• Bernd J. Wagner, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek •
„Das ist die höchste Lust, die reinste, tiefste, die uns niemand und nichts nehmen kann, die Lust, andere glücklich und froh zu machen”, schwelgte die Westfälische Zeitung am 24. Dezember 1909 und stimmte den Klassiker unter den Weihnachtsliedern an: „O du selige, o du fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit”. Die Tageszeitung war sich der Zustimmung ihrer Leser sicher, wenn sie ausrief: „Welch eine Lust, den Kindern zuzuschauen, welch eine Lust, wenn es gelungen ist, das Richtige für seine Lieben, das ganz Unerwartete für sein Liebstes gefunden zu haben!” Diese „Lust zum Schenken, diese Freude an der Freude anderer” komme von dem „Kind, das in der Krippe liegt und den Menschen die frohe Botschaft brachte und die Menschheit auf einen neuen Weg führte, den Weg der Liebe.”

In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gab es in Bielefeld zwar keine konfessionelle Tageszeitung, mit der Westfälischen Zeitung aber eine konservative, die die Werte einer bürgerlichen, kaisertreuen Gesellschaft auf ihre Fahnen schrieb. Umso mehr mag es aus der Sicht des 21. Jahrhunderts verwundern, dass die „Weihnachtslust”, also durch Konsum das Leuchten in den Augen der Kinder zu erzeugen, vor hundert Jahren bereits als ein wesentlicher Ausdruck des „Weihnachtsernstes”, also der Geburt Jesu, des menschgewordenen Gottessohnes, genannt wurde. Konsum spielte freilich noch nicht die Rolle, die er heute einnimmt. Unbedeutend war Konsum und die ihm vorauseilende Werbung aber nicht. „Weihnachten steht vor der Tür!”, erinnerte am 25. November 1909 die Tageszeitung und sprach dem Einzelhandel ins Gewissen: „Der rührige und auf der Höhe der Zeit stehende Geschäftsmann bietet alles auf, die kurze Spanne gesteigerter Kauflust für sich nach besten Kräften auszunützen. Ein mächtiges Hilfsmittel für diese seine Bestrebungen” sei eine Anzeige, natürlich in der „weit verbreiteten und beliebten” Westfälischen Zeitung. Am Samstag vor dem 1. Advent erinnerte ein mit Engeln geschmücktes Inserat: „Weihnachten ist die Zeit, in der sich die Kauflust des Publikums bedeutend steigert, in der jeder kauft und der Geschäftsmann auf erhöhten Umsatz rechnen darf.” Waren Ökonomen traditionell davon ausgegangen, dass die Nachfrage allein durch die Kaufkraft bestimmt werde, so setzte sich seit dem späten 19. Jahrhundert die Einsicht durch, dass der Wunsch, etwas kaufen zu wollen, die Nachfrage nicht unwesentlich beeinflusst. Und Wünsche, diese Erkenntnis wurde bald zum Allgemeingut, konnten durch gezielte Werbung angeregt werden. So belehrte denn auch die Zeitung, dass „durch eine originelle und intensive Reklame die Aufmerksamkeit des Publikums” gelenkt werden könnte.

Wesentlich forscher hieß es dann in der ersten Adventwoche: „Wenn Sie von dem Geldstrom, der vor Weihnachten in Bewegung gesetzt wird, sich einen grösseren Anteil sichern wollen, so müssen Sie durch lebhafte Propaganda immer und immer wieder die Aufmerksamkeit der Käufer auf Ihr Geschäft lenken.” Dabei genüge es nicht, „dass man inseriert, sondern auf das ‚wie’ kommt es an.” So sollten Inserate nicht in vielen, sondern nur in einer Zeitung, nämlich der Westfälischen Zeitung, erscheinen. „Konzentration ist der Erfolg unserer Zeit und Zersplitterung schwächt nur.” In der Tat waren in den Bielefelder Tageszeitungen erst wenige Inserate zu finden, die damit warben, das richtige, passende „Festgeschenk” im Angebot zu haben. Das sollte sich mit dem Beginn der Adventszeit ändern.
Der Größe des Textilkaufhauses am Jahnplatz angemessen warb S. Alsberg & Co. ganzseitig: „Grosser enorm billiger Weihnachtsverkauf”. Die Kunden konnten selbst am Sonntag „bis 7 Uhr abends” Tisch-, Leib- und Bettwäsche kaufen. Eine „feenhafte Innen-Dekoration in origineller künstlerischer Ausführung” garantierte, sich von „Postboten des Weihnachtsmannes” verzaubern zu lassen. Zu einem „grossen Weihnachtsverkauf” luden auch das Emaille-Warenhaus August Schiefer am Niederwall ein, das Brotmaschinen, Wärmflaschen, Schirmständer und Kaffeemühlen unter dem Weihnachtsbaum sehen wollte, oder das Textilkaufhaus der Gebrüder Kaufmann am Leineweberbrunnen, das seinen Kunden empfahl, „die Vormittagsstunden im Interesse einer besseren Bedienung” zu nutzen. Kinder sollten sich an der „sehenswerten Innen-Dekoration” erfreuen: Gezeigt wurden Schneewittchen und die sieben Zwerge. Zahlreiche Geschäfte inserierten, besondere „Weihnachts-Ausstellungen” präsentieren zu wollen. Neben geschmückten Tannen und Kränzen, Krippenfiguren und Engeln wurden die Waren drapiert und als „besonders preiswerte Weihnachtsgeschenke” angeboten. Es bestehe aber „kein Kaufzwang”, ließ die Möbelhandlung Mertens an der Niedernstraße wissen.

„Stets willkommene Weihnachtsgeschenke” waren für Heinrich Hehner am Gehrenberg Pelzwaren. Louis Voss an der Herforder Straße oder August Hagemeier am Niederwall sprachen sich dagegen für Nähmaschinen aus Bielefelder Produktion aus, die „als vornehmes Weihnachtsgeschenk sehr geeignet” seien. Auch das Schirmgeschäft Hoppe an der Niedernstraße empfahl außer seinen Schirmen vor allem Spazierstöcke „in geschmackvoller, vornehmer Ausführung wie echt Silber”, mit Silbereinlage oder echtem Toledo Schildplatt, mit Elfenbein oder „Rhinozeros”. Die Klassiker unter den Weihnachtsgeschenken, die „aparte Krawatte” für den Herrn und „ein Paar elegante Handschuhe” für die Dame, präsentierte Christian Faudt vom Schillerplatz mit eine Putte, die in einer Hand gekonnt einen Weihnachtsbaum hielt. Die Anzeigen in den Tageszeitungen, die in der Adventszeit nicht selten mehrmals mit gleichen oder wechselnden Angeboten erschienen, vertrauten oft nur auf den reinen Text. Viele waren aber mit Weihnachtsmännern und Engeln, Tannengrün und Kerzen versehen auch für den flüchtigen Leser schnell erkennbar. Um die Anzeigen preiswert drucken zu können, hielten die Zeitungen verschiedene geschützte Klischees bereit.

Während die großen Geschäfte mit besonderen weihnachtlichen Dekorationen die Kinderherzen höher schlagen ließen, luden die Spielwarengeschäfte den Nachwuchs ein, endlich das zu sehen, wovon man bisher nur träumen durfte. Weil kein Geldbeutel alle Kinderwünsche erfüllen konnte, beruhigte die Annonce des Fachgeschäftes von Max Langendorf, dass die „Besichtigung ohne Kaufzwang gestattet” sei. Heinrich Ludewig, der sein Geschäft an der Rathausstraße führte, gab in seinem Inserat Kaufempfehlungen bekannt: „Ich empfehle für Knaben”, so war zu lesen, außer Ingenieur-Baukästen und Eisenbahnen auf Schienen unter anderem auch Festungen, Soldaten, Helme, Säbel und Gewehre. Das ging der sozialdemokratischen „Volkswacht” zu weit. Eltern, „die der modernen Arbeiterbewegung angehören”, sollten „nie etwas kaufen, was die Kinderseelen auf falsche Bahnen lenken könnte. Dazu rechnen wir die Miniaturmordwerkzeuge, wenn es auch nur Spielsachen sind. Das Kriegspielen hat noch nie uns Großen etwas eingebracht, wieviel weniger den Kleinen. Pflanzen wir nichts in die Kinderseelen hinein, was uns später gereuen könnte.”

Aber was sollten Eltern schenken? „Ein gutes Buch vor allem sollte kein Kinderherz mehr vermissen”, belehrte die Volkswacht und schränkte sogleich ein, dass es aber heutzutage „mit einem Buche bei den Kindern allein nicht” mehr getan sei. Wenn die finanziellen Mittel reichten, sollte „Nützlicheres, Praktischeres” geschenkt werden. Was das genau sei, ließ die Volkswacht offen, betonte aber mit erhobenem pädagogischen Zeigefinger: „Auch in den Spielen können wir unsere Jugend auf Wege bringen, die sie beizeiten erkennen läßt die heutigen unwürdigen wirtschaftlichen und politischen Zustände.” Carl Schreck, der 1909 Jugendobmann der Bielefelder SPD war, ging noch einen Schritt weiter. Es sei die „Pflicht der proletarischen Eltern, nicht im uferlosen Wünschen und Hoffen aufzugehen, sondern nach bestimmten Richtlinien die sprudelnde Jugend zu leiten und zu unterstützen […] Sagt euren Kindern, dass sie als proletarische Jugend sich auch mit dieser gemeinsam betätigen solle. Nicht die Eigenbrödelei, nicht das Fernhalten vom Ringen unserer Zeit gibt Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit, sondern führt zur Einlullung und damit zur Trägheit. Sprecht an den Feiertagen von den Bestrebungen der Arbeiterbewegung und veranlasst eure Töchter und Söhne, dass sie sich an den Zusammenkünften der arbeitenden Jugend beteiligen […] Das Proletariat ist es sich selbst schuldig, die Feiertage zu benutzen, um auch der Jugendbewegung neue Anhänger zuzuführen. Dann werden schneller herannahen: Fröhliche Weihnachten!”

Weihnachten und politische Agitation! Wie passt das zusammen? 1909 gehörte die Agitation zur alltäglichen Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokraten und Konservativen. Und Weihnachten gönnte man sich keine Auszeit. Fast schon ein wenig trotzig begann die Volkswacht am 24. Dezember einen Leitartikel mit dem Ausruf „Auch wir feiern Weihnachten!” und prangerte an, dass viele Menschen, die sich Christen nennen, sich nicht danach verhielten. „Wir stehen im täglichen Kampf mit einer Art dieser Christen”, verkündete die Zeitung und überraschte seine Leserschaft mit dem Bekenntnis, „die wahren Vertreter des Christentums zu sein. Seine Lehre deckt sich mit unseren Lehren. Unser Programm ist das seine modernisiert. Und deshalb feiern auch wir Weihnachten.”

Weihnachten zwischen Konsum und Klassenkampf – sind 1909 in den Tageszeitungen keine besinnlichen Nachrichten zu finden? In der Westfälischen Zeitung zeigten 19 Paare an, sich Weihnachten verloben zu wollen. Das „Fest der Liebe” wurde traditionell von jungen Paaren genutzt, den ersten, von der Gesellschaft erwarteten Schritt zu gehen, wenn man heiraten und eine Familie gründen wollte. Und auch die Altstädter Gemeinde konnte sich auf besinnliche Stunden freuen. Der Aufbau der neuen Orgel war so weit vorangeschritten, dass „von den 44 klingenden Stimmen 9 Stimmen am Weihnachtsfeste” gespielt werden konnten. Obwohl das Klangvolumen noch erheblich eingeschränkt war, erfreute die Intonation „doch schon durch ihren gesunden Wohlklang.”

Was viele Menschen bis heute mit Weihnachten verbinden und doch nicht jedes Jahr erleben können, darüber berichtete die Westfälische Zeitung rückblickend am 27. Dezember. „Bei uns Norddeutschen ruft das Wort Weihnachten nun einmal die Vorstellung von frostklarem lustigem Flockengeriesel oder von frostklaren Wintertagen mit lachendem Wintersonnenschein hervor, der die Jugend hinauslockt auf die weite glitzernde Eisfläche, um dort auf flüchtigem Stahlschuh mit Windeseile dahinzugleiten und die Kräfte zu stählen. Nichts von alledem hat uns diesmal das Weihnachtsfest beschert; seine Signatur lässt sich in ein einziges Wort zusammenfassen, und dieses Wort heißt ‚Regen’. Davon haben wir freilich übergenug abbekommen.” Und wenig besinnlich endete der Artikel: „Im allgemeinen dürfte man diesmal den Feiertagen keine bitteren Tränen nachweinen und wird die Hoffnung auf das Neujahrfest setzen, das uns ja diesmal auch zwei Festtage bringt.” Und nicht zu vergessen: die Vorfreude auf Weihnachen 1910.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen:Westfälische Zeitung, Volkswacht
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,6/Ansichts- und Postkartensammlung
Erstveröffentlichung: 01.12.2009
Hinweis zur Zitation:
Wagner, Bernd J., 24. Dezember 1909: Weihnachten zwischen Konsum, Orgelklang und Klassenkampf, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek,
https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2009/12/01/01122009/, Bielefeld 2009