19. Oktober 1975: Tod des früheren Kulturdezernenten Paul Jagenburg

• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

Paul Jagenburg (1889-1975), Foto: Emilie Antonie Eberling-Planck (1887-1957), ca. 1960; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 61-10-6

Paul Jagenburg war eine vielschichtige, wandlungsfähige Persönlichkeit, die in jungen Jahren politisch irrlichterte, aber trotz weitreichender Vernetzungen, einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und umfassenden Ideen immer ihrer Bielefelder Herkunft und Heimat verpflichtet blieb. Von 1946 bis 1954 amtierte der NS-Verfolgte ehemalige Buchenwald-Häftling als Kulturdezernent Bielefelds. Am 19. Oktober 1975 verstarb er in Bielefeld-Gadderbaum – der Sterbeeintrag des Standesamts führt ihn als „Kaufmann“, der er kurzzeitig auch gewesen war.


Herkunft – Schule – Weltkrieg

1. Seite des Reifezeugnisses von Paul Jagenburg, 1910; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 391

Paul Wilhelm Jagenburg wurde am 4. Juli 1889 in Bielefeld als fünftes und jüngstes Kind von Robert Jagenburg (1856-1923) und Elfriede Jagenburg geb. Jacobs (1856-1934) geboren. Der Vater stammte aus Elberfeld, die Mutter aus Hamm. Jagenburg wuchs zunächst im Elternhaus Friedenstr. 7 auf, 1893 verzog die Familie in die Bismarckstraße 4. Am 22. September 1910 legte Jagenburg am Ratsgymnasium die Abiturprüfung ab, wo er dem Schülergesangverein „Kehlkopf“ angehört hatte. Sein Reifezeugnis bescheinigte ihm tadelloses Betragen und dass sein Fleiß und seine Unterrichtsbeteiligung „zuletzt“ gut gewesen seien. Ein „gut“ verbuchte er in Religion, Griechisch, Turnen und Gesang, ein „nicht genügend“ in Mathematik. Die ansonsten „genügenden“ Leistungen kommentierte das Zeugnis für das Fach Deutsch wie folgt: „Seine Prüfungsarbeit litt mehrfach an Unklarheit […] und der Literatur brachte er Interesse entgegen.“

Seinen Studienwunsch Philosophie und Literaturwissenschaft konnte er nicht umsetzen, vielmehr studierte er – vielleicht auch auf väterlichen Druck – in Berlin und Bonn Nationalökonomie, Philologie und Kunst. Unterbrochen wurde das Studium durch den Wehrdienst als Einjährig Freiwilliger 1911/12 und Weltkriegsteilnahme ab August 1914, zunächst als Offiziersstellvertreter, später als Leutnant der Reserve. Das Eiserne Kreuz 2. Klasse erhielt er angeblich für seine Tätigkeit als Dirigent einer Musikkapelle. Anlässlich seines 80. Geburtstages hielt er am 4. Juli 1969 in der Neuen Westfälischen fest, dass er diese Auszeichnung erhalten habe, ohne „je einen Menschen totgeschossen“ zu haben.

Am 11. Juli 1924 heirateten Paul Jagenburg und Henriette Wilhelmine Jagenburg geb. Stentzel verw. Recker (1895-1972), die in Kassel geboren war und drei Kinder mit in die Ehe brachte. Aus ihrer Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Zwei Tage nach der Hochzeit zog Jagenburg zu seiner Ehefrau in die Hochstraße 14, wo er bis 1973 leben sollte.

Ein einmaliger antisemitischer Ausfall

Aus dem Krieg zurück in Bielefeld, meldete sich Jagenburg erstmals öffentlich politisch zu Wort. Mit einem Artikel „Zur Aufklärung“ betrat der damals 29-Jährige kurzzeitig die öffentliche Bühne, den die Westfälische Zeitung am 28. Dezember 1918 abdruckte. In ihrer unmissverständlichen Botschaft können die Zeilen kaum fehlgedeutet werden, erscheinen deshalb mit dem späteren Jagenburg eigentlich kaum vereinbar.

Der aus dem Krieg heimgekehrte Offiziersstellvertreter saß offensichtlich einer von rechten völkischen Gruppierungen initiierten Kampagne auf, die den Juden generalisierend die Schuld an der Niederlage und dem Untergang des Kaiserreichs zuschob, indem ihnen entweder mangelndes Engagement an der Front (schon 1916 hatte es eine staatliche „Judenzählung“ im deutschen Militär gegeben) oder ein als überhöht eingeschätzter Einfluss in der Politik nachgesagt wurde. Auslöser von Jagenburgs Intervention war ein per Leserbriefen Ende 1918 in der Westfälischen Zeitung ausgetragener Schlagabtausch um die Einschätzung der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, die soeben aus der Fortschrittlichen Volkspartei und dem linken Flügel der Nationalliberalen Partei hervorgegangen war. Der seit 1912 in Bielefeld unterrichtende Lehrer Dr. Bernhard Bavink (1879-1947) meldete sich zu einem Beitrittsaufruf zu Wort, auf das Dr. Willy Katzenstein (1874-1951) und Rabbiner Dr. Hans Kronheim (1885-1958) reagierten, da sie eine antisemitische Grundhaltung ausgemacht hatten.

Jagenburg-Artikel (Montage) in der Westfälischen Zeitung v. 28.12.1918; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50

Daraufhin schaltete sich Jagenburg ausgesprochen dezidiert in die Debatte ein: „Die Judenfrage ist eine Rassen- und Weltanschauungsfrage. Und die deutschen Juden werden ebensowenig Deutsche – wenn auch in diesem Kriege manche ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staate, in dem sie wohnen, mit dem Heldentode einlösten – wie die polnischen Juden Polen werden!“ Juden bewohnten demnach Deutschland lediglich, waren also nicht Deutsche und Bürger im eigentlichen Sinn, sondern Staatsangehörige zweiter Klasse, die einer eigenen Rasse angehörten – das klang völkisch und entsprach den 1935 in den Nürnberger Gesetzen eingeführten deklassierenden Systematisierungen. Den „Niederschlag der Wesensarten der Rassen“ meinte Jagenburg in einer von der Zensurfreiheit („dieses fragwürdige Geschenk der Revolution“) entfesselten Literatur und in der Musik erkannt zu haben. Vorbedingung für Kulturschaffen sei aber ein „Verwachsensein mit den Säften des heimatlichen Bodens“ – nicht umsonst ziehe es Zionisten nach Palästina, während andere die „Angleichung mit dem Deutschtum“ suchten. Für letztere Linie stünde auch der Bielefelder Rabbiner Dr. Hans Kronheim (1885-1958). Jagenburg wandte sich gegen jüdischen Einfluss in der Politik: „Die Führer der Revolution in Rußland sind Juden, in Oesterreich ebenfalls, und Deutschland zum Teil.“ Ein antisemitisch-völkischer Duktus bestimmte den Artikel – die Debatte selbst versickerte bald – Jagenburg verschwand für knapp drei Jahrzehnte aus der politischen Öffentlichkeit.

Wirtschaftlich unsichere Zeiten und politische Orientierung

Gewerbekarteikarte für Paul Jagenburg und Paul Stentzel; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,1/Ordnungsamt, Nr. 1182

Nach dem Tod seines Vaters am 1. April 1923 trat Jagenburg 1924 in dessen Wäschefabrik ein. Er schied aufgrund von „Meinungsverschiedenheiten“ oder „familiärer Unstimmigkeiten“, wie er es 1946 selbst ausdrückte, aus dem Betrieb aus, den sein Bruder übernahm. Mit seinem Schwager Ludwig Stentzel betrieb er von 1924 bis 1929 eine Leinen- und Wäschefabrik mit einer Betriebsstätte in der Burgstr. 4. Als die väterliche Firma mit Filialen in Soest und Kassel jedoch im Herbst 1928 in wirtschaftliche Schieflage geriet, habe er sanierend eingreifen wollen und damit sein eigenes Textilunternehmen gefährdet, so dass beide 1929 gemeinsam in Konkurs gingen.

Danach folgten für die Familie Jagenburg in vielerlei Hinsicht unsichere Zeiten, die durch die politische und ökonomische Krise angetrieben wurden. Jagenburg richtete sich neu aus und wechselte von der Wirtschaft in die Wissenschaft, was als Privatgelehrtem indes kaum finanzielle Sicherheit versprach. Nach der Insolvenz arbeitete er zunächst „privat-wissenschaftlich über nationalökonomische und staatspolitische Fragen“ und bis 1940 an einem „Werk über Religionspsychologie und Parapsychologie in Verbindung mit der Ethnologie verschiedener außereuropäischer und früh europäischer Völker“. Diese Arbeiten sind nicht ediert worden und auch nicht überliefert, so dass die konkreten Theorien unklar bleiben.

Jagenburg näherte sich parallel in den 1920er-Jahren kommunistischen Ideen an. Er avancierte in Bielefeld zum gesuchten Gesprächspartner ähnlich denkender, teils schillernder Zeitgenossen. Immer wieder suchte ihn der spätere DKP-Parteivorstand Richard Scheringer (1904-1986) auf, der eine bewegte politische Laufbahn vorweisen konnte. Nach Eintritt in die Reichswehr 1924 hatte er sich früh rechtsradikalen Gruppen angeschlossen und unterstützte die Nationalsozialisten. 1929 wurde er mit seinen Regimentskameraden Hanns Ludin (1905-1947) und Hans Friedrich Wendt (1903-1984) am Garnisonsstandort Ulm wegen des Versuchs einer nationalsozialistischen Zellenbildung in der Reichswehr zu 18 Monaten Festungshaft verurteilt. In der Festung Gollnow mutierte der Nationalsozialist Scheringer zum kompromisslosen Kommunisten: „Ich reihe mich als Soldat ein in die Front des wehrhaften Proletariats“. In einem zweiten Prozess wurde er 1931 – nunmehr als Kommunist – wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ vom Reichsgericht und im April 1932 wegen „Hochverrat und Unterstützung einer staatsfeindlichen Verbindung“ jeweils zu zweieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Scheringer saß anfangs in der Festungshaftanstalt Groß-Strelitz, ab dem 22. Februar 1933 in Bielefeld ein.

Dort genoss er wesentliche Hafterleichterungen, die ihm trotz mehrerer Fluchtversuche aus der Gollnower Festungshaft nunmehr eingeräumt wurden und über die er in seiner Autobiographie berichtet: „Der Direktor ist gut, Sozialdemokrat. Überhaupt merkt man in Bielefeld überall, daß es die Heimat des sozialdemokratischen, preußischen Innenministers Karl Severing ist. Auch die Beamten geben sich alle als Sozialdemokraten.“

Hier begegneten sich Jagenburg und Scheringer und prägten sich gegenseitig politisch. Scheringers Lebensgefährtin Marianne Heisch lebte mit ihrem Sohn Richard seit Februar 1934 bei Jagenburgs. Nach seiner Haftentlassung heirateten Scheringer und Heisch am 12. Mai 1934 in Bielefeld – Trauzeuge war Paul Jagenburg.

Politische Verfolgung und Pläne

Zuvor war Jagenburg am 28. Februar 1933 in Bielefeld in „Schutzhaft“ genommen worden, in der er bis zum 7. Juni verblieb. Hintergrund war eine Mitgliedschaft im „Bund der Freunde der Sowjetunion“. Entlassen wurde er, „um festzustellen, ob er noch weiter kommunist. Verbindungen aufrecht erhält.“ Jagenburg arbeitete seit der Insolvenz seiner Wäschefabrik als freischaffender Schriftsteller – veröffentlicht hatte er freilich bis 1940 nichts. Mit Gelegenheitsjobs hielt er sich über Wasser, so u. a. bei Scheringer in Kösching 1933 und 1940. Bei Scheringer traf er 1933 sogar mit dessen ehemaligem Regimentskameraden Hanns Ludin zusammen, der inzwischen zum Chef der SA-Gruppe Südwest in Stuttgart aufgestiegen war. Über Parteigrenzen hinweg hielten Ludin und Scheringer an ihrer persönlichen Freundschaft fest, geeint im Glauben, gemeinsam einer „durch und durch aktivistischen Generation“, wie sie es ausdrückten, anzugehören. „Dieser Jagenburg gefällt mir saumäßig schlecht“, urteilte Ludin gegenüber Scheringer.

Das Gerichtsgefängnis an der Detmolder Straße, 1918; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-532-41

Noch 1934 unterhielt Jagenburg mit Scheringer Kontakte in die NSDAP hinein und war im Austausch mit Nationalsozialisten des Strasser-Flügels, insbesondere mit Ernst Graf Reventlow (1869-1943). Scheringer schildert Jagenburgs Arbeiten, die er 1934 während der eigenen Hochzeitsvorbereitungen und Flitterwochen in Bielefeld mitbekam und wohl auch aktiv begleitete: : „Jagenburg hat seine Ausarbeitungen über eine künftige deutsche Verfassung weitergeführt, fußend auf den staatsrechtlichen und geschichtlichen Untersuchungen von Maurer und Eichhorn. Es wird alles bis in die Nächte hinein in seinem Zimmer oben besprochen. Ein Hauptpunkt ist dabei die Auflösung der alten Länder im Zug wirklicher Demokratisierung. […] An die Stelle dieser alten Länder sollen wirtschaftspolitisch wie stammesmäßig in sich geschlossene Bezirke oder Gaue treten, in deren Rahmen gleichzeitig als Element der Dezentralisierung eine starke, eigenständige Kommunalverwaltung aufgebaut werden soll.“

Jagenburg setzte ungebrochen auf eine wohlwollende Aufnahme seiner Ideen durch die NSDAP und insbesondere auf den Einfluss von Reventlows, mit dem er befreundet war. In Bielefeld wirkte bei diesen Besprechungen Dr. Friedrich Meyer zu Schwabedissen (1888-1954) mit, dessen „Begeisterung für die neue Zeit […] merklich abgekühlt“ war, so Scheringer in seinen Erinnerungen. Meyer zu Schwabedissen hatte in die Bielefelder Plüschweberei Niemann eingeheiratet und um 1930 zu Planwirtschaft oder auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verschiedene Vorträge u. a. in Berlin und im Ruhrgebiet gehalten und Beiträge veröffentlicht.

Nun dachte Scheringer an eine Kontaktaufnahme mit „Menschen des Widerstandes“, die alle zusammen beabsichtigten, so seine Autobiographie, „möglichst viele Verbindungen anzuknüpfen und die gesamte sozialistisch und patriotisch orientierte Opposition innerhalb und außerhalb der NSDAP zu organisieren und sich in den Grundzügen zu einigen über die Gestaltung des Reiches nach der Hitlerdiktatur.“ Scheringer, Jagenburg, Meyer zu Schwabedissen, Reventlow und andere erwarteten oder erhofften zumindest eine „2. Welle“ oder „Nächste Welle“, als deren treibende Kraft sie die SA ausmachten. Am Ende sollte ein demokratisches Deutschland ohne Hitler, mit einer sozialisierten Industrie, einer Ostorientierung der Außenpolitik und einem Ende von Antisemitismus (Jagenburg hatte sich gewandelt) und Antikommunismus stehen. Diese Pläne scheinen auch von Bielefeld aus entwickelt worden zu sein, ihre Initiatoren setzten aber auf das falsche Pferd.

Die Teilnehmer dieser konspirativen Treffen interpretierten noch im Mai 1934 die Situation als politisch offener, als sie tatsächlich war. Kurz darauf begleitete Meyer zu Schwabedissen Scheringer auf Einladung Ludins zu einem SA-Schulungstreffen in Villingen und trug dort über Planwirtschaft und Sozialismus vor. Beide grüßten nicht mit „Heil Hitler“, was nicht beanstandet wurde, beide spürten eine nervöse Stimmung in den Reihen der SA: „Jeder merkt, daß etwas in der Luft liegt.“, so Scheringer. Wenige Tage darauf folgte die blutige Niederschlagung des „Röhm-Putsches“. Jegliche Opposition innerhalb der NS-Bewegung wurde zertrümmert, die Ausrichtung der Partei und der Kurs des Deutschen Reiches war entschieden, den in Bielefeld entwickelten Putschplänen der Boden entzogen.

Jagenburg scheint in eine gewisse Starre gefallen zu sein, Meyer zu Schwabedissen dagegen setzte nun auf Hitler. Lange Zeit blieb es still um Jagenburg, dann meldete er sich am 5. Mai 1940 nach Kösching ab, um Scheringer auf dem Dürrnhof bei der Frühjahrsbestellung zu helfen. Am 28. Mai kehrte er bereits wieder nach Bielefeld zurück. Bald darauf forderte das Arbeitsamt den keiner geregelten Arbeit nachgehenden Jagenburg auf, im Rahmen der allgemeinen Arbeitsdienstpflicht eine allgemeine Bewerbung einzureichen. Ende Juni teilte das Arbeitsamt der Stadtverwaltung vertraulich mit, dass Jagenburg nach mehreren erfolglosen Versuchen für eine Eingliederung in den Arbeitseinsatz sich nunmehr bei der Stadt vorstellen werde. Zuvor hatte ein Arbeitsamtsmitarbeiter Verwaltungsdirektor Karl Röhrich (1884-1964) mitgeteilt, dass die Staatspolizeistelle Bielefeld der Gestapo „ein dringliches Interesse“ an einer Beschäftigung Jagenburgs habe. Dieses bestätigte die Staatspolizeistelle am 29. Juni 1940 nach einem Telefonat schriftlich gegenüber Oberbürgermeister Fritz Budde (1895-1956). Zusätzlich schaltete sich die NSDAP-Kreisleitung ein und wünschte Informationen über „irgendwelche Vorkommnisse“ um Jagenburg.

Die NSDAP ließ Jagenburg beobachten, 1940; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, C 612

Das Schreiben der Kreisleitung ist aufschlussreich: Jagenburg „ist als politisch unzuverlässig bekannt und steht unter dauernder Beobachtung der Geheimen Staatspolizei. Im Einvernehmen mit dieser wird einer Beschäftigung in der Verwaltung der Stadt Bielefeld zugestimmt. Es wird jedoch gebeten, ihm gegenüber grösste Vorsicht walten zu lassen und ihn stets unauffällig zu beobachten.“ Warum hatten Partei und Gestapo ein Interesse, einen anerkannten Regimegegner bei einer öffentlichen Stelle zu beschäftigen? Mit freiberuflichem Schaffen und Aufenthalten in Kösching hatte sich Jagenburg immer wieder der staatspolizeilichen Kontrolle entzogen, reiste im Herbst 1937 zur Weltausstellung nach Paris und im selben Jahr auch nach England zu einem „Studium der engl. Verhältnisse“, wie er es 1945 im Entnazifizierungsbogen ausdrückte. Die Frankreich-Reise 1937 ist sogar auf seiner Meldekarte vermerkt, d. h. er reiste noch mit behördlichem Wissen. Mit einer Einweisung in eine Verwaltung, dazu noch in der politisch unverdächtigen Fürsorgestelle, konnte Jagenburg neutralisiert und die Aufsicht über ihn intensiviert werden. Vielleicht hofften Staatspolizei und Partei auf unbedachte Äußerungen Jagenburgs, wollten ihm also geduldig eine Falle stellen. Bemerkenswert ist hier das aktive Interesse von NSDAP-Parteidienststellen an diesem Vorgang, der eigentlich ausschließlich Polizeiangelegenheit war. Letztlich belegt der Vorgang, wie stark die Partei alle Lebensbereiche von Staat und Verwaltung ideologisch durchdrungen hatte.

Und die Falle schnappte mit einiger Verzögerung tatsächlich zu: Am 30. Januar 1941 verhaftete ihn die Gestapo unter dem Vorwurf der „Vorbereitung zum Hochverrat“. Jagenburg war am 20. Januar nicht zur Arbeit erschienen, da er „in einer privaten Angelegenheit“ dringend nach Berlin musste, wie er seinem Vorgesetzten schriftlich mitteilte. Eine amtliche Notiz ergänzte „Angeblich in Angelegenheiten seiner Schwester.“ Am 31. Januar, dem auch genannten Tag der Verhaftung, wandte sich NSDAP-Kreisleiter Gustav Reineking an das Wohlfahrtsamt, um die Personalakte Jagenburgs zu erhalten. Budde erledigte die Angelegenheit mit Reineking am 4. Februar telefonisch. Erneut hatte die Partei in die Verfolgungsmaßnahmen gegen Jagenburg eingegriffen.

Die Hintergründe der plötzlichen Ermittlungen gegen ihn bleiben unklar, könnten aber mit seinem Berlin-Aufenthalt zusammenhängen, deren Erklärung Partei und Gestapo offensichtlich nicht ausreichten. Auch das in Münster ansässige Ehren- und Disziplinargericht der Deutschen Arbeitsfront (DAF) für den Gau Westfalen erfuhr von der Verhaftung Jagenburgs wegen „staatsfeindlichen Verhaltens“. Am 2. Juli 1941 forderte es die DAF-Kreiswaltung in Bielefeld und diese wiederum die DAF-Ortswaltung „Johannisberg“ auf, Jagenburgs Mitgliedschaft zu prüfen, jedoch war er in den Karteien nicht nachzuweisen. Letztlich war dieses nur ein Nebenschauplatz, der aber einiges über die Vernetzung und Reichweite der Parteiorganisationen andeutet, die auch den Tatvorwurf in Erfahrung gebracht hatten.

Am 7. Februar 1941 war Jagenburg aus dem städtischen Dienst entlassen worden. Von Bielefeld aus ließ ihn die Gestapo in das KZ Buchenwald deportieren, wo er am 24. April 1941 u. a. mit zwei Unterhosen und zwei Paar Strümpfen eintraf und in den Block 9 eingewiesen wurde. Seine Häftlingskleidung mit dem auf der Spitze stehenden roten Dreieck kennzeichnete ihn als politischen Häftling. Die Häftlings-Personal-Karte nannte als Inhaftierungsgrund „pol. zersetz. Äußerungen“. Eigentlicher Haftgrund war sicherlich die kommunistische Grundhaltung Jagenburgs, die er in Bielefeld möglicherweise nicht konsequent unterdrücken konnte. Spätestens bei seiner Vernehmung jedoch brach es aus ihm heraus, wie er 1945 rückschauend darstellte: Deutschland werde den Krieg gegen die Sowjetunion und USA verlieren, und er wandte sich „gegen ihre Methoden (Terror) und bezeichnete den ganzen nationalsozialistischen Staat als Treibhauspflanze.“ Allerdings waren im Februar 1941 weder Russland noch die USA Kriegsgegner, so dass Zeitebenen in Jagenburgs Erinnerungen unübersehbar verrutschen.

Vor seiner KZ-Aufnahme war Jagenburg bereits darüber informiert, nicht seinen Beruf als Intellektueller anzugeben, der ihn direkt in harte Steinbrucharbeit geführt hätte: „ich hab angegeben, ich sei Tischler“. Dennoch folgten zwei Jahre schärferer Bedingungen. Nachdem im März 1943 Ödeme festgestellt worden waren und sich Herzbeschwerden eingestellt hatten, sollte er fortan leichte Lagerarbeit verrichten, die aus Verwaltungstätigkeiten im Lager bestand. Die Akribie der Verfolger hielt sogar penibel die Gewichtsentwicklung fest von 67 kg im Mai 1941 zu 61 kg im April 1942 zu 75 kg Anfang November 1943 zu 70 kg am 14. August 1944. Jagenburg wurde der sog. K-Kompanie zugewiesen, deren Angehörige wegen vergleichsweise geringfügiger Vergehen inhaftiert waren.

Unten Erwähnung Christopher Burnleys in Jagenburgs Entnazifizierungsbogen, 1945; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,4/Büro des Oberbürgermeisters, Nr. 1946

In Buchenwald scheint er intensivere Kontakte zum englischen Mithäftling Christopher Burney (1917-1980) geknüpft zu haben, den er 1945 in seinem Entnazifizierungsbogen als Gewährsmann angibt. Burney war 1942 als Captain des englischen Nachrichtendiensts über Frankreich abgesprungen und im August 1942 durch den Sicherheitsdienst festgenommen worden. Im Januar 1944 wurde er nach Buchenwald überstellt. Am 11. April 1945 befreiten die Amerikaner das Lager, in dem etwa 56.000 der 277.800 Häftlinge zu Tode gekommen waren.

Kultur – keine Liebe auf den ersten Blick

Noch aus Buchenwald adressierte Jagenburg etwa Mitte Mai 1945 eine Bewerbung an die Stadtverwaltung Bielefeld, die er auf den 4. April vordatierte – den Tag der Befreiung Bielefelds. Sein Interesse galt einer Beschäftigung im Wohlfahrts-, Wohnungs- oder Wirtschaftsamt. Angeblich hatte ihn später auch der von den Amerikanern eingesetzte Oberbürgermeister Josef Niestroj (1903-1957) dazu aufgefordert. Es setzte nun eine mehr als ein Jahr andauernde Wartezeit ein, die von allgemeinen Zusagen, amtlicher Untätigkeit und nachhaltiger Enttäuschung geprägt war. SPD-Oberbürgermeister Artur Ladebeck (1891-1963) verzögerte das Einstellungsverfahren wiederholt, da er den als Kommunisten ausgewiesenen Jagenburg, der seit Ende Juli 1945 die „Betreuungsstelle für politisch Verfolgte“ in Bielefeld ehrenamtlich leitete, nicht in verantwortlicher Position sehen wollte. Ja, er warnte sogar beispielsweise den späteren Kulturdezernenten Dr. Klaus Herrmann (1909-1999) vor ihm. Jagenburg streckte im Januar 1946 seine Bewerbungsfühler sogar in die „Sowjetisch Besetzte Zone“ aus (SBZ).

Ende Juli 1945 übernahm Jagenburg die städtische „Betreuungsstelle“ für Verfolgte; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,2/Hauptamt, Nr. 777

Am 3. August 1946 versuchte es Jagenburg erneut, als er Stadtdirektor Dr. Eberhard Vincke (1896-1977) nach einer Unterredung direkt anschrieb. Vincke hatte ihm die Leitung des Kulturdezernats angeboten, ein Posten, der eigentlich nicht Jagenburgs Erwartungen entsprach, den er aber mit etwas Unwillen und einer Formulierung doch antrat, die in mehrfacher Hinsicht erstaunen muss:

„Andererseits ist das Kulturelle Gebiet immerhin dasjenige, auf dem wir am wenigsten Hindernisse seitens der Militärregierung zu erwarten haben, und auf dem wir am schnellsten die Achtung und Geltung der Welt wieder erreichen können. Denn wir Deutsche stehen noch immer mit an der Spitze der Kulturvölker trotz der unerfreulichen Auswüchse des nationalsozialistischen Systems.“

Weltgeltung – „wir Deutsche“ – „Spitze der Kulturvölker“ – „unerfreuliche Auswüchse“ – diese nationalistisch daherkommenden Phrasen und verharmlosend klingenden Formeln schienen kaum ein Jahr nach Kriegsende und laufender Aufklärung über die NS-Verbrechen umso irritierender, da sie von einem KZ-Überlebenden stammten. Mit welchem Recht hätte das zwölf Jahre von einer beispiellosen Kulturlosigkeit geprägte Deutschland für sich bereits wieder einen Platz an der „Spitze der Kulturvölker“ reklamieren können? Und: Welche Völker sollten noch mit an der Spitze stehen? Und vor allem: Welche nicht?

Jagenburgs Bewerbung v. 3.8.1946; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten, C 612

Deutet man Jagenburgs Formulierungen fehl, wenn man in ihnen eine seinerzeit durch nichts zu rechtfertigende Hybris erkennt, die ungebrochen nationale, vielleicht auch ethnische Über- und Unterordnungen propagierte? Waren Äußerungen dieser Art etwa repräsentativ für einen Nationalbolschewismus, der nicht nur vom Namen her nationalistisch-konservatives und bolschewistisches Ideengut vereinigte und sich programmatisch erweitert um einen strikten Antisemitismus im antikapitalistischen-sozialrevolutionären, spätestens 1934 ausgeschalteten NSDAP-Flügel um Georg Strasser (1892-1934) wiederfand? War Jagenburgs antisemitischer Artikel vom Dezember 1918 tatsächlich nur eine Jugendsünde?

Jagenburgs Schwiegersohn, der Literaturwissenschaftler Jost Hermand (1930-2021), widmete verschiedentlich Beiträge mit dem Etikett „In memoriam Paul Jagenburg Nationalbolschewist und Buchenwald-Häftling“. Abschließend einordnen lassen sich Jagenburgs Äußerungen nicht, da Kontextinformationen wie überhaupt Nachlassdokumente fehlen – 1977 fand der damalige VHS-Leiter Jörg Wollenberg vor dem Haus Hochstr. 14 im Sperrmüll Korrespondenzsplitter Jagenburgs u.a. mit Scheringer. Damit bleiben Erklärungen wie die in der Bewerbung isoliert. Veröffentlicht hatte Jagenburg zwischen 1923 und 1945 nichts, erst 1955 publizierte er im städtischen Auftrag eine Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der damaligen Stadtbücherei.

Jagenburg war ab 1945 so etwas wie das Gesicht der Bielefelder Kommunisten – er saß für sie ab Juli 1945 im „Beratenden Ausschuß“ der Stadt, ab Januar 1946 im Rat und war in Bielefeld gesuchter Ansprechpartner, als es 1946 um die Einrichtung von Provinzialräten in Nordrhein und in Westfalen ging – aus diesen sollte wiederum der am 2. Oktober 1946 zusammengetretene „Ernannte Landtag“ hervorgehen. Der Bielefelder SPD-Doyen Carl Severing (1875-1952) konnte Ende Juli 1945 signalisieren, dass sich Jagenburg dazu bereit erklärt habe, in einem Provinzialausschuss für Westfalen mitzuwirken.

Gleichzeitig äußerte sich Jagenburg, häufig in Kreisen ehemaliger Buchenwald-Häftlinge, zu allgemeinen politischen Entwicklungen. Dem KPD-Sekretär Joachim Wittschiebe in Magdeburg schrieb er am 17. März 1946: „Denn eigentliche Politik können wir ja doch auf längere Zeit nicht machen, weil wir kein souveränes Volk sind, und Erfüllungspolitik zu treiben und damit mancherlei gutzuheißen, was ich nicht billigen und für unser Volk nicht vorteilhaft ansehen kann, möchte ich vermeiden; darin liegt die Gefahr, sich die Wirkung der Zukunft zu verbauen“. Parallel sah er die Bildung einer Einheitspartei in der SBZ kritisch: „mir scheint eine Aktionseinheit aus verschiedenen Gründen richtiger. Außenpolitisch bedeutet die dortige Einheitspartei ein Festlegen auf eine äußere Macht. Darin liegt die Gefahr, dass wir in unserem gegenwärtigen Zustand völliger Ohnmacht den außenpolitischen Interessen dieser einen Macht völlig ausgeliefert sind“. Innenpolitisch oder „parteilich gesehen“ erwartete er die Bildung einer neuen SPD durch diejenigen, die eine Einheitspartei ablehnten, oder deren Zuwendung zu bürgerlichen Parteien: „Im großen und allgemeinen gesehen, besteht nunmehr die Gefahr, dass der deutsche Raum an der Elbe in zwei Teile geteilt wird, für uns kann es aber nur eine Aufgabe geben, die Einheit des deutschen Raumes zu wahren“. Jagenburg ging bald auf Distanz zur Kommunistischen Partei. Nachdem die KPD die polnische Westgrenze anerkannt hatte, trat er Ende 1946 zur SPD über.

Verfolgten-Sonderausweis Jagenburgs von 1947 (Kopie); Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 455

Zuvor hatte Jagenburg nach etlichen neuen Bewerbungen als besoldeter Stadtrat am 1. September 1946 nunmehr als Kulturdezernent den städtischen Dienst angetreten. Zugeordnet waren ihm Theater und Orchester, Heimatbücherei (heutige Landesgeschichtliche Bibliothek), Archiv, Museen, Kunsthaus, die 1920 gegründete Volkshochschule und die Stadtbücherei. Die Büchereileitung übernahm er von Paul Müller (1894-1966), der seit Mai 1945 amtierte. Er blieb bis zum 31. Dezember 1954 im Dezernentenamt, die Leitung der erst am 1. Oktober 1947 wiedereröffneten Bücherei übte er bis zum 31. Dezember 1955 aus, um auch deren 50. Jubiläum im Herbst des Jahres durchzuführen. Seine Nachfolge trat dort Dr. Hansjörg Süberkrüb (1919-2009) an. Jagenburgs Aufgabenbereich war zwischenzeitlich deutlich umfangreicher. „Anfangs war ich ja Dezernent für alle möglichen Sachen 1945/46“, hielt er wenige Wochen vor seinem Tod Ende August 1975 im Interview mit Andreas Bootz fest: 1947 das Schulamt, 1947 bis 1950 das Wirtschafts- und Ernährungsamt, 1948 bis 1950 das Ordnungsamt und das Einwohnermeldeamt sowie von 1948 bis 1955 die Berufsfeuerwehr. Überschattet wurden die beruflich intensiven Zeiten durch den Selbstmord des 19-jährigen Sohns Eckhart, dessen Leiche am 19. August 1947 mit einem Schädelbruch an den Bahngleisen aufgefunden wurde. Die Hintergründe für den Tod des Gymnasialschülers bleiben unklar.

Titelbild „Ist nichts geschehen?“, 1952; Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Sign. N 150 35 37

In Jagenburgs Amtszeit fiel die Neuentfaltung einer städtischen Kulturverwaltung nach demokratischen Prinzipien und mit Platz für Experimente, befreit von ideologischen Vorgaben und völkischem Kitsch. Dafür bot Jagenburg eher verwaltungstechnisch-bürokratische Unterstützung, weniger eigene Initiative und Impulse. Ein beredtes Zeugnis dieser Einstellung liefert der erste Absatz über die „Kulturpflege der Stadt“ im städtischen Verwaltungsbericht „Ist nichts geschehen?“ über die Jahre 1945 bis 1950: „Die Kulturpflege ist ein Gebiet echter Selbstverwaltung der Gemeinden. Kein Bundes- oder Landesgesetz verpflichtet sie, ein Stadttheater oder städtisches Orchester zu errichten und zu unterhalten.“ Das klingt nicht nach einer kulturaffinen Agilität und Kreativität, aber über die nachfolgende umfängliche Darstellung der Aktivitäten von Theater und Orchester deutet sich an, dass es der Stadt gelungen war, trotz fehlender rechtlicher Bindungen und bestehender Hindernisse, ein ambitioniertes Programm zu realisieren.

Neben Fragen der Finanzierung, von Räumlichkeiten und Mobiliar gab es auch personelle Probleme zu lösen. Noch vor Beginn von Jagenburgs Amtszeit war Dr. Hermann Schaffner (1903-1986) zum neuen Intendanten des Stadttheaters bestimmt worden. Schaffner, vormaliges SPD-Mitglied, ab 1937 dann in der NSDAP, plante 1947 die Entlassung von 19 Theatermitarbeitenden, also 60 % des Personals. Gewerkschaft und Betriebsrat protestierten bei Jagenburg gegen dieses Vorhaben, zumal von den zu Entlassenden allenfalls zwei ehemalige „Nazis“ waren, dagegen mehrere NSDAP-Mitglieder neu eingestellt werden sollten. Schaffner erhielt die Rückendeckung Jagenburgs und mehrheitlich auch des Kulturausschusses, so dass seine Entlassungspläne nahezu unverändert umgesetzt wurden.

Die stadtgeschichtliche Forschung zur Kulturentwicklung Bielefelds nach 1945 zieht eine eher kritische Bilanz seiner Amtszeit: „Jagenburg füllte den Posten als Verwaltungsangestellter aus, der vorrangig durch Protegierung oder Verlangsamung Schwerpunkte setzte.“ (Bootz). Als Kulturdezernent schien er demnach wenig innovativ gewesen zu sein und kaum Impulse gegeben zu haben – das hätte auf den ersten Blick zu seiner Grundeinstellung zum eigentlich ungeliebten Feld Kultur gepasst. Jagenburgs Nachfolger Dr. Herrmann indes urteilt deutlich freundlicher: „Jagenburgs Schwerpunkte lagen im Bereich Bibliothek, Konzert und Theater. In dieser Zeit konnte man sich Schwerpunkte jedoch kaum leisten, da es mehr darum ging, gleichmäßig zu verteilen.“ Geradezu begeistert äußerte sich Jagenburgs Sekretärin Barbara Klingenberg (1915-2006): „[…] ich habe selten einen so gütigen und vielseitig interessierten Menschen gefunden wie Jagenburg. […] Seinen KZ-Aufenthalt hat er nie erwähnt.“ Während die Konflikte zwischen Ladebeck und Jagenburg nicht offen zu Tage getreten seien, ging es im Verhältnis zu Dr. Herrmann hoch her: „Da flogen die Fetzen.“

Die 1949 in der Stadtbücherei eingeführte Freihandaufstellung fand sich auch in der „Die Brücke“ am Alten Markt; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 21-3-28

Jagenburg nahm eine „Mittlerfunktion zwischen Künstlern, kulturelle[n] Institutionen, Bevölkerung und Kommunalpolitikern“ (Bootz) wahr, hatte aber zunächst keinen rechtlichen Rahmen für die Aufgabenwahrnehmung. Dieser ergab sich vielmehr aus der Arbeitspraxis, erst ab 1952 aus „Leitsätzen zur kommunalen Kulturarbeit“ des Deutschen Städtetages. Ein innovativer Zug in Jagenburgs Arbeit war auf jeden Fall erkennbar in der, seinen persönlichen Interessen wohl noch am nächsten liegenden Stadtbücherei. Dort entfaltete er eigene Konzepte, insbesondere im Ausbau dezentraler Angebote: „Die Bücher müssen zu den Lesern gebracht werden.“ Eine erste Stadtteilbibliothek eröffnete im November 1949 in Sieker – Stieghorst und Schildesche folgten bald, die Zweigstelle in der Schule am Brodhagen bildete in seiner Amtszeit 1955 den Abschluss und überraschte mit einer modernen Freihandaufstellung.

Rückschauend bewertete Jagenburg, der seit 1972 verwitwet war, Ende August 1975 gerade die Feuerwehr als gern wahrgenommenes Arbeitsfeld, verkniff sich dabei nicht einen Seitenhieb gegen die Kultur: „Die Feuerwehr habe ich nach 1946 doch behalten, weil ich im Gegensatz zum Theater gerne Leute mit gesundem Menschenverstand haben wollte.“ Bei der Büchereileitung habe man „sehr empfindlich sein“ müssen, „weil man sehr oft auf die Empfindungen der Leute achten mußte. Man konnte die Sachen nicht bürokratisch erledigen […].“

Nach seinem Ausscheiden aus dem städtischen Dienst übernahm Jagenburg die Leitung des Auslandsinstituts „Die Brücke – British Centre“ am Alten Markt, das den deutsch-britischen Austausch fördern sollte. Erst im September 1969 schied er aus dem Vorstand aus. Dr. Herrmann wertete seine Tätigkeit dort enthusiastisch: „Jagenburg sollte von Ladebeck […] in die Ecke geschoben werden, ich machte ihn dann zum Leiter der Brücke, was er als weltaufgeschlossener Mann großartig machte.“

Anlässlich Jagenburgs 80. Geburtstag bewertete die Neue Westfälische v. 4. Juli 1969 den Jubilar milde: „Paul Jagenburg ist zeit seines Lebens ein Ästhet geblieben, und wenn er einmal mit dem Kopf durch die Wand gehen will, so tut er es auf die ganz dezente, aber doch nicht minder bestimmte Weise.“

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,4/Büro des Rates, Nr. 1946: Einführung und Verpflichtung von Ratsmitgliedern, 1948-1994, Enthält u.a.: Politischen Fragebogen des Paul Jagenburg, 1946
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,2/Hauptamt, Nr. 777: Mitteilungen und Anweisungen an die Dezernenten und Ämter, 1945-1946
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalamt, Personalakten, Nr. C 612: Personalakte Paul Jagenburg
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,1/Ordnungsamt, Nr. 1182: Gewerbekartei Bielefeld, 1920-1949 ca.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 100-1889,2: Geburtsregister Bielefeld 1889, Bd. 2, Nr. 751 (Geburt Paul Jagenburg)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 200-1924,2: Heiratsregister Bielefeld 1924, Bd. 2, Nr. 305 (Eheschließung Jagenburg/Recker)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 200-1934,2: Heiratsregister Bielefeld 1934, Bd. 2, Nr. 398 (Eheschließung Scheringer/Heisch)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 300-1947,2: Sterberegister Bielefeld 1947, Bd. 2, Nr. 1291 (Tod von Eckart Jagenburg)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 304-1975,1: Sterberegister Gadderbaum 1975, Bd. 1, Nr. 524 (Tod von Paul Jagenburg)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 18: Meldekartei Bielefeld-Mitte, 1920-1958
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 19: Meldekartei Bielefeld-Mitte, Abgänge 1958-1984
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 66: Meldekartei Bielefeld-Mitte, Abgänge 1930-1939
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,3/Amt für Wiedergutmachung, Nr. A 112: Wiedergutmachungsakte Paul Jagenburg
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 391: Konzepte der Reifezeugnisse Gymnasium, 1910-1914
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1187: Schüleralbum, 1889-1923
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 150,14/Ratsgymnasium, Nr. 1505: Gymnasial-Gesangverein Kehlkopf, 1909-1931 (1983)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 250,1/NSDAP, Nr. 19: Ehrengericht der Deutschen Arbeitsfront, Buchstabe J; Enthält u.a.: Paul Jagenburg
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 455: Sonderausweis für politisch, rassisch und religiös Verfolgte des Paul Jagenburg, 1947
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 1394: Materialsammlung zur Ausstellung „Bielefelder Kulturleben 1945-1960“ von Andreas Bootz, 1991-1993; Enthält: Ausstellungskonzept; Zeitungsausschnitt; Interviews mit Kulturschaffenden und Verantwortungsträgern 1945-1960 in Bielefeld (ehemaliger Kulturdezernent Dr. Klaus Herrmann, Barbara Klingenberg, Buchhändler Otto Fischer jun., Sänger und städtischer Musikbeauftragter Walter Fritz, ehemaliger Verkehrsdirektor Josef Fuchs, ehemaliger Kulturdezernent Paul Jagenburg, ehemaliger Oberbürgermeister Herbert Hinnendahl); Kopie einer Interviewmitschrift zwischen Thomas Grade, Ingrid Heise und Carl Aul (1979)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 28.12.1918 (Jagenburg-Artikel „Zur Aufklärung“) u. 6.1.1919 (Artikel „Zur Abwehr“)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,1/Westermann-Sammlung, Nr. 102,2
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-532-41, 21-3-28, 61-10-6

Literatur

  • Bootz, Andreas, Kultur in Bielefeld 1945-1960 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 12), Bielefeld 1993
  • Brautmeier, Jörg, Der Weg zum Landesparlament. Die Provinzialräte der Nordrhein-Provinz und Westfalen 1945/46, Geschichte im Westen 1 (1986), S. 31-52
  • Brown, Timothy S., Richard Scheringer, the KPD and the Politics of Class and Nation in Germany, 1922-1969, in: Contemporary European History 14,3 (2005), S. 317-346 
  • Hermand, Jost, Zuhause und anderswo. Erfahrungen im Kalten Krieg, Köln 2001
  • Katzenstein, Willy, „Der Freiheit Wimpel weht am Mast“. Selbstzeugnisse eines westfälischen Juden zwischen Assimilation und Emigration. Eingeleitet und kommentiert von Johannes Altenberend (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, NF Bd. 87/31. Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg), Bielefeld 2024
  • Pingel, Falk, Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager (Historische Perspektiven, Bd. 12), (Diss. Bielefeld 1976) Hamburg 1978
  • Rat der Stadt Bielefeld, Ist nichts geschehen?, Bielefeld 1952
  • Röll, Wolfgang, Sozialdemokraten im Lager Buchenwald 1937-1945 unter Einbeziehung biographischer Skizzen, Göttingen 2000
  • Scheringer, Richard, Das große Los unter Soldaten, Bauern und Rebellen, Hamburg 1959
  • Siemens, Daniel, Sturmabteilung. Die Geschichte der SA, München 2019
  • Stadtbücherei Bielefeld (Hg.), 50 Jahre Stadtbücherei Bielefeld. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Büchereien, Bielefeld 1950

Online-Ressourcen

Erstveröffentlichung: 01.10.2025

Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen: 19. Oktober 1975: Tod des früheren Kulturdezernenten Paul Jagenburg, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2025/10/01/01102025/, Bielefeld 2025

Ein Kommentar zu „19. Oktober 1975: Tod des früheren Kulturdezernenten Paul Jagenburg

  1. Eine sehr interessante Bielefelder Lebensgeschichte!

    Zwei kleine Anmerkungen: Schule in Brodhagen -> Schule am Brodhagen

    Und im letzten Absatz

    bewertete die Neue Westfälische v. 4. Juli 1969 den Jubilar, der seit 1972 verwitwet war,

    ist die zeitliche Abfolge etwas in Unordnung geraten.

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