19. September 1950: Der Bielefelder Jugendkulturring nimmt seine Arbeit auf

• Jan-Willem Waterböhr, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld •

„Welche Rolle hat Kultur in Krisenzeiten?“, ist selbst einige Jahre nach der Corona-Pandemie eine weiterhin viel diskutierte und offene Frage. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand sie immer wieder im Zentrum der öffentlichen Debatte – mit dem heutigen Blick, verhandelt im Kontext von Demokratieerziehung, Partizipation und Integration sowie im richtigen Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe. Die damalige Diskussion drehte sich jedoch eher um die Fragen nach der Rolle der kommunalen Steuer- und Finanzpolitik, welche Kultur überhaupt vermittelt werden sollte und wie man möglichst viele Bevölkerungsgruppen erreicht.

Stadttheater Bielefeld am Niederwall, 18. Januar 1956. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1526-092 – NW/Wehmeyer

Die Gründung des Jugendkulturrings im Jahr 1950 war eine von vielen möglichen Antworten. Er sollte nicht nur auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit reagieren, sondern vor allem junge Menschen für die städtischen Kulturangebote begeistern – in erster Linie für das Stadttheater. Getragen von lokalen Jugendverbänden, wirkte der bereits bestehende Jugendring als Träger des Jugendkulturrings und baute weitere Brücken zwischen Jugend- und „Hochkultur“. Dass die Zusammenarbeit zwischen Politik, Kultur und organisierter Jugendarbeit nicht frei von Konflikten verlief, muss heute selbst als Lernprozess der noch jungen Demokratie verstanden werden.

Vorbereitung und Gründung des Jugendkulturrings Bielefeld

Ein klares Gründungsdatum des Jugendkulturrings, der die Kultur- und Jugendkulturlandschaft in Bielefeld maßgeblich mitgestalten sollte, ist nicht auszumachen. Am 16. Juni 1950 verkündete Ratsherr Hermann Biegel (1897-1967, FDP) im Kulturausschuss der Stadt Bielefeld, dass der Jugendkulturring gegründet worden sei. Dem vorausgegangen waren mehrere Monate intensive Diskussionen unter den einzelnen Vertreter*innen der Jugendverbände im „Jugendring“ sowie zwischen Jugendamt, dem Jugendpfleger der Stadt Bielefeld Ernst Peinecke (1905-1999), dem Kulturdezernat und der Kommunalpolitik in Bielefeld. Der Ausschluss des kommunistischen Freien Deutschen Jugend (F.D.J.) und die damit verbundenen „Spaltung“ des Jugendrings lähmten zunächst den neugegründeten Jugendkulturring. Erst am 19. September des Jahres trat er als eigenständiges und selbstverwaltetes Gremium mit seiner eigentlichen Arbeit an die Öffentlichkeit. Um die angedeuteten Herausforderungen zu verstehen, muss jedoch früher angesetzt werden.

Nachkriegszeit und „Traditionskultur“ in Bielefeld

Als markanten Wendepunkt für die Bielefelder Kultureinrichtungen in der Nachkriegszeit benennt Andreas Bootz die Währungsreform von 1948. Bis dahin sei das meist klassische Angebot des Stadttheaters und der Oetkerhalle, die im Krieg nicht zerstört worden waren, von den Bielefelder*innen gut angenommen worden. Gezeigt wurden überwiegend klassische Stücke, die in Teilen vom NS-Regime verboten worden waren. Sie waren explizit unpolitisch und dienten zur Überdeckung der hässlichen Wirklichkeit, urteilt Bootz. Der Kulturausschuss habe sich zur Pflege der bestehenden, städtischen Kultur berufen gefühlt und zur kulturellen Erziehung der Stadtbevölkerung. Private Theater, Orchester, das aufstrebende Kino und andere Einrichtungen seien als teils künstlerisch weniger wertvolle Konkurrenz verstanden worden.

Die Einführung der D-Mark verbrannte nicht nur Teile des öffentlichen, sondern auch des privaten Kapitals – der Konsum von Luxusgütern ging stark zurück, zu denen auch Kulturveranstaltungen gehörten. Die Nachfrage an Eintrittskarten des Stadttheaters brachen um 30% ein, der städtische Zuschuss verdoppelte sich auf mehr als 700.000 DM. In den Jahren vor dem „Wirtschaftswunder“ war ein solcher Etat, der 60% der städtischen Ausgaben für Kultur ausmachte, politisch kaum zu rechtfertigen.

Gleichzeitig war die Lebenssituation von vielen Bielefelder Jugendlichen in den „Trümmerjahren“ prekär: Unsichere und unzureichende Wohn- und Beschäftigungsverhältnisse, zerrüttete Familienstrukturen, Flucht- und Vertreibungserfahrungen. Viele mussten kurzfristig Versorgerrollen übernehmen, die auch kriminelle Handlungen voraus- oder fortsetzten. Parallel befanden sich Sozialisationsinstanzen wie Schulen, Kirchen, Vereine, Parteien, Jugendfürsorge usw. noch im Aufbau oder boten noch keine flächendeckende Versorgung. Da die Stadtpolitik zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss auf die Freizeitgestaltung der jungen Menschen hatte, entstand die Überlegung mit dem Jugendkulturring den Charakter der Jugendlichen positiv zu beeinflussen.

Andreas Bootz und Reinhard Vogelsang weisen jedoch darauf hin, dass die Initiative des Ratsmitglieds Helmut Biegel (FDP) und die Unterstützung des Oberbürgermeisters Artur Ladebeck (1891-1963, SPD) auch fiskalische Gründe hatte. Indem der Jugendkulturring Jugendliche als neues Publikum gewann und zugleich eine Querfinanzierung der Eintrittskarten über das Jugendamt ermöglichte, konnte der Kulturhaushalt des Stadttheaters politisch entlastet werden. Schon früh kritisierten die „Blätter“ des Jugendkulturrings – die eigens herausgegebene, monatliche Zeitschrift – darüber hinaus die Vorstellung, Theaterbesuche könnten den Charakter Jugendlicher formen, und machten auf den Widerspruch zwischen ihrer sozialen Realität und dem Ideal „gutbürgerlicher Werte“ aufmerksam.

Kommune und Jugendverbände: Vorarbeiten und erste Schritte des Jugendkulturrings

Mit ähnlichen, humoristischen und kommentierenden Darstellungen versuchten die „Blätter“ des Jugendkulturrings seit Oktober 1950 die Jugendlichen für Kultur zu begeistern. Aus: Blätter des Jugendkulturrings, Oktober 1950/1, S. 22

Die Ideen zum Jugendkulturring entstanden bei Helmut Biegel, Oberbürgermeister Artur Ladebeck und dem Jugendring Bielefeld. Letzterer hatte sich 1947 aus Vertreter*innen der Jugendverbände in Bielefeld gebildet, als Folge des Verbots bzw. der Gleichschaltung der meisten Jugendgruppen im Nationalsozialismus. Stadtseitig wurde ihnen der hauptamtliche Jugendpfleger zur Seite gestellt.

Aus dem Jugendring heraus wurde ein eigener Ausschuss („Jugend-Kulturausschuß“) aus sechs Vertreter*innen und dem Jugendpfleger gewählt, der über Satzung, Programmangebot und weitere Fragen bestimmte. Das so aufgestellte Kulturangebot wurde als Abonnement für Jugendliche („Jugendkulturring“) mit einem Monatsbeitrag von zunächst 50 Pfennig realisiert. Die Mitglieder erhielten bis zu zwei Eintrittskarten pro Monat sowie zum 15. jeden Monats die eigene Zeitschrift („Blätter“). Die Pläne standen schon am 1. März 1950 fest. Die Stadt Bielefeld verpflichtete sich jährlich 40.000 DM im Haushalt bereit zu stellen, die die Preisdifferenz der Eintrittskarten für die Kultureinrichtungen gegenfinanzieren sollten. Es entstand ein Gremium aus kommunaler und ziviler Selbstverwaltung, die eigenständig und zunehmend autonom über die von der Stadtpolitik bereitgestellten Mittel verfügten und das Kulturprogramm in der Stadt zusammen weiterentwickelten.

In den Vorarbeiten des Jugend-Kulturausschusses zum Jugendkulturring ergaben sich zwei zentrale Herausforderungen: Wie konnte eine fruchtbare Zusammenarbeit aller Beteiligten mit der Zielsetzung von 2.000 Mitgliedern zum Start erreicht werden und wie sollte man mit der F.D.J. in Bielefeld umgehen?

Der Jugendkulturring wandte sich zunächst nicht an die breite Öffentlichkeit, sondern überließ den Jugendverbänden des Jugendrings den Kartenverkauf und die Mitgliederwerbung. Am 15. März waren auf diese Weise nur 336 Karten angefragt worden. In der Folgesitzung des Jugendkultur-Ausschusses am 30. März merkten sowohl die Evangelische Jugend wie auch die Gewerkschaftsjugend an, dass sie ihre Aufgaben in der Kulturbildung wahrnähmen, die Heranführung der Jugendlichen an Theater- und Musikveranstaltungen jedoch nicht zu leisten sei. Gleichzeitig betonte die Gewerkschaftsjugend die eigene Verbundenheit mit der Volksbühne. Ebenso trugen die Jugendverbände die Skepsis der Jugendlichen gegenüber der Programmgestaltung weiter. Bis Anfang Mai konnte die Anzahl lediglich verdoppelt werden – das Ziel von 2.000 Karten wurde deutlich verfehlt. Helmut Biegel und andere wandten sich daraufhin an das Jugendamt: „Hier nun, im Jugendkulturring, wird erstmalig eine praktische Arbeit von den Jugendorganisationen gefordert, und da kommt das Versagen!“. Wenige Tage später wurde festgehalten, dass die Schulen und Berufsschulen 300 und die Falken 150 weitere Karten angefragt hätten – damit käme man nun insgesamt auf einen Umfang von 1165 Karten, die mit Abonnenten gleichzusetzen seien. Zudem wurde beschlossen, vorerst mit dem reduzierten Ziel weiterzuarbeiten und das Angebot nicht aufzugeben. Gleichzeitig wurde am 20. Juni 1950 eine abendliche Werbeveranstaltung angeboten: Szenen aus der Dreigroschenoper, Der Hauptmann von Köpenick, Hamlet und Pygmalion sollten den Jugendlichen das Abonnement schmackhaft machen. Die Veranstaltung mit 1.500 Besucher*innen galt als voller Erfolg.

Ausschluss der F.D.J. aus dem Jugendring

Die Brisanz und Auswirkungen des zweiten Problems zeigten sich am 30. September 1950: Der Stadtkämmerer Johannes Carlmeyer (1896-1977) teilte mit, dass „die im Haushaltsplan 1950 vorgesehenen Mittel in Höhe von 40.000 DM bis auf weiteres gesperrt werden und zwar so lange, bis die Gewähr gegeben ist, daß die Beiträge nicht in die Hände der F.D.J. und ihrer Tarnorganisationen fließen“. Was war also in Bielefeld passiert und inwiefern betraf der Streit um den Ausschluss der F.D.J. den Jugendkulturring?

Bevor die F.D.J. 1954 bundesweit verboten wurde, musste auf kommunaler Ebene ein Umgang mit der kommunistischen Jugendorganisation gefunden werden, die auch im Jugendring vertreten war. Die Situation eskalierte am 13. September 1950, als der Jugendring den Antrag der Gewerkschaftsjugend als konkurrierende, politische Jugendorganisation beriet und abstimmte: Mit 9:10 Stimmen wurde der Ausschluss der F.D.J. aus dem Jugendring abgelehnt. Daraufhin traten etwa die Hälfte der Jugendorganisationen aus dem Jugendring aus – angeführt von den überwiegend politischen Gruppen der Gewerkschaftsjugend, den Falken und den Naturfreundejugend. Die Freie Presse kommentierte am 14. September 1950 die kuriose Situation süffisant:

 „Während diese christlichen Jugendgruppen in der Ostzone längst verboten oder wie zur Nazizeit auf den Raum der Kirchenarbeit beschränkt wurden, beschließen hiesige christliche Jugendvertretereine Arbeitsgemeinschaft mit der kommunistischen Jugend und trennen sich bewusst von der politischen demokratischen Jugendbewegung in unserer Stadt. Damit dürfte sich auch für die Tätigkeit des Jugendkulturrings eine völlig neue Situation ergeben.

Den Jugendkulturring betraf die Situation insofern, als der bereits gewählte Jugend-Kulturausschuss den Jugendring vertrat – damit standen Verhältnis und Repräsentation in Frage.

Schon am Tag nach der Austrittswelle beratschlagte der Jugend-Kulturausschuss, wie die Arbeit fortgesetzt werden und die institutionelle Anbindung erhalten bleiben könnte. In der Aussprache des sieben-köpfigen Gremiums erklärte der Vertreter der Gewerkschaftsjugend, man werde sofort Fühlung mit den gestern ausgetretenen Verbänden aufnehmen und mit diesen eine Arbeitsgemeinschaft bilden. Es bestand Uneinigkeit, ob der Jugend-Kulturausschuss noch arbeitsfähig oder neu zu besetzen sei. Nach weiteren Aussprachen entschied der Ausschuss, sich unter die Zuständigkeit des Jugendamts zu stellen, bis die neue Situation im Jugendring geklärt sei. Somit konnte das Kulturangebot für die Mitglieder des Jugendkulturring-Abonnement wie geplant im September starten. Die Freie Presse berichtete am 20. September von 28 geplanten, zumeist geschlossenen Vorstellungen für die etwa 2.500 Mitglieder auf den städtischen Bühnen. Was zunächst als Unterstützung des Etats für das Stadttheater über die Jugendpflege geplant sei, könne sich zur Werbung für das Theater unter Jugendlichen und ein eigenes Kulturbedürfnis entwickeln. Es handle sich nicht um eine weitere Besucherorganisation, sondern um eine neue Form der Mitarbeit und Mitbestimmung durch die Mitglieder.

Erst am 10. Oktober 1950 kamen die Vertreter*innen der Bielefelder Jugendverbände wieder zusammen und konstituierten sich als Jugendring neu, aus dem die F.D.J. ausgeschlossen wurde. In der Folge konnte die vom Stadtkämmerer Carlmeyer angedrohte Streichung der von der Politik bereitgestellten 40.000 DM abgewendet werden.

Herausforderungen und Erfolge nach den ersten Veranstaltungen

Theater am Alten Markt, 1955; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 011-0045-045

Neben diesen organisatorischen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen stellten sich in der Praxis weitere. Ein Vermerk des Bielefelder Kulturdezernats vom 23. September 1950 hält fest, dass für die ersten Veranstaltungen des Jugendkulturrings 2.500 Mitglieder angemeldet waren – ein großer Erfolg der Organisator*innen, den nur wenige erwartet hatten. In den beiden vorgesehenen Aufführungen des Theaterstücks „Barbier von Sevilla“ von Rossini im Stadttheater und „Ich bin siebzehn“ von Paul Verndenberghe im Theater am Alten Markt („Die Brücke“) könnten jedoch nur bis zu 1.800 Teilnehmer*innen untergebracht werden. Als pragmatische Lösung wurde vereinbart, dass Jugendliche freie Plätze bei weiteren Aufführungen zu den gleichen Konditionen nutzen konnten.

Weitere Herausforderungen zeigen sich in einem Rundschreiben des Jugendamts vom 2. Oktober 1950:

Die erste Veranstaltung des Jugend-Kulturrings hat mit schönem Erfolg stattgefunden. Es war vorauszusehen, daß gewisse kleine Schönheitsfehler eintreten würden. So ist nicht nur eine Anzahl von Plätzen unbesetzt geblieben, sondern es musste leider festgestellt werden, daß trotz mehrfacher Hinweise ältere Besucher, z.T. geradezu ganze Familien erschienen waren. Daher wird nochmals ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß die Karten der Mitglieder des Jugend-Kulturringes nur auf ebenfalls jugendliche Besucher übertragen werden können.

Dass auch das Angebot der Künstler*innen nicht immer geeignet war, zeigen zwei Beispiele: Erstens, ein Hinweis des Kulturdezernats vom 30. Oktober 1950:

Am vergangenen Freitag (27.10.1950) hatte der Musikverein Jugendliche aufgefordert, gegen ein geringes Entgelt der Voraufführung der ‚Schöpfung‘ von Haydn beizuwohnen. Mehrere hundert Jugendliche, vorwiegend Schüler und Schülerinnen, waren diesem Rufe gefolgt und erschienen feierlich angezogen in freudiger Erwartung diesem Werk von Haydn zu lauschen. Was ihnen geboten wurde, waren nur Bruchstücke. Die Solisten waren überhaupt nicht erschienen. Die Chöre mussten verschiedentlich unterbrochen werden. Eine derartige Darbietung an Jugendliche schädigt das Bestreben, diese zu solchen geschlossenen, nur für Jugendliche bestimmte Aufführungen heranzuziehen.

Zweitens, das Rundschreiben des Jugendkulturrings an die Jugendorganisationen vom 19. Dezember 1950:

Immer wieder sind Eintrittskarten an Kinder, vor allem Schülerinnen, abgegeben worden, die noch nicht das 15. Lebensjahr erreicht haben. […] Es liegt in starkem Maße bei den Gruppenleitern, daß sich der von ihnen betreute Besucherkreis so benimmt, wie es im Theater und in Konzerten selbstverständlich ist. […] Besonders bei zwei Veranstaltungen: ‚Don Carlos‘ 5.12., und ‚Vor Sonnenuntergang‘ am 10.12.50, haben die Albernheiten einiger offensichtlich allzu unreifer Besucher nicht nur die übrigen Theaterbesucher, sondern ebenso sehr die Arbeit der Schauspieler empfindlich gestört.

Der Jugendkulturring erwartete demnach auch von den Jugendorganisationen nicht nur die Heranführung an die Inhalte der Theaterstücke, sondern eine Einführung in die Verhaltensregen erwachsenenorientierter Kultureinrichtungen. Die Vorwürfe der Kulturschaffenden, dass die Jugendlichen sich in den Theatern und bei den Konzerten nicht angemessen verhielten, blieb ein ungelöstes Problem – es kam in den nächsten Jahren mehrfach zu Störungen während der Aufführungen.
Nach diesen und anderen Startschwierigkeiten etablierte sich jedoch bis zur Mitte des nächsten Jahres die Arbeit des Jugendkulturrings. Viele Fragen zur Programmgestaltung und zur Zeitschrift lassen sich in den Protokollen nachvollziehen. Auch die Frage der Kartenkontingente für die Jugendverbände blieb ein immer wieder diskutiertes Thema:

Zunächst wurden uns [Gewerkschaftsjugend] nur 60 Karten zugebilligt. […] Nach wiederholten Vorstellungen im Ausschuß und der Geschäftsleitung, die beim Jugendamt Bielefeld liegt, konnten wir unseren Kartenanteil von 60 auf zunächst 200 und ab Dezember 1950 auf 300 steigern. […] In der Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Dezember 1951 erhielt die Abt. Gewerkschaftsjugend insgesamt 3.514 Karten für 23 Veranstaltungen, die sich verteilten: 4 Opern, 1 Operette, 5 Schauspiele, 1 Fröhlicher Abend, 4 Kunstvorträge, 2 Tanzabende, 2 Chorkonzerte, 2 Kunstausstellungen, 2 Filmveranstaltungen, 1 Kinderchorkonzert, 3 Sonstige Veranstaltungen (wie Puppenspiele u. ähnliches).

Kontroversen um die „Blätter“

Ab Oktober 1950 erschien eine Zeitschrift für alle Mitglieder – die „Blätter“ des Jugendkulturrings, jeweils zum 15. des Monats. Sie informierte über die Arbeit des Jugendkulturrings und das für die Mitglieder zugängliche Kultur- und Theaterprogramm. Gleichsam enthielten die „Blätter“ zunächst Gedichte, Auszüge aus Literatur, Rezensionen und Diskussionsbeiträge zu kulturellen Themen:

Der Jugend-Kulturring will mit Hilfe der von der Stadt Bielefeld zur Verfügung gestellten Mittel junge Menschen mit dem künstlerischen und geistigen Leben unserer Zeit in eine möglichst lebendige Berührung bringen. […] Unsere Zeitschrift soll dazu dienen, junge Menschen einen Begriff zu geben von den wesentlichen und maßgeblichen Kräften, die heute von der Kunst und überhaupt vom Geiste her das Bild unserer Welt bestimmen.

Begannen die „Blätter“ in den 1950er noch recht „klassisch“, entwickelten sie sich vom Schaukasten etablierter Lokalkulturangeboten zum Sprachrohr der Jugendkultur – sie wurden auch zunehmend politischer. Karikaturen, Comics, Film- und Konzertberichte sowie kulturelle Kommentare des Zeitgeschehens – vieles wurde ab den 1960er möglich. Kontroversen um die „Blätter“ blieben dabei nicht aus.

Karikatur, die Militarismus, Nationalsozialismus und der Verwendung der Geschichte nach 1945 kritisch kommentiert – „gegen die Verführer von gestern“. Die Darstellung löste heftige Debatten in den Bielefelder Öffentlichkeit aus. Aus: Blätter des Bielefelder Jugendkulturrings, Juni 1959/105, S. 1

Einige Konflikte wie die Auseinandersetzung um das Erbe des Nationalsozialismus bewegten die Öffentlichkeit und führten zu mehrfachen Debatten, die von der Forschung bereits aufgearbeitet wurden – beispielsweise um die Darstellung eines Generals als Hahn. Neben Expert*innen bildeten sich auch Perspektive bzw. Alltagserfahrungen der Jugendlichen ab. Im Heft 129 (Juni, 1961) auf Seite 244 berichtete die Rubrik „Die kleine Randbemerkung“ von einer Situation in der Carl-Severing- Berufsschule für Mädchen, dass eine Lehrerin im Unterricht die TV-Sendung „Das Dritte Reich“ als Verleumdung kritisiert habe, die verboten werden solle, da sie der Jugend die Achtung vor dem Vaterland nähme. Die Redaktion erreichten umgehend gegensätzliche Beschwerden, dass die Lehrerin nicht im Staatsdienst bleiben könne bis hin zu Vorwürfen der ungeprüften Falschbehauptung. Der Vorgang und die Frage nach dem Beschäftigungsverhältnis wurden bis zum Regierungspräsidenten weiterverhandelt – die beschuldigte Lehrerin verlor ihre Anstellung nicht. Das Westfalen Blatt schrieb dazu kommentierend am 17. Februar 1962:

Die Redaktion der Blätter wäre sicher gut beraten, wenn sie nicht bis zur Klärung wartet, sondern schon in der nächsten Ausgabe mitteilt, daß die Lehrerin weder Mitglied der NSDAP gewesen ist noch vor 1945 einen Hehl aus ihrer ablehnenden Haltung zum Dritten Reich gemacht hat.

Am selben Tag nahm die Redaktion mit ihren Vorsitzenden des Jugendkulturrings in der Freien Presse wie folgt Stellung zu den Vorwürfen gegenüber den Blättern:

In den ‚Blättern‘ wurde weder ein Name genannt, noch die Lehrerin als ‚Nationalsozialistin‘ bezeichnet, noch ‚nazistischer Gesinnung‘ bezichtigt. […] Der Jugendring hat also keineswegs ‚ungeprüfte und leichtfertige Beschuldigungen‘ ausgesprochen. Er hat vielmehr von seinem Recht Gebrauch gemacht, das jedem in der Demokratie zusteht, und ist darüber hinaus seiner Verpflichtung nachgekommen, mit dem Kreis der jungen Leute, die sowohl die Schulen besuchen als auch den angeschlossenen Jugendverbänden angehören, diese Angelegenheit zu diskutieren.

Eine Richtigstellung wurde in der Ausgabe 131/132 (August/September, 1962) gedruckt.

Bis 1990, als die „Blätter“ eingestellt wurden und nur noch die Programmhefte über die Angebote des Jugendkulturrings informierten, spiegeln sich jedoch zahlreiche Aspekte der Bielefelder und unterregionalen Jugendkultur wider: Von Einsichten in Halbstarken-, Hippie-, Punk- und anderen Subkulturen bis zur Teilnahme an Diskussionen um Militarismus, Wiederbewaffnung, NATO-Doppelbeschluss und weiterer weltpolitischer Ereignisse – die Blätter boten den Jugendlichen ein Medium, sich kulturell, künstlerisch und gesellschaftlich auszudrücken.

Jugendkulturpolitik und Demokratieentwicklung

Andreas Bootz urteilt, dass es 1945 keinen kulturpolitischen Nullpunkt gegeben hat. Dennoch ist in dem „Veranstaltungsring der Hitler-Jugend Bann 158 Bielefeld“, der ebenfalls Abo-Angebot für ausgewählte Kulturangebote für HJ-Mitglieder bereitstellte, keine Kontinuität zu sehen: Die Nationalsozialisten betonten in gewohnter Weise die Bildung der Volksgemeinschaft:

Erst aus der Kenntnis und dem Verständnis der großen Kulturwerke und Schöpfungen unseres Volkes wird die Jugend in der Lage sein, aus sich heraus Wertvolles, Neues zu gestalten, das auch für spätere Generationen Bestand haben wird.

Bühne und Zuschauerraum im Theater am Alten Markt, 1950. Theater am Alten Markt, 1955; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 011-0045-083

Mit dem vornehmlich traditionellen Angebot des frühen Jugendkulturrings seit 1950 knüpfte man bewusst an das Kulturverständnis und die Hochkultur vor 1933 an. Das kulturpolitische Personal in den kommunalen Leitungsgremien wurde zumeist ausgetauscht, die Kulturpolitik konzentrierte sich überwiegend auf den Erhalt der Kulturinstitutionen, insbesondere des Stadttheaters, führt Bootz weiter aus.

In diesem Kontext startete der Jugendkulturring als Organisation für die Zuführung der Jugendlichen an die Theater der Stadt Bielefeld. Das „klassische“ Verständnis von Jugendpflege und Kultur wurde einerseits von den Jugendlichen angenommen, andererseits führten sie immer wieder zu Konflikten, die sich vornehmlich direkt in Störungen der Vorstellungen äußerten. Erst allmählich passte sich das angebotene Programm an die Interessen und Bedürfnisse des jungen Publikums an – gezielt wurden Aufführungen für Jugendliche konzipiert. Mit Jazz- und Beatmusik sowie zunehmend zeitgenössischeren Inszenierungen öffnete sich das Kulturangebot und mit ihr die Stadt weiter.

Szene aus „Rossini in Neapel“ im Stadttheater Bielefeld, 1955 – die komische Oper war Teil des Jugendkulturring-Programmangebots im Dezember 1955. Fotograf: H. Budde; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 74-001-047

Die politische Doppelstrategie, die Jugendlichen an die bestehende Kultur heranzuführen und vornehmlich den Zuschussetat des Stadttheaters zu entlasten, wurde mit nur wenig Kritik, breit akzeptiert. Schlussendlich ebbten die politischen Diskussionen ab, als schon ab 1951 die kommunalen Steuereinnahmen aufgrund des einsetzenden „Wirtschaftswunders“ stetig stiegen und die Finanzierung der städtischen Kulturinstitutionen sicherten. Der Jugendkulturring blieb weiterhin bestehen und entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem von vielen Sprachrohren der Jugendkulturen, wie Bernd Lorenz, Vorsitzender des Jugendkulturrings e.V., 1990 reflektiert:

Am Beispiel der ‚Blätter‘ zeigt sich die immerwährende Herausforderung der Jugend zwischen Anpassung und Partizipation innerhalb unserer Gesellschaft. Sich orientieren zu können, mündig zu werden und eigenständiges Handeln zu entwickeln, bleibt wesentliches Element in der Jugendarbeit.

Der Auflösung 2008 nach 58 Jahren folgte der Versuch einer Wiederbelebung durch den Bielefelder Kulturverein e.V. 2009. Man wollte alle Generationen ansprechen, da es zuvor Kritik an der Mitgliederorganisation gegeben hatte, da die meisten Abonnent*innen über 21 Jahre alt waren. 2020 löste sich auch der Kulturverein auf: Es konnte kein neuer Vorstand gefunden werden – die Coronapandemie habe darauf keinen Einfluss gehabt, kommentierte der Verein selbst. Die Gründung des Jugendkulturrings ist damit auch ein historisches Lehrstück der kommunalen Demokratiegeschichte: Nicht nur die Bereitstellung fiskalischer Mittel in politischen Gremien und deren Vermittlung über die Verwaltung, sondern auch die Zusammenarbeit, Partizipation ziviler Gruppen und Verbände sowie die Selbstverwaltung gemischter Gremien bestimmten über Gründung, Gestaltung und Fortbestand gesellschaftsgestaltender Kulturarbeit und -vermittlung. Es waren nicht nur die Bereitstellung der 40.000 DM im Kulturausschuss, sondern die Aushandlungsprozesse und die Handlungsfähigkeit nach dem Ausschluss des F.D.J. aus dem Jugendring sowie die stetige Einigung über das Kulturprogramm, die die Arbeit des Jugendkulturrings ermöglichten. Das beschreibt auch Helmut Biegel (FDP) in der ersten Ausgabe der Blätter (Oktober 1950):

Zwei Aufgaben sind also gesetzt: einmal die Belebung der kulturellen Arbeit, zum anderen das Hinführen zur Selbstverwaltung. […] Bielefeld ist eine der ersten Städte, die mit einem so namhaften Geldbetrag die Kulturarbeit der Jugend zu fördern versucht. Erstmalig wird auch die volle Verantwortung in die Hände der Jugend gelegt. Das verpflichtet jeden, der im Jugend-Kulturring mitarbeitet, aufbauende, positive Kritik zu üben.

Diese Arbeitskultur der Akteur*innen, die 1950 – fünf Jahre nach dem Ende des NS-Regimes – nicht als selbstverständlich angenommen werden kann, muss auch als Grundlage für die Eigendynamik des Jugendkulturring-Programmangebots bis in die 2000er Jahre angesehen werden.

Quellen

• Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,2/Oberstadtdirektor, Nr. 151
• Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,1/Kulturdezernat, Nr. 179
• Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 107,1/Kulturdezernat, Nr. 245
• Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,2/Jugendamt Stadt, Nr. 593
• Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 270,5/Deutscher Gewerkschaftsbund, Nr. 140
• Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,7/Kleine Erwerbungen, Nr. 545
• Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen,
• Nr. 13: Freie Presse vom 14., 20. und 26. September 1950
• Nr. 32: Neue Westfälische vom 6. Juni 2008, 10. Juni 2020
• Nr. 54: Westfalen Blatt vom 21. März 2007, 21. Januar 2009

Literatur

• Bielefelder Jugendring (Hrsg.), Jugendkulturen und Jugendliche Lebensstile, Bielefeld 1990
• Blätter des Jugendkulturrings, Bd. I: Oktober 1950 – Mai 1952
• Blätter des Jugendkulturrings, Bd. II: Juni 1952 – Dezember 1953
• Bootz, Andreas, Kultur in Bielefeld 1945-1960 (Bielefelder Beiträge zur Stadt und Regionalgeschichte 12), Bielefeld 1993
• Bootz, Andreas, Bielefelder Kulturpolitik 1945-1960. Kontinuität vs. Neubeginn, in: Beaugrand, Andreas (Hrsg.), Stadtbuch Bielefeld 1214-2014, Bielefeld 2013, S. 666-671
• Reinecke, Ernst, Collagen, Holzminden 1998
• Statistisches Amt der Stadt Bielefeld (Hrsg.), Verwaltungsbericht der Stadt Bielefeld 1945-1950.
• Vogelsang, Reinhard, Geschichte der Stadt Bielefeld. Band III: Von der Novemberrevolution 1918 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005

Online-Ressourcen
• Leitbild: Bielefelder Jugendring.de. [Zugriff: 21. August 2025]
• Wir über Uns: Bielefelder Jugendring.de. [Zugriff 21. August 2025]

Erstveröffentlichung: 01.09.2025

Hinweis zur Zitation:
Waterböhr, Jan-Willem, September 1950: Der Bielefelder Jugendkulturring nimmt seine Arbeit auf, https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2025/09/01/01092025/, Bielefeld 2025

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