• Dr. Jochen Rath, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
„Allgemein war die Freude im Stillen bey der Nachricht, dass Napoleon auf eine schmälige Art den Rückzug angetreten. Mit 400,000 Mann hatte er die Gränzen Russlands überschritten, aber ein geringer Überrest nur betrat den deutschen Boden wieder. Die übrigen alle hatten durch Kälte, Hunger und Seuchen auf die grausamste und bejammerungswürdigste Weise ihren Tod gefunden“, notierte die Jöllenbecker Amtschronik für das Jahr 1812. Aus Jöllenbeck selbst waren mindestens neun Soldaten im Russlandfeldzug gefallen oder an Verwundungen, Krankheiten und Entkräftung gestorben. Friedrich Wilhelm Stücker starb im Dezember 1812 als Angehöriger der Französischen Garde in Twer, nordwestlich von Moskau, vermutlich in einem Hospital fernab der Schlachtfelder, fern von der Grande Armée, die sich nach dem Rückzug aus Moskau ihrem Untergang entgegenschleppte.

Am 24. Juli 1812 hatte Stücker – in der wohl tadellosen Uniform eines Gardisten – mit einer 420 000 Mann zählenden Feldarmee die Grenze nach Russland überschritten. Einschließlich der Unterstützungs- und Nachschubeinheiten und Sicherungskontingente umfasste die Grande Armée etwa 610 000 Mann und mehr als 200 000 Pferde. Es war ein internationaler Truppenverband, der sich – nicht immer freiwillig – unter dem Kommando Napoleons versammelt hatte. Kaum die Hälfte waren Franzosen (190 000), wobei ein großer Teil von diesen wiederum aus besetzten Gebieten Italiens, der Niederlande oder des linksrheinischen und nordwestlichen Deutschlands bis in den Raum nördlich von Bielefeld stammte, also originär nicht französischer Herkunft war. Die seit 1807 mit Napoleon verbündeten Rheinbundstaaten stellten 120 000 Soldaten, darunter 27 000 aus dem Königreich Westphalen, das sein Bruder Jérôme Bonaparte (1784-1860) regierte und zu dem auch Bielefeld gehörte. Das Herzogtum Warschau stellte weitere 70 000 Mann, Österreich 30 000 und Preußen 20 000. Ziel des Feldzuges war nicht die Eroberung Russlands, sondern eine Disziplinierung des Zaren, der Napoleons Kontinentalsperre gegen England unterlaufen hatte und nun zu einem Friedensvertrag gezwungen werden sollte.

Die Jöllenbecker Amtschronik berichtete über den Auftakt der gewaltigen Strafexpedition: „Es brach der Krieg zwischen Frankreich und Russland aus, in welchem auch viele Jünglinge aus Joellenbeck unter verschiedenen Regimentern theilnehmen mussten. Im Anfange dieses Krieges machten die gegen Russland verbündeten Truppen glänzende Fortschritte, deswegen auch Dank und Siegesfeste gefeyert werden mussten.“ Tatsächlich stieß die Grande Armée trotz widriger Wetterbedingungen zügig vor, zu zügig, denn der unverzichtbare Nachschub stockte – fatal in einem dünn besiedelten Gebiet, das derartige Menschenmassen nicht ernähren konnte. Die russische Armee stellte sich nicht zur Entscheidungsschlacht, die Napoleon im Vertrauen auf einen kurzen Feldzug erhofft hatte. Sie zog sich immer weiter in das Landesinnere zurück, ohne dass ein konkreter Plan bestand, den Feind in das endlos scheinende Russland zu locken. Vielmehr zwangen die militärische und taktische Unterlegenheit zum Rückzug, wobei es kein abgestimmtes Programm der „verbrannten Erde“ gab, um den Franzosen die Versorgungsgrundlage zu entziehen. Nach nur vier Tagen besetzte die Grande Armée Wilna, am 8. Juli 1812 bereits Minsk, hatte aber vor allem durch Desertionen, Entkräftung und Krankheiten schon mehr als 135 000 Soldaten verloren, ohne dass es größere Gefechte gegeben hatte. Die erste große Bataille endete zwar mit der Besetzung von Smolensk durch die zusehends zerfallende Grande Armée, zur Entscheidungsschlacht hatten sich die Russen allerdings nicht gestellt. Auch bei Borodino trat am 7. September 1812 kein klarer Sieger hervor, denn die Franzosen hatten zwar das Feld behauptet und weniger Verluste erlitten, konnten diese aber kaum noch ausgleichen. Nur eine Woche später rückte Napoleon in Moskau ein und wartete auf Verhandlungen mit dem Zaren – zu lange: Während die Stadt durch Brände zu 75 % zerstört wurde, führten die Russen Verstärkungen heran. Am 19. Oktober 1812 begann der Rückzug der noch 100 000 Mann zählenden Armee Napoleons, deren Versuch, nach Süden durchzubrechen, von den Russen jedoch abgewiesen wurde, so dass der alte, bereits ausgemergelte Anmarschweg – beladen mit Unmengen an Beutegut und in Begleitung eines etwa 32 000 Menschen umfassenden Tross´ – erneut zu nehmen war.

Als Moskau aufgegeben wurde, konnten nicht alle Verwundeten und Entkräfteten den Rückmarsch antreten und für eine Evakuierung aller standen nicht genügend Fuhrwerke und Kutschen bereit. Aber es gab eine klare Reihenfolge für die Rettung der Verletzten: 1. Offiziere, 2. Unteroffiziere und 3. Franzosen – Friedrich Wilhelm Stücker scheint keiner dieser Gruppen unmittelbar angehört zu haben, obwohl Jöllenbeck seit 1811 faktisch zum Kaiserreich Frankreich zählte. Per Dekret hatte Napoleon nämlich am 13. Dezember 1810 eine neue Grenzziehung verfügt. Die nördlich des Johannisbachs gelegenen Teile des Distrikts Bielefeld mit Jöllenbeck und Schildesche waren vom Königreich Westphalen abgetrennt. Jöllenbeck gehörte ab sofort zum Kanton Enger im Distrikt Minden des Ober-Ems-Departements (Département de l’Ems-Supérieur), die Jöllenbecker waren damit nominell Franzosen, der kleinere Teil des Distrikts Bielefeld dagegen verblieb mit der Stadt beim Fulda-Departement des Königreichs Westphalen – basta! Die Jöllenbecker Amtschronik berichtet: „Durch ein Dekret des Kaisers Napoleon vom 13ten December 1810 wurden wir in diesem Jahre französisch, und machte der Johannisbach bey Schildesche die Grenze zwischen dem Kayserreich Frankreich und dem Königreiche Westphalen. An die Veränderung knüpfen sich grauenvolle und schmerzliche Erinnerungen. Die Gränzen bewachten, damit nichts contrabandirt [geschmuggelt] werden konnte, ein Heer von Douanen [Zöllnern], zum Theil Ausschuß der Menschheit […]. Durch diese Menschen wurden die friedlichen Eingesessenen oft barbarisch behandelt.“

Genützt hat Friedrich Wilhelm Stücker die unfreiwillig erworbene neue französische Nationalität bei der Räumung Moskaus jedoch wenig – er starb vielleicht immerhin in einem Bett oder in einem Strohlager und nicht vor Erschöpfung im Schnee, an oder in der Beresina oder unter den Kosaken-Lanzen. Möglicherweise gehörte er zu den Verwundeten der Grande Armée, die nicht aus Moskau evakuiert werden konnten, aber wegen mangelnder Versorgung in einem Akt der Menschlichkeit von den Russen anschließend aus der Stadt u. a. nach Twer verlegt wurden, das außerhalb der Kampfzone lag. Letztlich verlängerte diese Maßnahme das Leben des Friedrich Wilhelm Stücker um wenige Wochen. Woran er in Twer starb bleibt unklar, vielleicht an Typhus (zeitgenössisch: Nervenfieber), denn der russische Gouverneur Prinz Peter Friedrich Georg von Oldenburg infizierte sich im Dezember 1812 bei der Besichtigung eines Lazaretts in ebenjenem Twer an dieser tückischen Krankheit und starb noch im selben Monat – wie Stücker.
Wie es in den eilig in Klöstern eingerichteten französischen Lazaretten und Hospitälern zuging, berichtete der württembergische Leutnant Karl Kurz aus Wilna: „Alle Korridore, Säle und Zimmer dieser großen Klöster, deren eines mehrere Tausend Menschen fassen konnte, lagen voll Toter und Sterbender, die in der Hungerwut ihre toten Kameraden benagten.“ Über das Hospital im Kloster Kolotzkoi schrieb der westphälische Leutnant J. J. Wachsmuth: „In diesem Kloster jedoch erblickte ich nun erst das Übermaß des Jammers. […] Zu Haufen aufgeschichtet, lagen die nackten Leichname der Hingeschiedenen an den Eingängen des Klosters, so dass man darüber hinwegklettern oder sich seitwärts durchklemmen musste. […] In einem Stall sah ich Lebende und Tote durcheinanderliegen […]. Um irgendwo eine Schlafstätte zu finden, durchstöberten wir nun alle Gemächer, alle Ställe, aber überall stierten uns Totengesichter entgegen, streckten sich uns abgemagerte Arme entgegen, in allen Sprachen um einen Bissen Brot flehend, und aus allen Zimmern quoll uns der grässlichste Geruch entgegen. Wie viele Tausende mögen hier vor Hunger umgekommen sein, wenn ihnen auch wirklich die schauderhaften wunden, deren Heilung ihnen selbst überlassen blieb, nicht den Garaus gemacht haben!“

Der Rückzug der Grande Armée führte durch den Anfang November eingebrochenen Winter mit Temperaturen von bis zu – 37 o C, wurde begleitet von zaghaften Attacken der russischen Truppen, deren Generäle weiterhin Respekt vor dem taktischen Talent Napoleons hatten. Nur so ist es zu erklären, dass die mehrtägige Schlacht an der Beresina Ende November 1812 nicht mit der endgültigen Vernichtung der Grande Armée endete. Von 70 000 Soldaten, die die angelegten Pontonbrücken erreicht hatten, starben 30 000. Die Not förderte z. T. niedrigste Instinkte zu Tage: Raub, Vergewaltigung, Mord – Kannibalismus. Die Grande Armée war geschlagen, Napoleon hatte die Reste der Truppe Anfang Dezember 1812 verlassen, nachdem in Frankreich Putschgerüchte aufgekommen waren. Zurück blieben die Gefallenen, Erfrorenen und Verhungerten beider Seiten, schätzungsweise 1 Million Menschen. Im 29. Bulletin der Grande Armée vom 17. Dezember 1812 schob Napoleon das beispiellose Desaster vor allem den verheerenden Wetterbedingungen zu, von einer grundsätzlichen strategischen Fehlentscheidung war mit keinem Wort die Rede. Die Verlautbarung endete mit der beruhigenden Nachricht: „La santé de Sa Majesté n’a jamais été meilleure.“ – „Die Gesundheit Seiner Majestät war niemals besser“.

Nachdem Napoleon 1815 endgültig geschlagen war, gingen die vormals mit Frankreich verbündeten Staaten daran, das Kriegsschicksal ihrer im Russlandfeldzug vermissten Untertanen aufzuklären. Das hatte vor allem praktische Gründe: Erbschaften, der Wunsch der Frauen vermisster Soldaten nach erneuter Heirat und ähnliches. Im Auftrag Preußens ermittelte der hannoversche Leutnant Heinrich Meyer ab 1818 in russischen Gouvernements-, Gerichts-, Polizei- und Hospitalakten das Schicksal von etwa 6 000 Soldaten, die wieder oder erstmalig (besser gesagt: posthum) preußische Untertanen geworden waren. So rekonstruierte Leutnant Meyer auch das Los von 65 Soldaten aus dem Gebiet des damaligen Kreises Bielefeld einschließlich der Stadt. Mit Friedrich Wilhelm Stücker waren mindestens acht weitere Jöllenbecker in den schneebedeckten Weiten Russlands geblieben – Johann Friedrich Ahlfeld, Johann Peter Gehring, Caspar Heinrich Hoener, Caspar Heinrich Hollmann, Johann Heinrich Husemann, Anton Friedrich Ongsiek, Jobst Heinrich Siekmann und Johann Peter Tumann – und die Amtschronik ergänzt den Namen eines Große Wörmann: „Manche Eltern in Joellenbeck bejammerten ihre Söhne, die sie in diesem Menschenfressenden Kriege […] verloren hatten“. Die Russlandfeldzug-Teilnehmer aus dem Raum Bielefeld blieben von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, zu sehr überstrahlten die Gefallenen der anschließenden „Befreiungskriege“ bis 1815 deren tragisches Schicksal – sie waren für die falschen Ziele gefallen, waren keine Helden Preußens, waren jenseits der trauernden Familien keiner Rede und keines Erinnerns mehr wert.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,2/Ältere Akten, Nr. 117: Übergang der Verwaltung an die königlich-westphälischen Behörden, 1807-1812
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,2/Ältere Akten, Nr. 663: Rückkehr des versprengten westphälischen Militärs von Kassel in den Kanton Bielefeld, 1813
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 100,2/Ältere Akten, Nr. 738: Gedächtnistafeln für Gefallene der Befreiungskriege in den Kirchen, 1815-1816, 1837
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,4/Amt Heepen, Nr. 1189: Regulierung der neuen Grenze des Königreichs Westphalen und des kaiserlichen Frankreichs, 1779, 1811-1812
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,6/Amt Schildesche, Nr. 3: Gedächtnisfeiern für die gefallenen Krieger, 1816-1881
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,6/Amt Schildesche, Nr. 81: Neue Grenzregulierung, 1811
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,5/Handschriften, gebunden, Nr. 201: Chronik des Amtes Jöllenbeck, 1800-1972
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,8/Karten und Pläne, Nr. 34: General-Charte von dem Königreiche Westphalen […], 1812
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,11/Graphische Sammlung, Nr. 322: Jérome Napoleon, Roi de Westphalie, um 1810
Literatur
- Aus der Chronik – Jöllenbeck in den Jahren von 1806 bis 1817, in: Walter Kleine-Doepke (Hg.), Heimatbuch der evangelischen Kirchengemeinde Jöllenbeck 1953 anlässlich der 100-Jahrfeuer der Kirche, Detmold 1954, S. 66-74
- Bethan, Anika, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen, Paderborn 2012
- Faber du Faur, Christian Wilhelm de, Napoleons Feldzug in Russland 1812, Leipzig 1897
- Holzhausen, Paul, Die Deutschen in Russland 1812, Berlin 1912
- Kahmann, Uli, Die Geschichte des J. F. A. Lampe. Ein Beamtenleben im Dorf Schildesche um 1800 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 15), Bielefeld 1995
- Kleßmann, Eckart, Napoleons Rußlandfeldzug in Augenzeugenberichten, München 1972
- Kleßmann, Eckart, Die Verlorenen. Die Soldaten in Napoleons Rußlandfeldzug, Berlin 2012
- Lieven, Dominic, Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa, München 2011
- Lipka, Martin, Napoleonische Zöllner in Westfalen, in: Westfälische Zeitschrift 157 (2007), S. 141–162
- Muhlstein, Anka, Der Brand von Moskau. Napoleon in Russland, Frankfurt a. M./Leipzig 2009
- Overkott, Franz, Eine Verlustliste aus dem Rußlandfeldzug Napoleons (1812), in: 63. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg (1962/1963), S. 48–58
- ders., In Russland Vermisste aus Rheinland und Westfalen nebst angrenzenden Gebieten in Napoleons „Großer Armee“ 1812 – 1813. 3326 Namen nach amtlichen Listen (Bergische Forschungen, Bd. 5), Neustadt a. d. Aisch 1963
- Zamoyski, Adam, 1812 – Napoleons Feldzug in Russland, München 2012
Erstveröffentlichung: 01.12.2012
Hinweis zur Zitation:
Rath, Jochen, Dezember 1812: Friedrich Wilhelm Stücker aus Jöllenbeck stirbt als Soldat der geschlagenen Grande Armée Napoleons in Russland, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2012/12/01/0112012/, Bielefeld 2012