12. Oktober 1904: Einweihung des Alten Rathauses

Vanessa Charlotte Heitland M.A., Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

„Hochgeehrte Festgäste, liebe Mitbürger! So ist nun der Tag gekommen, auf den unsere Bürgerschaft gehofft und gewartet, der Tag, an dem unser schönes neues Rathaus in seinem ganzen Umfange seiner Bestimmung übergeben und feierlich eingeweiht werden kann.“

Mit diesen Worten eröffnete Oberbürgermeister Gerhard Bunnemann seine Festrede zur Einweihung des Rathaus-Neubaus am Neumarkt am 12. Oktober 1904.

Bereits am Abend des Vortags war zum Auftakt der Feierlichkeiten in das Schützenhaus auf dem Johannisberg zu einem Festkonzert des Städtischen Orchesters geladen worden, bevor, wie in der Bielefelder Volks-Zeitung notiert, um „Punkt 10 Uhr […] ein wunderschönes Feuerwerk […] abgebrannt“ wurde, „ein Feuerwerk von einer Schönheit und Großartigkeit […], wie wir es wohl in Bielefeld noch nicht gesehen haben“, schrieb man in der Neuen Westfälischen Volkszeitung gar euphorisch. Dazu erstrahlte das Rathaus „in prachtvoller bengalischer Beleuchtung“, wie ebenfalls in der Bielefelder Volks-Zeitung zu lesen war.

Das Gebäude selbst wurde am Nachmittag des 12. Oktober unter großem Publikumsandrang auf dem Neumarkt und in Anwesenheit zahlreicher Ehrengäste im Sitzungssaal des neuen Rathauses mit einem großen Festakt, Reden, Gesang und einem anschließenden Festessen im Ratskeller feierlich geweiht. „Die Stadt der Leinwand und der Nähmaschinen prangte im bunten Festgewände. Trotz der unangenehmen Witterung überall Festtagsstimmung, der Bedeutung dieses Tages für die Stadt Bielefeld angemessen! […] Eine zwar uralte, aber immerhin bescheidene Mittelstadt war das Bielefeld von 1870 mit seinen 22.000 Einwohnern. Dafür mochte der alte Kasten am Altmarkt genügen; das Bielefeld von heute aber mit seinem unzweifelhaften Großstadtgepräge, das Zentrum der Industrie und des ganzen gewerblichen Lebens für den Regierungsbezirk Minden und weit darüber hinaus, […] verlangte seit Jahren nach einem Prunkbau, und den hat es jetzt endlich erlangt in seinem Stadtparlamente“, äußerte sich die Bielefelder Volks-Zeitung überschwänglich in ihrer Ausgabe vom 13. Oktober 1904.

Aus den pathetischen Ausführungen in der Tagespresse (mit Ausnahme der sozialdemokratischen Volkswacht, die im Gegensatz zu den bürgerlich-konservativen Blättern der Eröffnung nur mehr eine als nüchterne Randnotiz zu bezeichnende Meldung in der Rubrik „Aus der Stadt und Nachbarschaft“ der Ausgabe vom 14. Oktober 1904 widmete, die mit kritischen Untertönen durchsetzt war) und den ebenso andächtigen, wenn auch in deutlich gemäßigterem Ton gesprochenen Worten der Honoratioren lässt sich deutlich herauslesen, als welch wichtiges Ereignis und Symbol – städtebaulich wie gesellschaftlich – man den Rathaus-Neubau zum Zeitpunkt seiner Entstehung betrachtete und welches Selbstverständnis man damit verknüpfte.

Die Entwicklung Bielefelds im 19. Jahrhundert und die Notwendigkeit eines Rathaus-Neubaus

Wie viele andere Städte erlebte Bielefeld in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung einen enormen Bevölkerungszuwachs. Innerhalb der relativ kurzen Zeitspanne zwischen 1850 und der Wende zum 20. Jahrhundert versechsfachte sich die Zahl der Einwohner von rund 10.000 auf über 60.000. Dieser rasante Anstieg der Einwohnerzahlen wirkte sich in vielerlei Hinsicht auf die bauliche Entwicklung der Stadt aus, nicht nur, was das Schaffen neuen Wohnraums und zusätzlicher Bildungseinrichtungen betraf, sondern auch in Hinblick auf den mit dem Wachstum der Bevölkerung und dem Wandel in der Gesellschaftsstruktur einhergehenden Anstieg der Verwaltungsaufgaben.

Um Letzteren gerecht zu werden, musste auch die Anzahl der Stadtverordneten deutlich erhöht werden, diese wiederum brauchten Platz, um ihren Aufgaben angemessen nachgehen zu können.

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Das Rathaus am Alten Markt, um 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-0044-001

Das Rathaus am Alten Markt, das nach seiner Errichtung 1821 zunächst neben der kommunalen Verwaltung auch noch dem Stadt- und Landgericht Platz geboten hatte, war um die Mitte des Jahrhunderts schlichtweg zu klein geworden, sodass eine Vielzahl an zusätzlichen Räumen in fünf über das gesamte Stadtgebiet verteilten Gebäuden angemietet werden mussten. „Dieser Zustand war unhaltbar“, wie die Westfälische Zeitung in ihrer Ausgabe vom 16. Juni 1902 anlässlich der Grundsteinlegung des neuen Rathauses urteilte, „er verwirrte die Bürgerschaft, die nicht genau wußte, wo dieses und jenes Amt zu suchen sei, und machte vor allem eine einheitliche Leitung der gesamten Magistratsgeschäfte unmöglich“. Um dieses Problem zu lösen, kam langfristig gesehen nur ein Neubau in Frage.

Die Notwendigkeit eines größeren Verwaltungsgebäudes fiel zusammen mit dem gleichzeitigen Wunsch aus der Bevölkerung nach einem eigenen Stadttheater als Ausdruck kulturellen Bewusstseins, für das die Pläne nach anfänglichen Verzögerungen Ende des Jahrhunderts konkreter geworden waren. Für den Theaterbau war zunächst ein Entwurf des aus Hannover stammenden Architekten Johann Holekamp auf dem Grundstück der ehemaligen Gasanstalt an der Herforder Straße vorgesehen gewesen und auch das ehemalige Krönigsche Grundstück an der Ulmenstraße/Ecke Marktstraße hatte zur Disposition gestanden. Im Kontext der Planungen für einen Rathaus-Neubau und mit der Verlegung des städtischen Krankenhauses an die Oelmühlenstraße und des dadurch freiwerdenden, großzügigen Baugrundstücks am damaligen Neumarkt Ecke Viktoriastraße im November 1899 eröffnete sich jedoch die Möglichkeit zur Realisierung eines Bauensembles Rathaus-Theater, noch dazu in nicht allzu großer Entfernung zum bisherigen Rathaus-Bau und in verkehrsgünstiger Lage.

Die Stadt erwarb daraufhin auch die südlich des Krankenhausgrundstücks liegenden Grundstücke Neumarkt Nr. 2 sowie Brunnenstraße Nr. 1 und 3, und bereits erste Entwürfe für die Bebauung des Areals zeigen die Idee der baulichen Verbindung von Rathaus und Stadttheater.

Um die Frage zu klären, ob ein solches Ensemble aus Rathaus und Theater den Kriterien „der Schönheit, Zweckmäßigkeit und Ökonomie“ (Zit. n. Der Rathausneubau der Stadt Bielefeld, Bielefeld 1904, S. VII) entsprach, wurde eigens ein Gutachten bei dem in Wien ansässigen Architekten und Stadtplaner Camillo Sitte (1843-1903) in Auftrag gegeben, der mit der Veröffentlichung seiner im Jahr 1889 erstmals erschienenen Schrift Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, die noch heute als theoretisches Grundlagenwerk der Stadtplanung gilt, und den darin vorgebrachten Gedanken den Städtebau um 1900 maßgeblich beeinflusste. 

In seinem Gutachten äußerte sich Camillo Sitte wie folgt zu den Bielefelder Plänen: „Vom Standpunkte schöner monumentaler Wirkung unterliegt es nicht dem geringsten Zweifel, dass der höchste Erfolg nur durch Gruppenbildung erzielt werden kann, wenn sowohl mehrere Monumentalgebäude als auch mehrere größere und kleinere Plätze zu einem organisch wohlgeformten Ganzen vereinigt werden.[…] Als weitere wesentliche Vorteile bei Vereinigung von Theater und Rathaus müssen aber angegeben werden, daß sich dabei wie von selbst ein geschlossener, von der Straße getrennt liegender und somit staub- und lärmfreier Restaurationsgarten ergibt, für Theater und Rathauskeller, […]“. Abschließend nannte er als weiteren Vorteil zudem die reduzierten Baukosten, da durch die Verbindung zu einer Gebäudegruppe nur die Hauptansichtsseite (in diesem Fall des Theaters) eines aufwendigen architektonisch-plastischen Dekorationsprogramms bedurfte.

Auf Grundlage dieses Gutachtens beschloss der Magistrat in seiner Sitzung vom 19. November 1900 und daraufhin am 12. Dezember 1900 auch die Stadtverordneten-Versammlung, nach detaillierten Ausführungen zum geplanten Bau von Stadtbaurat Ernst Ritscher (1863-1924) und trotz der seinerzeit angespannten finanziellen Lage der Stadt, einstimmig den Bau von Rathaus und Stadttheater als zusammenhängendem baulichen Ensemble auf dem Grundstück zwischen Viktoria- und Brunnenstraße. Die Sitzung fand unter großem Interesse der Bevölkerung statt, die den Beschluss mit Beifall aufnahm.

Planungs- und Bauprozess

In einem ersten Entwurf samt Schaubild vom Januar 1901, der ähnlich auch der Stadtverordneten-Versammlung zur Abstimmung vorgelegen hatte, schloss sich das Theater noch nordwestlich zurückversetzt an den Rathausbau zur Viktoriastraße hin an.

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Rathaus-Neubau Bielefeld, Schaubild, Erster Vorentwurf, Januar 1901; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-04-092

Dieser Lösung wurde kurz darauf im März 1901 eine Variante gegenübergestellt, die vorsah, den Theaterbau südöstlich auf der anderen Seite des Rathauses anzugliedern und dessen Eingangsfassade unmittelbar nach vorne an den Neumarkt heranzurücken.

Eine dritte Lösung griff die Verteilung der Gebäude auf dem Grundstück weitestgehend auf, sah jedoch noch einige Veränderungen in der äußeren Gestaltung sowie bei der Lage der Geschäftsräume im hinteren Gebäudeteil vor. Sämtliche Pläne wurden erneut Camillo Sitte vorgelegt, der sich in der Magistratssitzung vom 21. Februar 1901 für eine Umsetzung der dritten Lösung aussprach. Die Stadtverordnetenversammlung stimmte am 27. März 1901 den vorgelegten Plänen ebenfalls zu und beauftragte Stadtbaurat Ritscher, dem man die gesamte Bauausführung übertragen hatte, mit den weiteren Vorbereitungen. Auf eine Ausschreibung des Rathaus-Neubaus im Rahmen eines öffentlichen Wettbewerbes wurde bewusst verzichtet und die Aufgabe beim eigenen Stadtbauamt angesiedelt. Zwar war der vollständige Verzicht auf einen Wettbewerb zur damaligen Zeit eher unüblich, mit der vollständigen Übertragung der Bauaufgabe an das Stadtbauamt war das Bielefelder Rathaus-Projekt allerdings kein Einzelfall. Zunehmend kam im 19. Jahrhundert den Stadtbauräten im Rahmen der Planungen und der Ausführung solcher Projekte eine besondere Rolle zu und um 1900 entstanden dann auch eine Reihe großer Rathaus-Bauten, wie etwa in Braunschweig, Altona, Remscheid und Wittenberge, vollständig – vom ersten Entwurf bis zur Umsetzung – unter Federführung der jeweiligen Stadtbauämter.

Die Gesamtleitung über den Theaterbau oblag ebenfalls Stadtbaurat Ritscher, allerdings wurde hier ein Wettbewerb mit beschränkter Konkurrenz ausgelobt, an dessen Ende der renommierte Berliner Architekt Bernhard Sehring (1855-1941), der u.a. bereits das Theater des Westens errichtet hatte, zum ausführenden Baumeister bestimmt wurde. 

Am 6. Dezember 1901 genehmigte der Bauausschuss die Kostenvoranschläge für den Rathausbau von 721.000 Mark und den Bau des Stadttheaters von 500.000 Mark. Die endgültigen Pläne für beide Gebäude, ausgeführt von Baurat Ritscher nach der künstlerischen Ausarbeitung von Architekt Max Fritsche für das Rathaus sowie von Baumeister Sehring für das Stadttheater, wurden in der Stadtverordnetenversammlung vom 11. Dezember 1901 beschlossen, nachdem sie zuvor zur Einsichtnahme ausgestellt worden waren. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Pläne und ein eigens angefertigtes Modell, dessen Besichtigung zunächst nur für die städtischen Gremien angedacht gewesen waren, auf Betreiben von Stadtbaurat Ritscher auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Um die geplanten Neubauten auch denjenigen Bürgern vorzustellen, die keine Gelegenheit zur Besichtigung des Modells hatten, wurde der lokalen Presse darüber hinaus eine Zeichnung zur Verfügung gestellt, die in allen Bielefelder Zeitungen abgedruckt wurde. So etwa in der Volkswacht, die das Vorgehen des Stadtbaurates in dieser Sache entsprechend würdigte.

Offensichtlich war Baurat Ritscher sehr daran gelegen, auch in der breiten Bielefelder Bevölkerung, in der die Kritik an den Plänen der Zusammenlegung beider Bauten deutlich hörbar war, Zustimmung für sein Projekt zu erwirken. 

Überhaupt war man insgesamt von Seiten der Stadtoberen sehr darauf bedacht, die positiven Aspekte des Rathaus-Neubaus, wie etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen, herauszustellen und sich nicht dem Vorwurf der Verschwendungssucht auszusetzen. Noch in den Reden zur Rathaus-Weihe klingt dies an, wenn etwa Oberbürgermeister Bunnemann ausdrücklich erwähnt, dass man das neue Rathaus nicht „zum Prunken und Prahlen“ geschaffen habe, „sondern als eine Stätte strenger Arbeit und treuer Pflichterfüllung, an der alle Stände, alle Kreise der Bürgerschaft teilnehmen sollen“. Auch wenn sich das Bielefelder Stadtoberhaupt trotz der gemachten Aussagen selbstverständlich nicht gänzlich frei von jeglichem Wunsch nach einem Repräsentationsbau machen konnte, so muss festgestellt werden, dass sich die Baukosten für das Bielefelder Rathaus im Vergleich mit zeitgleich entstehenden Projekten in einem überschaubaren Rahmen bewegten.

Während in anderen Städten oftmals Millionensummen für die neuen Rathäuser veranschlagt wurden, verordnete man den ausführenden Akteuren in Bielefeld aufgrund der – insbesondere durch den Bau einer neuen Kanalanlage – arg angespannten Haushaltslage der Stadt Sparsamkeit. Zur Finanzierung des Baus nahm man eine Anleihe in Höhe von 750.000 Mark auf, welche die veranschlagten Kosten von 721.000 Mark für den Bau sowie 29.000 Mark für die Inneneinrichtung abdecken sollte. Eine verhältnismäßig niedrige Summe an Baumitteln, die für ein solch ambitioniertes Projekt wie den Rathaus-Neubau durchaus eine Herausforderung darstellte (s.u.).

Nachdem der Abbruch der noch auf dem Grundstück befindlichen Gebäude abgeschlossen worden war, konnte im Frühjahr 1902 schließlich mit dem Bau sowohl des Rathauses als auch des Stadttheaters begonnen werden.

Am Nachmittag des 14. Juni 1902 wurde in Anwesenheit des Oberpräsidenten von Westfalen Eberhard von der Recke (1847-1911), des Regierungspräsidenten Arthur Schreiber (1849-1921), des Regierungsrates Dr. Georg Hinzpeter (1827-1907) und zahlreicher weiterer Ehrengästen aus Stadtverwaltung und -gesellschaft sowie einer Vielzahl an Schaulustigen der Grundstein zum Rathausbau gelegt.

An der Stelle, an welcher der Grundstein gelegt werden sollte, war eine hölzerne und mit Tannengirlanden und Fahnen geschmückte Zeltkonstruktion errichtet worden, unter und vor der sich die Würdenträger der Stadt versammelt hatten. Die Bürgerschaft säumte die Baustelle zu allen Seiten und verfolgte von dort das Geschehen.

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Feier zur Grundsteinlegung am 14. Juni 1902; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1525-047

„Mit frohen Hoffnungen und mit den besten Wünschen gehen wir an unser Werk, möge es glücklich ohne Unfall für alle Mitwirkenden gelingen; möge ein Haus erwachsen nicht nur nach seinen baulichen Formen in schönem Verhältnis und Ebenmaß, möge es auch stets ausgezeichnet sein durch das einhellige gemeinsinnige Schaffen aller Bürger, welche zur Verwaltung und Vertretung der Stadt darin ein- und ausgehen“. Den salbungsvollen Worten von Oberbürgermeister Bunnemann schloss sich die Rede von Stadtbaurat Ritscher an, in der er noch einmal die äußere und innere Gestaltung des zu errichtenden Baus skizzierte und mit den Wünschen schloss, „dass trotz bescheidener Baumittel dieser Rathausbau mit seinem großen Platz davor, seinem lauschigen Innenhofe, seinem behaglichen Ratskeller, seinen Sälen, Hallen und Gängen, insbesondere in seiner festlichen Verbindung mit dem baldigst hierneben entstehenden Theater eine wirklich künstlerisch monumentale Baugruppe bildet, deren Anblick das Auge erfreut, in deren Räumen manch segensreiche Arbeit geleistet, und manch frohe Stunde verlebt wird“. Daraufhin begann die eigentliche Grundsteinlegung mit der Verlesung der Urkunde, der Versenkung der mit den entsprechenden Dokumenten und Münzen gefüllten Büchse sowie den obligaten drei Hammerschlägen, die jeweils von den Honoratioren ausgeführt und mit Sinnsprüchen begleitet wurden.

Anders als zum Anlass der Grundsteinlegung gewünscht, verliefen die folgenden knapp zweieinhalb Jahre Bauzeit jedoch nicht ohne Komplikationen.

Bereits in den Jahren zuvor war es innerhalb des Bauamtes immer wieder zu Differenzen gekommen. Die Gerüchte rund um herrschende amtsinterne Missstände sowie Zerwürfnisse zwischen einzelnen Beamten – insbesondere die Streitigkeiten zwischen Ingenieur Hugo Beinhauer (geb. 1860) und Stadtbaurat Ernst Ritscher, die schließlich in einem Prozess gipfelten und erst nach drei Jahren in einem Vergleich und unter Ausschluss der Öffentlichkeit beigelegt wurden – sind in der Lokalpresse ausführlich diskutiert worden. Hierauf soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, wohl aber können, aufgrund der Berichte, die Verhältnisse in der Bauverwaltung zum damaligen Zeitpunkt als schwierig bezeichnet werden.

Dass sich diese Zustände und die allgemeine Missstimmung auch unmittelbar auf den Rathaus-Neubau auswirkten, zeigt eine weitere ernsthafte Auseinandersetzung innerhalb des Bauamtes, die in den Jahren 1903 und 1904 die Gemüter bewegte und mehrfach Gegenstand der Stadtverordnetenversammlung war: dieses Mal betraf die Streitsache den Architekten Max Fritsche, der seit November 1900 für die künstlerische Ausgestaltung des Rathaus-Entwurfs maßgeblich verantwortlich gezeichnet hatte, und wiederum Stadtbaurat Ernst Ritscher. Letzterer wurde von Fritsche beschuldigt, „wissentlich unkorrekte amtliche Handlungen begangen“ zu haben, wie diverse Zeitungen Ende Juli 1903 berichten. Am Ende wurde jedoch Max Fritsche, der zu diesem Zeitpunkt bereits in Bremen tätig war, in einem Prozess, der am 23. März, sowie am 8. und 9. Juni 1904 vor dem Bielefelder Landgericht geführt wurde, wegen Beleidigung des Baurats Ritscher zu einer Geldstrafe von 50 Mark verurteilt, des Weiteren musste er die Kosten des Verfahrens tragen. Inwieweit die Beschuldigungen und die Aussagen auch anderer Mitarbeiter der Bauverwaltung über das Verhalten des Stadtbaurats der Wahrheit entsprachen, kann hier nicht beurteilt werden. Festzustellen ist jedoch, dass es durch die anhaltenden Querelen zu deutlichen Verzögerungen beim Bau des Rathauses kam.

Nachdem das nebenstehende Theater bereits am 3. April 1904 mit einer Vorstellung von Schillers „Jungfrau von Orléans“ eingeweiht wurde, konnte die Stadtverwaltung erst im August 1904 vollständig die Räume des neuen Rathauses beziehen, bevor das Gebäude nach letzten Restarbeiten im Oktober 1904 offiziell eingeweiht und auch für das Publikum geöffnet wurde.

 

Baubeschreibung und kunsthistorische Einordnung

„Durch den Bau des Theaters und des Rathauses, dessen Einweihung wir heute festlich begehen wollen, ist der Übergang gefunden von den rein notwendigen Aufgaben zu jenen Werken, die auf eine künstlerische Durchdringung unseres Lebens und Wirkens hinzielen.“, formulierte Stadtbaurat Ritscher in seiner Ansprache anlässlich der Rathaus-Weihe. Dass diese „künstlerische Durchdringung“ den seinerzeit geltenden städtebaulichen und architektonischen Standards entsprechen sollte, zeigt bereits die Anforderung des o.g. Gutachtens hinsichtlich der Lage des Baus bei einem seinerzeit führenden Kopf auf dem Gebiet der Architektur und Stadtplanung wie Camillo Sitte. Der Rathaus-Neubau stellte für die Bielefelder Stadtoberen ein Prestigeprojekt dar. Man war bestrebt, einen Bau zu errichten, der zwar seinen Zweck als Verwaltungssitz und Funktionsbau mit sämtlichen räumlichen und technischen Anforderungen erfüllen, aber ebenso sehr auch dem Wunsch nach einem Repräsentationsbau nachkommen sollte, der durch eine kunstvolle Ausgestaltung dem Selbstverständnis Bielefelds als aufstrebende Industriestadt gerecht wurde und über die Stadtgrenzen hinaus ausstrahlte.

Der Versuch diese zwei divergierenden Aspekte miteinander zu vereinen, bestimmte die Entwicklung des Rathausbaus in den Städten des Kaiserreiches am Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich. Es war die Zeit staatlicher Konsolidierung und wirtschaftlicher Blüte innerhalb des Deutschen Reiches, das Bürgertum erlangte erheblichen Wohlstand und damit auch ein neues Selbstbewusstsein. Letzteres entwickelte sich auch in den vom industriellen Wachstum der vergangenen Jahre geprägten Groß- und Mittelstädten und mit ihm das Bedürfnis, diesem Anspruch architektonisch Ausdruck zu verleihen.  

Im Zeitraum zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des 2. Weltkriegs wurden auf dem Gebiet des Deutschen Reiches über 200 Rathaus-Neubauten realisiert. Der Bielefelder Neubau fiel in die Zeit der größten Bautätigkeit in den Jahren zwischen 1890 und 1912, in dieser Zeit entstanden auch die Rathäuser in Hamburg, Leipzig, Aachen, Kassel, Dresden und Hannover, um nur einige bedeutende zu nennen, ebenso wie der Erweiterungsbau des Rathauses in München. Nicht selten waren die Projekte eng mit dem Namen eines Oberbürgermeisters verbunden, der mit einem solchen ehrgeizigen und bedeutsamen Bauprojekt seine Amtszeit krönen wollte. War das Rathaus doch neben seiner infrastrukturellen Bedeutung gleichermaßen ein Denkmal der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung und damit eine Bauaufgabe von höchstem Rang. Für die Stadt Bielefeld, und damit auch Oberbürgermeister Gerhard Bunnemann, besaß der Rathaus-Neubau zudem beträchtlichen Symbolwert, bedeutete er doch die lang ersehnte Zusammenführung aller Verwaltungsaufgaben und städtischen Funktionen unter einem Dach: „Der größte Gewinn für die städtische Verwaltung ist der, daß nunmehr nach langjähriger Trennung alle Geschäftszweige im neuen Hause vereinigt sind.“, so Oberbürgermeister Bunnemann in seiner Rede zur Rathausweihe.

Was die Anlage des Baus auf dem Grundstück betraf, gab es keine konkreten Vorgaben. Wohl aber dominierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rathausbau zwei verschiedene Bautypen: der sogenannte axialsymmetrische Typ, der auf eine Hauptansichtsseite ausgerichtet war und bei dem sich ein breiter Baukörper gleichförmig um einen Mittelturm herumlagerte, und der sogenannte malerische Typ, bestehend aus mehreren verschieden proportionierten Bauteilen, die, entsprechend angepasst an die jeweiligen Grundstücksverhältnisse, zu einem Gruppenbau komponiert wurden.

Das Bielefelder Rathaus folgt in seiner Architektur Letzterem und weist die für diesen Bautypus charakteristischen Grundelemente wie die hohen, stark abfallenden Dächer, den großen Saalgiebel, reich verzierte Fassaden, Balkone, Erker, einen Portalvorbau mit vorgelagerter Treppe sowie einen asymmetrisch aufgesetzten Turm auf. Die Wahl des Bautypus ergab sich einerseits aus der Grundstückssituation, andererseits aber offenbar auch aus dem Wunsch, durch die Vereinigung verschiedener Baukörper und -elemente ein vielgestaltiges und individuelles Gebäude zu schaffen, das sich in seiner Form zugleich an historisch „gewachsene“ Rathausbauten alter Städte anlehnte.

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Rathaus, Hauptansicht zum Neumarkt, Foto: Ernst Lohöfener, Bielefeld, 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-04-143

Auch im Architekturstil orientierte man sich an dem, was sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „deutsches Rathausbild“ herausgebildet hatte und das vor allem auf „lokalen Stilprägungen“, d.h. auf die Formen der nordalpinen, primär deutschen Architektur der Spätgotik und der Renaissance, Bezug nahm. Nach der Gründung des Kaiserreiches besann man sich nicht nur auf bedeutende historische Ereignisse des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit zurück, sondern auch auf die Architektur jener „ruhmreichen“ Epoche der deutschen Geschichte, die man auch optisch in der Gestaltung der Städte wiederaufleben lassen wollte – ohne dabei hingegen auf zeitgemäße Annehmlichkeiten zu verzichten. So wies Baurat Ritscher in seiner Rede zur Grundsteinlegung ausdrücklich darauf hin, dass „das Gebäude […] einerseits in neuzeitlicher Weise allen Anforderungen entsprechen und alle Bequemlichkeiten bieten“ sollte, „andererseits in seiner künstlerischen Erscheinung anklingen an die behagliche mittelalterliche Formenpracht der hiesigen Gegend“. Und Oberbürgermeister Bunnemann stellte in seiner Festansprache zur Rathausweihe die Verbindung zur glanzvollen Vergangenheit her, auf die man sich mit der Ausführung des Neubaus „in den Formen der deutschen Renaissance“, mit denen „der Bau an die besten Leistungen unserer Vorfahren zur Blütezeit des Bürgertums und der Kunst“ erinnerte, ausdrücklich bezog.

Auch die Wahl des Baumaterials, eines Sandsteins, der zu Teilen aus den Steinbrüchen in Medard im heutigen Rheinland-Pfalz sowie aus dem Pelzerschen Steinbruch in der Nähe der Hünenburg stammte, ist vor diesem Hintergrund und dem Wunsch nach Anbindung an eine lokale Bautradition zu sehen. Ebenso wurde auf die Behandlung des Materials selbst und die Betonung handwerklicher Leistungen besonderer Wert gelegt, weshalb an der Fassade, parallel so z. B. auch am Rathaus in Wetter (Ruhr) zu beobachten, grob behauene Steinquader mit geglätteten variieren.

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Rathaus, Westliche Hofseite, Foto: Ernst Lohöfener, Bielefeld, 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-04-137

Am Außenbau dominieren bis auf wenige Ausnahmen (Maßwerkfenster) Stilformen der Neorenaissance: besonders markante Elemente sind die mit Gesimsen gegliederten und mit Voluten verzierten Schmuckgiebel, die auf aufwendig gestalteten Konsolen ruhenden Erker sowie die dreibogige Portalvorhalle. Im Innenraum finden sich dagegen mit den Maßwerkgeländern des Treppenhauses und den Kreuzgratgewölben auch neogotische Elemente, das Trauzimmer mit seinem kapellenartigen Grundriss, seinem (Blend-)Maßwerk und der Holzdecke wurde sogar ganz in gotischen Formen gestaltet.

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Rathaus, Haupteingangshalle, Foto: Ernst Lohöfener, Bielefeld, 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-04-137

Dieser auch in Publikationen immer wieder beschriebene Eklektizismus, d.h. die Mischung unterschiedlicher Stilformen, ist für den Rathausbau um 1900 typisch. Stilreinheit war für die Architekten nicht das vorherrschende Thema, sondern die bestmögliche und originelle Nutzung der zur Verfügung stehenden Mittel und deren Verbindung zu einem harmonischen Gesamtkonzept. Indem die Architekten sich aus dem Fundus an Stilformen und Dekorelementen versatzstückartig ihr Material zusammenstellen konnten, konnten die Bauten sowohl den unterschiedlichen Grundstücksbedingungen und dem jeweiligen städtebaulichen Kontext, als auch den jeweils benötigten Raumprogrammen angepasst werden. So auch in Bielefeld.

In der anlässlich der Einweihung des Rathauses erschienenen Schrift „Der Rathausneubau“ ist zu lesen, dass „vielfach Anklänge an Bauformen aus der besten Zeit alter Bielefelder Kunsttätigkeit zu finden sind“. Welche konkreten lokalen Vorbilder von Max Fritsche in seinem Entwurf adaptiert wurden, bedarf einer eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung und kann daher in diesem Rahmen nicht im Detail erörtert werden. Dass ihm sowohl die im Bielefelder Stadtbild erhaltenen Renaissance-Gebäude, als auch insbesondere die zahlreichen Rathaus- und Schlossbauten der sogenannten Weser-Renaissance in der Region bekannt waren, versteht sich von selbst.

Auch beim Schmuck-und Figurenprogramm des Bielefelder Rathauses bediente man sich aus dem breiten zur Verfügung stehenden ikonographischen Repertoire in der Tradition der Renaissance: florale, vegetabile und Beschlagwerk-Ornamentik, Grotesken, Girlanden, Zahnschnittbänder, Löwenköpfe, Rollwerk-Kartuschen, Putten, Hermenpilaster, Arkanthusranken und Fabelwesen zieren die Fassaden, die Toreinfahrt zum Rathaushof ebenso wie Türrahmungen und –stürze im Innern.

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Rathaus, Erstes Obergeschoss mit Eingang zum Magistratssitzungssaal; Foto: Ernst Lohöfener, Bielefeld, 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-04-064

An verschiedenen Stellen im Rathaus befinden sich darüber hinaus besondere bildhauerische Einzelwerke. Außen sind hervorzuheben: die Aedikula an der Nordfassade mit der Allegorie der Architektur, die, ergänzt um die Wappen der am Bau beteiligten Gewerke der Maler und Architekten, als Schöpferin symbolisch das Modell des fertigen Baus trägt. Ebenso das Relief über dem Ratskeller, das eine kleine spielerische, bacchantische Szene mit zwei dem Weingenuss frönenden Putten zeigt und damit geradezu einlädt, es ihnen in den sich dahinter verbergenden Räumen gleich zu tun.

Im Innenraum gibt es eine Fülle weiterer allegorischer Bildwerke, die zu großen Teilen noch eine intensive Erforschung erforderlich machen, die im Kontext dieses Textes nicht geleistet werden kann. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle aber auf den „Honigschlecker“ im Bogenscheitel oberhalb des Treppenhauses zum ersten Stock, der – wie sein berühmtes Pendant in der Wallfahrtskirche Birnau am Bodensee – auf den Fleiß der Bienen ebenso anspielt wie auf die Versuchung, der der Mensch täglich ausgesetzt ist, und auf die sich unmittelbar darüber im ersten Obergeschoss befindliche Plastik zweier kämpfender Hunde, die den Sieg des Deutschen Reiches über Frankreich (gekennzeichnet mit dem Faszienbündel samt Beil) symbolisiert.

Dem politischen Ernst entgegengesetzt sind die humoristischen Köpfe im Erdgeschoss des Rathauses, deren Deutung noch aussteht. Humoristische Darstellungen von Bürgern und Stadtoberen an Sakralbauten und öffentlichen Gebäuden waren zur Zeit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit allerdings nichts Ungewöhnliches, auch diese Tradition hat man hier ganz offensichtlich aufgegriffen.

Ergänzt wurden die genannten Elemente um ein individuelles, mit der lokalen Historie in Verbindung stehendes Bildprogramm, hier sind u.a. die Figuren des Schmieds und der Weberin bzw. der Textilindustrie zu nennen, die sich ursprünglich oberhalb der Portalvorhalle befanden, sinnbildlich die Bielefelder Industrie darstellend und auch gestiftet von Vertretern eben dieser.

Auch die Glasfenster im Treppenhaus, ausgeführt nach Entwürfen von B. Ehrich und W. Döhringer, die erst nach der offiziellen Einweihung ergänzt wurden, zeigten ursprünglich Themen der Bielefelder Wirtschaftsgeschichte wie die Weberei, die Spinnerei oder den Maschinen- bzw. Fahrradbau.

Insgesamt waren an der Ausführung des Rathaus-Baus eine Vielzahl an Gewerken beteiligt und allein zur Bauplastik und Innenausstattung des Rathauses ließe sich ein umfangreicher eigenständiger Aufsatz verfassen. Dies soll an anderer Stelle erfolgen.

Zusammenfassend kann hier jedoch konstatiert werden, dass man in Bielefeld, dem allgemeingültigen Formenkanon und den zeittypischen Vorgaben des Rathausbaus folgend, und trotz eingeschränkter finanzieller Mittel, ein individuelles Bauwerk auf hohem künstlerischen Niveau schuf.

Ein Bauwerk, das zugleich auch städtebaulich von besonderer Relevanz war. Denn mit dem Ensemble aus Rathaus und Stadttheater wurde nicht nur ein neuer repräsentativer Platz, ein neuer Mittelpunkt für die sich zunehmend verändernde und vergrößernde Stadt geschaffen, sondern durch die Gruppierung zweier Bauten des öffentlichen sowie kulturellen Lebens (und zugleich der bürgerlichen Selbstdarstellung) – wie parallel etwa auch in Kiel zu beobachten – ebenso ein neuer urbanistischer Schwerpunkt gesetzt, der nach und nach, unter anderem durch das 1907 eingeweihte Kaiser-Wilhelm-Denkmal, weiter aufgewertet wurde.

Der Rathausbau selbst erfuhr in den darauffolgenden Jahrzehnten ebenfalls einige Veränderungen. Neben den bereits erwähnten Figuren des Schmieds und der Weberin sind auch der Rathausturm, der durch die Bombenangriffe kurz vor Kriegsende zerstört wurde sowie das Miniatur-Hermannsdenkmal, das ursprünglich den Hauptgiebel bekrönte, heute nicht mehr erhalten. Ebenfalls wurden die farbigen Glasfenster in den 1950er Jahren durch schlichte Neuanfertigungen ersetzt. 

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Rathaus, Sitzungssaal, Foto: Ernst Lohöfener, Bielefeld, 1904; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 13-04-039

Den wohl massivsten Eingriff erfuhr das Gebäude jedoch im Innern mit der Neugestaltung des großen Sitzungssaals im Jahr 1953. Hatte der Saal mit seiner originalen historistischen Ausstattung die Kriegsjahre vollkommen unbeschadet überstanden, fiel er dem Erneuerungswillen der Stadtväter und der nicht nur im Bielefeld der Nachkriegszeit zu beobachtenden ablehnenden Haltung gegenüber allem „Historischen“ zum Opfer.  

 

Ausblick

Die Größe und Anzahl der Räume wird so bemessen sein, dass sie für lange Zeit den Bedürfnissen genügen“, so lautete die Prognose von Stadtbaurat Ernst Ritscher anlässlich der Grundsteinlegung im Jahr 1902. Etwa 70 Jahre nach der Einweihung des damals neuen Rathauses stand die Stadt Bielefeld jedoch bereits vor der erneuten Herausforderung, dass der für die Kommunalverwaltung inzwischen benötigte Platzbedarf durch den bestehenden Rathausbau nicht mehr gedeckt werden konnte.

Insbesondere die Eingemeindungen der bis dato selbständigen Gemeinden des Kreises Bielefeld 1973 (darunter die beiden Städte Brackwede und Sennestadt) und die damit stark angestiegene Einwohnerzahl – von ca. 166.000 auf rund 320.000 und damit auf nahezu das Doppelte – hatten eine Vervielfachung der Verwaltungsaufgaben zur Folge, die in den Räumlichkeiten des Gebäudes von 1904 nicht mehr untergebracht werden konnten.  Daraufhin wurde in den Jahren 1979 bis 1988 zwischen Niederwall und Turnerstraße der Erweiterungsbau errichtet, der heute das Neue Rathaus beherbergt. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Neues Rathaus“ gefeierte Gebäude ist seitdem nunmehr das „Alte“.

 

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V,
    • 22: Feier zur Grundsteinlegung und Einweihung des neuen Rathauses, 1902-1906
    • 81: Bau des Rathauses: Bildhauerarbeiten (1902-1905)
    • 115: Neubau eines Stadttheaters, 1900-1920 (hierin: Gutachten über die Platzwahl für den Theaterbau von Bielefeld, gez. Camillo Sitte am 08.12.1900)
    • 152: Bau des Rathauses: Steinmetzarbeiten (1901-1902)
    • 154: Bau des Rathauses: Steinmetzarbeiten (1902-1903)
    • 156: Bau des Rathauses: Entwürfe Glasmalereien (1903-1907)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,7/Geschäftsstelle VII,
    • 158: Anleihe von 2.380.000 Mark, u.a. 750.000 Mark für den Bau eines Rathauses, 1902-1903
    • 203: Anleihe von 2.380.000 Mark, u.a. 750.000 Mark zum Bau des Rathauses, 1902-1909
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 103,4/Personalakten,
    • A 1076: Personalakte Ernst Ritscher
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,2/Magistratsbauamt,
    • 191: Rathaus-Neubau: Planung, Kosten, Baupläne, Unterhaltung, Umbauten, 1903-1956
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen,
    • 5: Bielefelder Generalanzeiger v. 13.12.1900, 09.12.1901, v. 12.12.1901 (Vorlage und Beratung der Entwürfe für den Rathaus-Neubau und Beschluss der Stadtverordnetenversammlung), v. 12.10.1904 und 13.10.1904 (Zur Rathausweihe)
    • 20: Neue Westfälische Volkszeitung v. 12.10.1904 und 13.10.1904 (Einweihung des Neuen Rathauses)
    • 39: Volkswacht v. 13.12.1900 (Beschluss über den Bau von Rathaus und Stadttheater), v. 28.03.1901 (Vorlage und Beratung der Entwürfe für den Rathaus-Neubau und Beschluss der Stadtverordnetenversammlung), v. 07.12.1901, v. 18.12.1901, v. 16.06.1902 (Grundsteinlegung des Rathauses), v. 14.10.1904 (Feier der Einweihung des Neuen Rathauses)
    • 40: Bielefelder Volkszeitung v. 13.12.1900 (Beschluss über den Bau von Rathaus und Stadttheater), v. 12.10.1904 und 13.10.1904 (Zur Einweihung des Neuen Rathauses)
    • 41: Der Wächter v. 28.03.1901 (Vorlage und Beratung der Entwürfe für den Rathaus-Neubau und Beschluss der Stadtverordnetenversammlung)
    • 50: Westfälische Zeitung – Bielefelder Tageblatt v. 12.01.1894, v. 28.03.1901, v. 07.12.1901, v. 16.06.1902 (Feier zur Grundsteinlegung des Rathauses), v. 24.03.1904, v. 08.06.1904 und v. 09.06.1904 (Prozess gegen Baumeister Max Fritzsche)
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung,
    • 13-004: Repräsentative Gebäude: Rathaus und Stadttheater
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,8/Karten und Pläne,
    • 2335: Rathaus-Neubau, 1. Vorentwurf Januar 1901 u. 2. Vorentwurf März 1901
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,10/Zeitgeschichtliche Sammlung,
    • 7302: Fest-Ordnung für die Grundsteinlegung des Rathauses am 14. Juni 1902

 

Literatur

  • Der Rathausneubau der Stadt Bielefeld veröffentlicht zu dessen Einweihung am 12. Oktober 1904 (Faks.-Aufl., d. Ausg. Bielefeld u. Leipzig 1904), Bielefeld 2004
  • Damus, Martin, Das Rathaus: Architektur- und Sozialgeschichte von der Gründerzeit zur Postmoderne, Berlin 1988
  • Großmann, G. Ulrich/Petra Krutisch (Hg.), Renaissance der Renaissance: ein bürgerlicher Kunststil im 19. Jahrhundert, Katalog zur Ausstellung im Weserrenaissance-Museum Schloss Brake bei Lemgo 2. Mai bis 18. Oktober 1992 (Schriften des Weserrenaissance-Museum Schloss Brake Band 5), München/Berlin 1992, S. 521ff.
  • Kokkelink, Günther/Monika Lemke-Kokkelink, Baukunst in Norddeutschland: Architektur und Kunsthandwerk der Hannoverschen Schule 1850-1900, Hannover 1998
  • Kranz-Michaelis, Charlotte, Rathäuser im deutschen Kaiserreich 1871-1918, Materialien zur Kunst des 19. Jahrhunderts Bd. 23, München 1976
  • Paul, Jürgen, Das „Neue Rathaus“ – eine Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts, in: Ekkehard Mai (Hg.), Das Rathaus im Kaiserreich. Kunstpolitische Aspekte einer Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts, Berlin 1982 S. 29-90
  • Meichsner, Hartmut, 100 Jahre Altes Rathaus Bielefeld 1904 – 2004. Erläuterungen zu ausgewählten Symbolen und Bildprogrammen, Bielefeld 2004
  • Renda, Gerhard, Stilcollage und Sternenhimmel. Die Entstehung des Bielefelder Stadttheaters vor hundert Jahren, in: Ravensberger Blätter 1 (2004), S. 1-13
  • Schumacher, Rosa, Neorenaissancearchitektur in Bielefeld, in: G. Ulrich Großmann/Petra Krutisch (Hg.), Renaissance der Renaissance: ein bürgerlicher Kunststil im 19. Jahrhundert (Schriften des Weserrenaissance-Museum Schloss Brake Band 6), München/Berlin 1992
  • Sitte, Camillo, Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, Wien 1901
  • Vogelsang, Reinhard, Bielefelds Weg ins Industriezeitalter, Bielefeld 1986
  • Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 2: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 1988

Erstveröffentlichung: 01.10.2024

Hinweis zur Zitation:
Heitland, Vanessa Charlotte,  12. Oktober 1904: Einweihung des Alten Rathauses https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2024/10/01/01102024/, Bielefeld 2024

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