht so eindeutig. Hier gewann die NSDAP 37,3 Prozent, wobei sie im Vergleich zu den Wahlen im November 1932 ihren Stimmenanteil um gut 10 Prozent erhöhen konnte. Die SPD erreichte 34,4 Prozent und die KPD 10,3 Prozent. Im Reich wurde das katholische Zentrum mit 10,9 Prozent viertstärkste Partei, in Bielefeld war es der aus der DNVP hervorgegangene Wählerblock „Schwarz-weiß-rot”, der knapp 7 Prozent gewann.

Während vor dem Rathaus mit erhobenem rechten Arm die Flaggenhissung begrüßt wurde, protestierte im Rathaus die Stadträtin Clara Delius von der DVP gegen diese Provokation. In der Magistratssitzung gab sie vor dem zwölfköpfigen Gremium eine Erklärung ab und verließ die Sitzung. Sieben Stadträte der SPD und des Zentrums folgten ihr. Clara Delius machte keinen Hehl daraus, dass sie hinter der Symbolik der alten Reichsfahne stand. Wäre nur diese von Stahlhelmern gehisst worden, dann wäre sie geblieben. „Endlich das heißersehnte Schwarzweißrot”, ist in einer schriftlichen Erklärung der Stadträtin zu lesen. „Leider nicht gehißt unter dem Jubel der gesamten Bürgerschaft Bielefelds, unter dem Gesang von ‚Nun danket alle Gott‘ und ‚Ich hatte einen Kameraden‘, wie wir es lange ersehnt haben.” Ihre Kritik richtete sich gegen die „Parteisoldaten der SA” und die Hakenkreuzflagge, die zu diesem Zeitpunkt noch Parteifahne der NSDAP war. Clara Delius konnte es mit ihrem Verständnis von „Bürgerfreiheit” nicht vereinbaren, unter einer Parteifahne im Magistrat zu tagen.
Die Realität nahm keine Rücksicht auf bürgerschaftliche Empfindungen. Nach der Reichstagswahl sandte Reichsminister Hermann Göring einen Funkspruch an die preußischen Ober- und Regierungspräsidenten, in dem er auf „das Hissen der Hakenkreuzfahne auf staatlichen und kommunalen Dienstgebäuden” hinwies. „Dieser verständlichen Volksabstimmung” sollte die Polizei „in den nächsten Tagen Rechnung” tragen, sie also dulden. So auch in Bielefeld. Am 7. März beflaggten SA, Stahlhelm und Deutschnationaler Kampfring das Polizeipräsidium, das Kreishaus, den Hauptbahnhof und das Haus der Technik. Auf dem Jahnplatz verbrannten sie eine schwarz-rot-goldene Fahne, das Symbol des demokratischen Deutschlands. Das gleiche wiederholte sich am 9. März. Dieses Mal versuchten die bereits aktiven „nationalen Verbände” die Eisenhütte, das Gewerkschaftshaus an der Marktstraße, mit Schwarzweißrot und Hakenkreuz zu beflaggen, stießen aber auf eine „große Schar von SPD-Leuten und Gewerkschaftern” und ließen von ihrem Vorhaben ab. In den frühen Abendstunden fand sich eine große Menschenmenge auf dem Schillerplatz ein. Die Westfälischen Neuesten Nachrichten berichteten: „Gegen 19.20 Uhr rückten SA und SS heran und brachten schwarz-rot-goldene Fahnentücher und Drei-Pfeile-Fahnen mit, die aus Schulen und anderen öffentlichen und sonstigen Gebäuden geholt worden waren. Auf dem Schillerplatz wurden die Fahnen mit Benzin übergossen und angezündet. Eine große Menschenmenge verfolgte den Vorgang und beendete die Demonstration mit dem Absingen des Deutschland- und des Horst-Wessel-Liedes.”

SA und SS liefen nicht Gefahr, wegen dieser Sachbeschädigung bestraft zu werden. Ihre Mitglieder waren seit dem 1. März zu Hilfspolizisten befördert worden, die auch Verhaftungen vornahmen. Seit Mitte Februar berichteten die Tageszeitungen regelmäßig über Festnahmen von Kommunisten in der Stadt und im Landkreis, die nach dem Reichstagsbrand noch zunahmen. Nur wenige Tage vor der letzten „freien” Kommunalwahl, die am 12. März stattfinden sollte, demonstrierten die braunen Machthaber, was sie unter Freiheit verstanden. Die Neuwahl der Stadtverordneten-Versammlung war notwendig geworden, nachdem das Preußische Staatsministerium unter der Leitung von Hermann Göring und Franz von Papen mit einer Verordnung vom 4. Februar 1933, also nur fünf Tage nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die „Vertretungskörperschaften der Gemeinden und Gemeindeverbände” aufgelöst hatte. In Bielefeld endete die Wahl mit einer kleinen Überraschung: die SPD hatte mit 37,1 Prozent die Wahl gewonnen, gefolgt von der NSDAP, die 36,6 Prozent für sich verbuchen konnte; beide Parteien gewannen 19 Mandate. Den dritten Platz teilten sich KPD und Kampffront Schwarz-weiß-rot mit jeweils 7,7 Prozent der abgegebenen Stimmen bzw. vier Mandaten. Die KPD zog aber nicht ins Rathaus ein. Wurden bereits am 8. März die Reichstagsmandate der Kommunisten mithilfe der Notverordnung annulliert, so empfahl nach den Kommunalwahlen in Preußen die Berliner Polizeiverwaltung, dass die kommunistischen „Gemeindevertreter und Stadtverordneten einfach nicht eingeladen werden” sollten. In Bielefeld wurde diese Empfehlung sofort umgesetzt.

Die erste Sitzung der neugewählten Stadtverordneten-Versammlung am 5. April 1933 nahm die NSDAP zum Anlass, ihre Macht auch im Rathaus zu demonstrieren. Die nationalsozialistische Ratsfraktion besetzte Uniform tragend die Plätze und wurde von Mitgliedern der SA und SS begleitet. Die Hakenkreuzfahne hing nicht mehr nur draußen am Rathausbalkon, sie war jetzt auch im Sitzungssaal zu sehen. Die formal noch freie, aber längst in den Köpfen gleichgeschaltete Bielefelder Presse bejubelte den festlichen Einzug des neuen Stadtparlaments. Die Tagesordnung war überschaubar: Wahl des Vorstands der Stadtverordnetenversammlung und der unbesoldeten Magistratsmitglieder. Mit „überwiegender Stimmenmehrheit” wurden Friedrich Budde zum Vorsteher und Emil Irrgang zum Stellvertreter „durch Zuruf” gewählt. Beide gehörten der NSDAP-Fraktion an. Bei der Wahl der Stadträte stimmten für den Listenvorschlag der NSDAP und der „übrigen bürgerlichen Parteien” 26 Stadtverordnete, für den der SPD 18. Einer der führenden Bielefelder Sozialdemokraten, Carl Schreck, der Mitglied des Reichstags, ehrenamtlicher Stadtrat und Mitglied der Stadtverordnetenversammlung war, nahm an dieser Sitzung gar nicht mehr teil. Er war drei Tage zuvor wegen Verdachts des Hochverrats verhaftet worden. Am 31. Mai legte er sein Mandat nieder.
Der neue Magistrat, dem kein Sozialdemokrat mehr angehörte, tagte erstmals am 18. April. Die NSDAP ließ keine Zweifel darüber aufkommen, dass sie die so genannte Gleichschaltung ohne Verzögerung auch in der Verwaltung durchsetzen wollte. Im Protokollbuch ist zu lesen: „Auf Antrag der NSDAP wird folgendes beschlossen: Bürgermeister Köllner, Intendant Cahnbley, Stadtobersekretär Böning und die Fürsorgerin Nadig werden mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres beurlaubt. Die Beurlaubung des Lehrers Ladebeck und des Rektors Doth soll bei der Regierung beantragt werden.” Ladebeck und Doth gehörten der sozialdemokratischen Stadtverordneten-Fraktion an. Bei dem seit Jahren von den Nazis bekämpften Stadtrat Gottlob Binder sollte „die Entlassung aufgrund des § 2 des Gesetzes vom 7.4.1933 beantragt werden.” Hierbei handelte es sich um das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Der 2. Artikel forderte die Entlassung von Beamten, „die seit dem 9. November 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten” waren, „ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Vorbildung oder sonstige Eignung zu besitzen”. Der Rausschmiss von missliebigen Beamten wurde mit dem Hinweis auf fehlende Kompetenz legalisiert. Die Entlassung von Bürgermeister Josef Köllner beantragte der Magistrat am 8. Mai und begründete diese mit § 4 des Gesetzes. Dieser Artikel sah die Entlassung von Beamten vor, „die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür” boten, „jederzeit rücksichtslos für den nationalen Staat” einzutreten.

Nach dem Verbot der SPD am 22. Juni 1933 sprach die Westfälische Zeitung von einem „zusammengeschrumpften Stadtparlament”. In der Stadtverordnetensitzung am 5. Juli 1933 wies Karl Wilke, der bereits im Mai zum neuen Vorsteher gewählt worden war, „auf den Ausschluß der Vertreter der SPD hin”. Einziger Tagesordnungspunkt war die Wahl des bisherigen Vorstehers und Obersteuersekretärs Friedrich Budde zum Zweiten Bürgermeister der Stadt Bielefeld. Er wurde einstimmig gewählt. Am 6. Juli titelte die Westfälische Zeitung: „’Sieg Heil’ dem neuen Bürgermeister!”, und jubelte der „Parlamentarismus ist tot”. An den Flaggenstreit vom 6. März wollte sich zu diesem Zeitpunkt keiner mehr erinnern. Der Magistrat hatte bereits einen Tag nach der Kommunalwahl die Anschaffung von drei Hakenkreuzfahnen und im April den Kauf von schwarz-weiß-roten und Hakenkreuzfahnen „im notwendigen Umfange” beschlossen. Im und vor dem Rathaus und auf der Sparrenburg sollten von nun an „die staatlich vorgesehenen Flaggen” gezeigt werden, wenn „das Flaggen vom Staate angeordnet” wurde.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 140/Protokolle, Nr. 15: Protokollbuch Stadtverordnete (1931-1933)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 140/Protokolle, Nr. 50: Protokollbuch Magistrat (1932-1933)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermannsammlung, Band 5
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Westfälische Neueste Nachrichten (1933)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen: Westfälische Zeitung (1933)
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
Literatur
- Bärbel Sunderbrink, Bernd J. Wagner, Das war das 20. Jahrhundert in Bielefeld, Gudensberg-Gleichen 2001
- Reinhard Vogelsang, Im Zeichen des Hakenkreuzes. Bielefeld 1933-1945, Bielefeld 1983
- Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld. Bd. 3: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005
Erstveröffentlichung: 01.03.2008
Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 6. März 1933: Am Bielefelder Rathaus hängt erstmals eine Hakenkreuzfahne, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2008/03/01/01032008/, Bielefeld 2008